Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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der böse Vorgesetzte sein möchte. Fast ein wenig zärtlich spricht er sie an: „Ich schätze Ihre Offenheit und Ihre vorsichtigen, abwägenden und kritischen Einstellungen sehr. Ich bin sicher, schon bald werden wir gemeinsam eine gute Gelegenheit haben, effektiv und beachtet von der Öffentlichkeit unsere sicher nicht leichte Arbeit starten zu können. Da setze ich auf Sie. Sammeln Sie doch bitte alle Dokumente, die von der DWB bekannt geworden sind und finden Sie jemanden, der sich mit Sprachanalysen auskennt.“

      Im Plenum sieht man M pünktlich auf seinem Platz. Sein Gesicht ist entspannt. Gewissenhaft hört er zu, was vom Rednerpult aus vorgetragen wird. Gefühle, wie sie sich im Applaudieren oder auch in Zwischenrufen mitteilen, berührten ihn nicht. Die Vorträge und Redebeiträge erscheinen ihm an diesem Dienstagmorgen nicht besonders wichtig. Er blättert hin und wieder in seinen Unterlagen. Er hat registriert, dass auch sein Fraktionsvorsitzender pünktlich vorne auf seinem Platz saß

       Dieser Tag im Deutschen Bundestag ist für M alles andere als ein normaler Routinetag in einer Sitzungswoche des Hohen Hauses. Er erlebt ihn angespannt als einen Schlüsseltag in seiner Parlamentskarriere. Hinter der ruhigen Gelassenheit, mit der er äußerlich seine Pflichten als Abgeordneter zu Protokoll gibt, flackert innerlich Unruhe und Tatendrang. Der 24. März soll um 11 Uhr ein politisches Kapitel aufschlagen, in dessen Mittelpunkt notwendigerweise seine Person rücken muss. Ab 10.30 Uhr schaut er des Öfteren auf seine Uhr und spürt eine knisternde Erregung, die in der Luft zu liegen scheint. Kurz vor 11 Uhr bemerkt M, wie seine Hände ein wenig zittern, als er seine Papiere auf dem Pult sortiert zusammenlegt. Er ruft sich zur Ordnung und reißt sich zusammen. Innere Unruhe will er nicht zulassen. Selbstbewusstsein und Souveränität sind jetzt gefragt.

      Er konzentriert sich nun vollständig auf seinen Fraktionsvorsitzenden und wartet, dass sich dieser von seinem Platz erhebt. Denn M hat sich vorgenommen, ihm im angemessenen Abstand nach draußen zu folgen, sobald der Vorsitzende nicht weit von ihm den Saal verlässt. Nun nimmt M wahr, wie auf einmal ein Saaldiener auf den Fraktionschef zugeht und diesem einen Zettel übergibt. Der Fraktionsvorsitzende überfliegt ihn schnell und M glaubt erkennen zu können, wie Fassungslosigkeit, Erschrecken und Erstarrung von seinem Freund Besitz ergreifen. „Nur keine Ablenkung, kein Zwischenfall“, schießt es M durch den Kopf. „An meiner Mission geht kein Weg vorbei“, sagt er sich und registriert, wie ihn diese Bilanz beruhigt. Doch irgendetwas muss geschehen sein. Denn der Fraktionsvorsitzende ist jetzt in Bewegung. Eine kleine Traube ratloser und betroffen ausschauender Kolleginnen und Kollegen aus den ersten Reihen stehen da mit gleicher Fassungslosigkeit in den Gesichtern, die er bereits bei seinem Chef erkannt hatte. Im Plenum entstehen jetzt überall die kleinen Veränderungen im Verhalten der Abgeordneten. Die Ordnung im Parlament ist aus den Fugen.

      Um 11.10 Uhr unterbricht der Präsident des Bundestages die Sitzung. Er läutet mit seinem Glöckchen und wartet, bis in den gut gefüllten Reihen des Hauses Ruhe eingetreten ist. Auch in seinem Gesicht ist das schreckliche Ereignis geschrieben, das er gleich verkünden wird. „Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen eine sehr traurige Nachricht überbringen. Soeben ist bekannt geworden, dass vor wenigen Minuten ein Flugzeug in den Bergen der südlichen Alpen etwa 100 Kilometer nördlich von Nizza abgestürzt ist. Es handelt sich um einen Airbus A 320 der Germanwings, einer Tochter der Deutschen Lufthansa, mit der Flugnummer 4U9525 auf ihrem Flug von Barcelona nach Düsseldorf. An Bord waren 150 Personen, 144 Passagiere, zwei Piloten und vier Flugbegleiterinnen. Wir müssen davon ausgehen, dass alle ihr Leben verloren haben. 70 Personen unter den Opfern sollen deutsche Staatsbürger gewesen sein.“

      Der Präsident ringt mit seinen Gefühlen, die Stimme klingt fast gebrochen. Gedankenverloren schaut er einen Augenblick lang auf das vor ihm liegende Papier und fährt dann in die vollständige Stille des Saales fort: „Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von Ihren Sitzen zu erheben.“ Stehend und schwer nach den richtigen Worten suchend deklariert er: „Der Deutsche Bundestag verneigt sich voller Schmerz vor den Opfern. Unsere Trauer und unser Mitgefühl gelten ganz besonders den vielen Familienangehörigen und Freunden, die jetzt von dieser schrecklichen Katastrophe erfahren müssen. Das ist ein schwarzer Tag für die Luftfahrt und ein schwarzer Tag für unser Land. Das schreckliche Ereignis zeigt uns die Grenzen unseres Mitleid in der Politik ebenso auf, wie es uns an unsere tiefsten Gefühle zum Mitleiden als Menschen ermahnt, an unsere Mitmenschlichkeit. Ich bitte Sie, mit mir ein Minute zu schweigen, um unsere Trauer zu bekunden.“

      Natürlich ist auch M aufgestanden. Wie bei allen anderen im Saal zeigt sein Gesicht ernsthafte Sammlung. Er steht sehr gerade, hat seine Hände vor dem Körper ineinander gelegt, hält abwechselnd den Präsidenten und den Fraktionsvorsitzenden im Blick. In die Schweigeminute hinein merkt er, wie er die Nachricht ohne jede Gefühlsregung aufgenommen hat. Ob sich seine Gedanken auf den Flugabsturz oder auf seine politische Mission beziehen, ist ihm in dieser Minute nicht klar. In seinem Kopf gibt es eine Schublade für Ereignisse, vor allem solche, die man mit dem Begriff Katastrophe bezeichnet, gegen die man nichts machen kann, die nach einer anderen Logik geschehen, wie sie dem politischen Handeln zugrunde liegt. In diese Schublade rutscht gerade die Nachricht vom Flugzeugabsturz. Hingegen drängt sich ihm sehr deutlich ein Imperativ auf: „Jetzt keine Fehler machen!“

      Die Sitzung wird für eine halbe Stunde unterbrochen. Im Saal bilden sich viele Grüppchen und man sieht nur betretene Gesichter. Keiner will mit der Nachricht allein sein. Viele drängt es, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen den Saal zu verlassen. M aber bleibt allein, sitzt vor seinem Pult und gibt sich Mühe, die Haltung eines ratlos Grübelnden und tief Betroffenen einzunehmen. Den Kopf hat er in seinen Händen abgestützt. In Wirklichkeit beobachtet er angestrengt die Gruppe vorne um seinen Fraktionsvorsitzenden. Dieser steht, nicht sehr groß aber mit imposanter Gestalt mitten unter den anderen, die immer wieder den Kopf schütteln oder sich mit kurzen Sätzen aneinander wenden. Der Fraktionsvorsitzende redet fast gar nicht. Er sieht sehr blass aus, und seine rechte Hand hebt sich öfter hoch zur Brille, als es sonst bei ihm üblich ist. M merkt, wie dem Fraktionschef die Nachricht offensichtlich in die Knochen gefahren ist. Er kennt ihn als einen Menschen, der zu starken Gefühlen neigt.

      Nach wenigen Minuten löst sich der Fraktionschef aus dem Pulk der Abgeordneten, die sich um ihn herum versammelt haben. Er verlässt sie und schreitet schnell den Gang nach oben dem Ausgang entgegen. Er sieht nicht nach rechts und nicht nach links und bemerkt auch nicht M nur wenige Meter entfernt, der so allein auf seinem Platz sitzen geblieben ist und der jetzt aufsteht, da der Vorsitzende so dicht an ihm vorbeieilt. M bleibt noch kurz an seinem Platz stehen. Die Reihen im Plenarsaal haben sich weitgehend gelichtet. Nur auf den Zuschauerrängen, die gut besucht sind, mag es Augen geben, die auf ihn gerichtet sind. Langsam setzt sich M in Bewegung Richtung Ausgang. Auch draußen, nun wieder mit einigem Betrieb auf dem Gang, bleibt er allein. Links den langen und breiten Gang hinunter erkennt er seinen Fraktionsvorsitzenden im Gespräch mit einem Kollegen. M weiß, die beiden schätzen sich nicht besonders. Langsam schlendert M an den miteinander im Gespräch vertieften Abgeordneten vorbei, dem Vorsitzenden entgegen.

      Nur wenige Meter von seinem Ziel entfernt wird er bereits von seinem Chef erkannt. Der hält seine Hand freundlich, oder auch nicht, um den rechten Oberarm seines Gesprächspartners, dreht sich ein wenig von ihm und löst sich dann von ihm ohne weitere Worte. Er wendet sich M mit einem aufhellenden Gesicht zu, aus dem allerdings das sonst oft jungenhafte Lächeln im Kreis seiner Getreuen gewichen ist. „Mein Freund, wie gut, Sie zu treffen“, kommt er M entgegen.

      M lächelt eher verlegen und fixiert den Vorsitzenden mit starrem Blick. „Es gibt entspanntere Situationen, sich zu treffen“, erwidert er die Begrüßung, „wir werden aufpassen müssen, politisch nicht in dieses Unglück hineingezogen zu werden.“

      Mit Stolz registriert M die Beachtung, die ihm gerade zuteilwird. Er muss nicht herumschauen, um zu wissen, dass nun viele Blicke auf ihn gerichtet sind mit dem neugierigen Interesse, mit wem der Fraktionsvorsitzende gerade spricht. Der legt vertraut den Arm um Ms Schulter und schlendert mit ihm ein paar Schritte weiter den Gang hinunter bis zur nächsten Sitzecke, wo sich die beiden auf einem schwarzen Sofa nieder lassen. M ist seinem Chef jetzt also wichtig. Der Gong tönt und ruft die Abgeordneten zurück in den Plenarsaal. Für M, der mit dem Fraktionsvorsitzenden auf dem Sofa sitzt, ist dieser Ruf nicht ganz verbindlich gemeint. Er ist jetzt außerordentlich wichtig. Schnell