Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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Am Tatort wurden Flugblätter der als rechtsextrem eingestuften Deutschen Widerstandsbewegung gefunden. In ihnen wird gegen Multikulti gehetzt und vor einer Überfremdung des deutschen Volkes gewarnt. Die Flugblätter sind überschrieben: Der Ausgangspunkt der Gewalt ist die Ignoranz der Herrschenden.“

      M steht abrupt auf, lässt seinen Kaffee stehen, packt in seinem Zimmer die wenigen Sachen in die Tasche und lässt ein Taxi rufen, mit dem er die kurze Entfernung zum Parlament zurücklegt. Er lässt sich vor dem Osteingang des Reichstags absetzen, hält dem Sicherheitspersonal seinen Hausausweis hin und eilt in festen langen Schritten kurz nach oben zum Plenarsaal, wo er sich in die Anwesenheitsliste für die Abgeordneten seiner Fraktion einträgt. Sein Name steht weit oben auf der Liste, was ihn mit innerer Zufriedenheit erfüllt. Dann eilt er mit hastigen Schritten durch die labyrinthischen Gänge der Katakomben unter der Spree hinauf in sein Büro. Schatz ist schon da, an der er kurz und freundlich grüßend vorbei in sein Zimmer eilt. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, fühlt sich außer Atem. Seinen Kopf hat er zwischen beiden Händen eingekeilt und die Augen in eine imaginäre Ferne gerichtet.

      „Kannst du bitte ein Diktat aufnehmen, Schatz? Es ist wichtig.“ Seine Sekretärin kommt sofort mit Block und Bleistift in sein Zimmer. Sie ist eine der wenigen Sekretärinnen im Bundestag, die noch die Stenografie beherrscht. Gerne hätte sie jetzt erst einmal bei einer Tasse Kaffee ein kleines Schwätzchen mit M gehalten und mit ihm vor allem über seine Gesundheit geplaudert. Sie mag ihren Chef rein persönlich zwar nicht besonders, aber die kleinen Gespräche in gemütlicher Atmosphäre mit etwas Klatsch und Tratsch waren immer willkommene Abschnitte ihrer dienstlichen Tagesordnung. Auf der anderen Seite ist ihr die hektische Betriebsamkeit der Abgeordneten vor allem am Morgen vor den Plenarsitzungen in ihren Büros nicht fremd. So stöhnt sie nur leicht auf, setzt sich M gegenüber und ist bereit zum Diktat.

      „Schatz, es ist wirklich sehr wichtig, und ich möchte, dass die Dokumente nicht per Mail gesendet werden, sondern dass du sie in Umschlägen verschließt und über die Hauspost verschickst.“ M sitzt aufrecht vor seinem Schreibtisch und sieht übermüdet aus. Seine Sekretärin lächelt ihm dennoch freundlich entgegen, wohl ein wenig aus Mitleid. Es wäre ihm noch ein wenig Zeit für eine Rekonvaleszenz zu gönnen, der Arme, denkt sie. Aber sie weiß aus Erfahrung, die Arbeit eines Abgeordneten ist ein Knochenjob. Das sagt sie auch immer wieder in ihrem Bekanntenkreis.

      M diktiert ihr einen Brief an den Vorsitzenden seiner Fraktion sowie auch an den Vorsitzenden des Innenausschusses. Er berichtet kurz über die Kette der Anschläge auf die CDU-Zentrale und den Bundestag, die „Herzkammer unserer Demokratie“. Er deutet sein Hintergrundwissen an, das er aus einer „sehr gut unterrichteten Quelle“ erworben habe. Vollständig bedeckt hält er sich noch mit seiner Vermutung, dass er hinter den Anschlägen Täter aus der linken Szene vermutet, die eine falsche Fährte gelegt haben, indem sie sich hinter den Stereotypen der Rechtsradikalen tarnen. Stattdessen folgt der Schlussabsatz seines Schreibens:

      „Es steht mir als einzelnem Abgeordneten nicht zu, unserer gemeinsamen Verantwortung durch eigene Ermittlungen und mit eigenen Bewertungen nachzukommen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass wir uns nach den NSU-Skandalen als wehrhafte Demokratie nicht noch einmal zu spät beweisen dürfen. Deshalb möchte ich in Erwägung bringen, ob es angesichts auch der hohen Symbolkraft dieser Anschläge nicht angemessen ist, dass unsere Fraktion einen Untersuchungsausschuss beantragt, der aufzuklären hat, wie es geschehen kann, dass der Deutsche Bundestag zur Zielscheibe von Anschlägen von Extremisten oder gar Terroristen werden kann. Selbstverständlich würde ich einem solchen Ausschuss gerne angehören.“

      Nach dem Diktat sichtlich entspannt lächelt M nun seinerseits seine Sekretärin an und erkundigt sich mit der ihm eigenen Freundlichkeit nach ihrem Befinden.

      „Ist es wirklich so gefährlich um uns bestellt?“ Die Sekretärin sucht nach einer Überleitung, um ihm zu erzählen, wie schlimm die vergangene Woche gewesen sei, in der sie dreimal zur Zahnbehandlung unterwegs sein musste. Doch sie kommt nicht sehr weit, weil gerade Madame ins Büro hinein gerauscht kommt und den beiden ziemlich mürrisch ihr „Guten Morgen!“ entrichtet.

      Sofort fällt M wieder in hektische Betriebsamkeit. Private Anteilnahmen bei einer Tasse Kaffee scheinen ihm heute fehl am Platz. „Madame, auf uns kommt reichlich Arbeit zu“, begrüßt er seine Mitarbeiterin.

      Madame schaut von Schatz zu M und wieder zurück. Irgendetwas ist ungewohnt und irritiert sie. Die Unterlagen für die Sitzungswoche hat sie wie immer professionell zusammengestellt und übersichtlich entsprechend der Tagesordnung in Mappen abgelegt. Sie liegen unberührt auf dem Schreibtisch von M. Der Block auf dem Schoss der Sekretärin muss etwas enthalten, was sie bisher nicht kennt. Das gefällt ihr ganz und gar nicht. Sie ist pünktlich ins Büro gekommen, doch die beiden waren noch früher da und haben bereits etwas zu Papier gebracht. Hoffentlich ist es etwas Privates, beruhigt sie sich. Wahrscheinlich hat er ihr einen Brief diktiert, der mit seiner Krankheit zusammenhängt, die ihn vergangene Woche daran gehindert hatte, an den Sitzungen im Plenum teilzunehmen.

      Bevor sie selbst nachfragen kann, ist das Wort schon wieder bei M. „Madame, ich bitte Sie, in der nächsten Zeit alles liegenzulassen und Ihre volle Aufmerksamkeit und Ihr ganzes Können ausschließlich auf Folgendes zu lenken: Was können wir über die drei Buchstaben DWB wissen? Wie müssen wir die Flugblätter interpretieren, die letzte Nacht nach dem Anschlag auf das Löbe-Haus gefunden wurden? Dabei achten Sie aber besonders auf die sprachlichen Eigenschaften des Pamphlets. Und – das ist heikel, ich weiß – aber versuchen Sie es trotzdem: Gibt es vielleicht Zusammenhänge zwischen den Anschlägen auf unser Parlament und der kürzlich in Friedrichshain registrierten Schießerei in der Straße der Pariser Kommune, bei der ein neunjähriger Junge schwer verletzt wurde?“

      Für einen Augenblick genoss M die Verwirrung, die er bei den beiden Frauen feststellte. Madame reagierte völlig ungeschützt. Sie hatte nichts verstanden, zumal sie von dem angeblichen Anschlag bisher nichts erfahren hatte. Etwas trotzig sagte sie M offen, sie habe im Augenblick wirklich keine Ahnung, wovon ihr Chef spreche, werde sich aber selbstverständlich sachkundig machen. M steht nun auf, schaut auf seinen Schreibtisch, lächelt dann seine beiden Mitarbeiterinnen an und meint: „Ihr macht das schon. Lest mal gründlich die Zeitungen von heute. Dann wisst ihr, wovon ich rede und was jetzt politisch geboten ist. Ich verlasse mich auf euch.“ Er nimmt sich seine Sitzungsunterlagen für den Plenarsaal unter den Arm und verlässt mit aufrechtem Gang sein Büro. In dreißig Minuten werden die Klingeln und roten Lämpchen die Abgeordneten in den großen Saal rufen. M wird pünktlich auf seinem Platz sitzen.

      Gewissenhaft erfüllt er seine Verpflichtungen an diesem Montag. Zuverlässig hebt er bei den Abstimmungen seine Hand, obgleich er selten bei der Sache ist. Die Tagesordnung kommt ihm an diesem Tag entgegen. Um 17.00 Uhr ist er ein letztes Mal gefragt. Danach kann er den Plenarsaal verlassen, denn nun folgen nur noch Berichte und unstrittige Überweisungen an die Ausschüsse. Die Kollegengespräche auf den Fluren sind an solchen Tagen nur oberflächlich, Routinen bestimmen den Sitzungsalltag. Dennoch hat es ihn ein wenig geärgert, dass keiner seiner politischen Freunde danach gefragt hatte, wie es ihm gesundheitlich gehe. Schließlich war er einige Tage lang nicht unter ihnen gewesen. Es mühte ihn, das Wort „Hinterbänkler“ nicht in seinen Gemütszustand hinein zu lassen.

      Eiligen Schrittes zog M aus dem Reichstagsgebäude über die langen Flure in sein Büro. Schatz und Madame hatten es bereits verlassen. Auf seinem Schreibtisch war es wie immer aufgeräumt. Die Unterschriftenmappe lag in der Mitte auf ihrem Platz. Seine Unterlagen aus dem Plenum waren chronologisch geordnet. Was erledigt war, kam in die Abteilung „Ablage Madame“. Die legte er auf den Schreibtisch seiner Mitarbeiterin. Den Rest, eine dickere Mappe, behielt er in seinem Zimmer in seiner Obhut für den nächsten Tag. In ihr waren die Unterlagen entsprechend der Tagesordnung zusammengestellt, die für ihn ab 9.15 Uhr des folgenden Dienstags galt. Im Verwalten seiner Laufmappe war er sehr sorgfältig. Diese Mappe legte er griffbereit auf den kleinen Tisch in der Besprechungsecke.

      Er setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete die Unterschriftenmappe. Vorne lagen die beiden Briefe, die er Schatz diktiert hatte. Er las sie noch einmal konzentriert durch und hatte dabei das Gefühl, für die Politik wirklich wichtig zu sein. Aus einer Schublade