Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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der Woche der Sonnenfinsternis beginnt am Montag eine weitere Sitzungswoche in Berlin. Mittags steht für M fest, dass er an diesem Tag nicht mehr gebraucht wird. Die Zeit bis 16.00 Uhr verbringt er mit seinen beiden Mitarbeiterinnen im Büro. Dann verlassen sie ihre Räume. M verabschiedet sich und fährt nach Friedrichshain in die Sonntagstraße. Die Wahrsagerin pendelt ihn in eine tiefe Trance und er vernimmt eine klare Botschaft: Du wirst am 20. März, dem Tag der Sonnenfinsternis, nicht zur Arbeit gehen. Du wirst Zeuge einer starken Verwirrung sein, die du nicht verstehst. Du wirst am Nachmittag jenes Tages erregt zu mir kommen und wirst Zeuge einer Katastrophe sein, die sich hier in der Nähe abspielen wird. Du wirst den Mythos der Sonnenfinsternis wieder entdecken, der in dir tief verborgen ist. Die aufziehende Panik nach dieser Botschaft wird M durch die weitere Woche begleiten.

       Zu den unverrückbaren Grundsätzen des Politikers M gehört: „Wir müssen unser Land gegen den Terrorismus von links und von rechts schützen.“ Die Reihenfolge von links und rechts war ihm immer wichtig, und er hielt sich stets an sie. Ihm war klar, dass diese Forderung an seine eigene politische Existenz die volle Spannweite zwischen Macht und Ohnmacht grell ausleuchtet. Schwierigkeiten der Erfüllung lagen im System, etwa in den geteilten Zuständigkeiten des Bundes und der Länder, auch in dem fast uneingeschränkten Schutz der Täter, solange ihre Tat noch nicht vollständig bewiesen war. „Des Volkes Stimme“ war in dieser Besonderheit des Rechtsstaates eindeutig. Im Grundsatz teilte er sie. Auf der anderen Seite erlaubten die Gesetze eine ganze Menge, mehr als seiner Meinung nach in die Strafverfolgung und Strafpraxis tatsächlich erreichten. Verstärkt werden müssten gezielte Beobachtungen im Vorfeld, Maßnahmen gegen Gruppen, Observationen nach unaufgeklärten Taten, Festnahmen, Haftbedingungen, schnellere Prozesse.

      M gehört zu den Menschen, die mit einer tief sitzenden Angst leben, für die gegenwärtig die Zustände schlechter sind, als sie früher waren, die gerne das Gute in sich selbst sehen und das Böse bei den anderen vermuten. Mit Sorge verfolgt er, wie die Sicherheitspolitik immer aufwändiger wurde, ihre Wirkungen indessen oft nur Spott und Hohn erzeugten. Die Daten und Informationen, die ihm Madame vorlegt, kreisen um horrende Summen, die Nachrichtendienste, Verfassungsschutz und polizeiliche Aufklärung verschlucken. Die Personalbestände wachsen wieder. Aber offensichtlich wird es immer leichter, den Staat an der Nase herumzuführen, das Leben der Menschen immer mehr zu verunsichern. In seinem Wahlkreis spricht M gerne vom Bösen als der neuen Internationale. Diese Internationale wächst schneller, als die Abwehrkräfte sie zu schwächen verstehen. Seinen Wählern erzählt er auch, dass er in Berlin diesem Bösen in seinen vielseitigen Erscheinungsformen näher als je zuvor in seinem Leben ist. Er verschweigt dann auch nie den Hinweis, dass es zu Hause in seinem Wahlkreis ein paar verrückte Rechtsradikale gäbe. Doch sie in den Vordergrund zu rücken, halte er für falsch. Zu Hause ist noch alles einigermaßen überschaubar. Man kennt sich besser untereinander, kann die einzelnen Ausreißer im Zaume halten. Vor allem fehlen zu Hause die Rekrutierungsquellen, aus denen der soziale Kollaps ideologisch gespeist wird. Das ist in Berlin schon ganz anders. In seiner Lebenszeit habe M die Erfahrung gemacht, dass erst durch die linke Ideologie, aus verkürzter Meinungsmache, die Formen der Gewalt entstanden seien, die sich blind gegen die Herrschenden in Staat und Gesellschaft austobten. Es schmerzt M fast körperlich, wie durch terroristische und kriminelle Gewalt die Gesellschaft mutiert.

       Bereits am Donnerstag, einen Tag vor der Sonnenfinsternis, hatte M in seinem Büro angerufen und sich krankgemeldet. Er habe große Probleme mit seinem Magen. Madame beauftragte er, die Vorlagen für seine anstehende Griechenlandreise auszuarbeiten. Die hatte der Abgeordnete M privat gebucht, obgleich sie ihm politisch eine überaus wichtige Mission zu werden versprach. Madame sollte sich auch um Gesprächspartner in Athen bemühen, schließlich würde er das Land zwei Wochen lang vom 4. April bis zum 18. April bereisen. Schatz bat er, nicht nur seine Krankmeldung in die richtigen Wege zu leiten, sondern vor allem auch dem Fraktionsvorsitzenden ein paar freundliche Worte zu schreiben und ihm die selbstverständliche Unterstützung in der weiteren Arbeit zu signalisieren. Und bitte nicht zu vergessen, fügte er am Telefon seinem Aufgabenkatalog für Schatz mit schmeichelnder Stimme zu, solle sie eine Nachricht an die Geschäftsführung der Parlamentarischen Gesellschaft schreiben, dass er leider erst im späteren April wieder die gewohnte Gastfreundschaft in Anspruch nehmen könne.

      Am Freitagnachmittag, dem Tag der Sonnenfinsternis, war er zu seiner Wahrsagerin nach Friedrichshain in die Sonntagstraße gefahren. Er hatte sich in die S-Bahn gesetzt, die ihn direkt bis zum Ostkreuz brachte. Normalerweise bucht er für seine Fahrten durch Berlin den Fahrdienst des Bundestages. Die schwarzen Limousinen empfindet er als für sich angemessen. Aber M ist ein vorsichtiger Mensch. Für diesen Besuch will er keine Spuren hinterlassen. Eine Wahrsagerin passt nicht in das Bild, das man sich von einem Politiker macht. M gibt sich viel Mühe, dem allgemeinen Bild nach Möglichkeit vollständig zu entsprechen. Zu genau glaubt er zu wissen, seine politische Karriere könne er nur geräuschlos weiterentwickeln, wenn keine Schatten eines Skandals auf den Politiker M fallen. In der öffentlichen Wahrnehmung solle gar nicht erst der geringste Verdacht entstehen können, zwischen seinem privaten Leben und seinem Leben als Politiker gäbe es irgendwelche Ungereimtheiten. Gerade erst hatte es einen Kollegen aus einer anderen Fraktion, mit dem M im Ausschuss eng zusammengearbeitet hatte, mit voller Wucht erwischt. Der Druck öffentlicher Empörungen über sein Sexualleben hatte ihn zugrunde gerichtet.

      Die Umgebung vom Ostkreuz empfindet M als düster, dreckig, bedrohlich. Die Fremdheit der meisten Menschen in dieser Gegend wird kaum gemildert durch die fröhliche Neugierde vieler Touristen. M stellt sich vor, dass Touristen eigentlich seine geheimen Verbündeten sind. Lieber sieht er sie Unter den Linden als in dieser finsteren Ecke zwischen einer riesigen Baustelle und einer unübersichtlichen Szene der Gelegenheitsgeschäfte. Wie die Touristen hat er eigentlich nichts gegen Araber, Türken, Schwarze und die vielen Arbeitslosen, die es hierher verschlagen hat. Aber in ihrer Vielzahl sind sie ihm unheimlich, und er wird das Gefühl nicht los, sie nicht beherrschen zu können. Das Böse entsteht in solchen Brennpunkten wie um das Ostkreuz. Hier, so hat M oft seine Überzeugungen bildhaft ausgemalt, leben zu viele Menschen, die der Gesellschaft feindlich gesonnen sind, die den Staat bekämpfen, von dessen sozialen Segnungen vor allem sie profitieren.

      Mit schnellen Schritten eilt M über den Bürgersteig an der Reihe nicht endender Kneipen und Restaurants mit exotischen Namen und eigentümlichen Einrichtungen vorbei. Er kann sich nicht vorstellen, wie auf so engem Raum so viel Gastronomie in einer dichten Stadtlandschaft der Armen und Ausländer überleben kann. Sicher, die Preise sind niedrig, geradezu lächerlich niedrig, vergleicht er sie mit den Gaststätten in seiner Heimat oder mit seinen Erfahrungen in anderen europäischen Hauptstädten. Doch mit Hartz 4 geht man nicht ins Restaurant und kann nicht tagaus und nachtlang in einer Kneipe hocken wie hier. Die Geldkreisläufe in dieser Szene müssen anderen Wirtschaftsgesetzen folgen. Das ärgert ihn. M hat viel darüber gelesen, wie Schwarzmärkte, Drogenhandel und andere dunkle Geschäfte am besten in den Gegenden gedeihen, wo die Hartz IV-Quote am höchsten ist. Hier also ist der Humusboden für die Kriminalität, da ist M sicher. Die Kriminalität, so weiß er auf den wenigen Metern der Sonntagstraße ganz deutlich, ist das gesellschaftliche Umfeld für die großen Sicherheitsprobleme des Landes. Sie ist, das will er künftig noch viel klarer aussprechen, der Kern eines politischen Problems. Anfänge einer wichtigen Rede bilden sich in seinem Kopf, die er bald halten möchte.

      Seine Wahrsagerin hatte an diesem Nachmittag viel Zeit für ihren so erregten Kunden. Doch professionell folgt sie sehr aufmerksam und voll konzentriert den Linien, die sie zwischen der aktuellen Sonnenfinsternis und M zu erkennen glaubt. Ihr prägt sich die Panik in seinem Gesicht ein, als er von dem toten Vogel unter dem Fenster in seiner Wohnung erzählt. Erfahrungen von Generationen Frauen aus der inneren Mani, der mittleren Südspitze der Peloponnes mit den hohen steilen Steinwüsten, Blutrachen und Freiheitskämpfern, fließen durch ihr Blut, wie sie meint. Männer wie M spiegeln sich sehr gerne in ihr und machen es ihr einfach, ihre Sehkraft des Allgemeinen mit den Ängsten des konkreten Menschen vor ihr zu verbinden. Mit einem Politiker wie M hatte sie allerdings noch nicht zu tun. Mit ihrem Pendel hat sie schnell Erfolg, und die Karten geben viele Geheimnisse preis, die im Licht der Kugel zu Gewissheiten für die Klienten werden. Sie bleibt M gegenüber vorsichtig unklar in ihren Offenbarungen, will ihn nicht unnötig mit seinem eigenen Leben konfrontieren. Dazu scheint ihr die Zeit noch nicht