Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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unter dem Eindruck des Flugzeugabsturzes, von dem sie nun die ersten Bilder der zerschmetterten Einzelteile der Maschine in einem unzugänglichen Bergmassiv der französischen Alpen im Fernsehen gesehen hatten, vielleicht aber auch, weil die Zeit wirklich drängte, machten sie sich am Nachmittag an die Arbeit. M wollte am 4. April nach Athen fliegen, dort bis zum 10. April bleiben und dann über die griechische Osterzeit eine Woche irgendwo im Land Urlaub machen, wo es besonders schön ist. Die Rückfahrt sollte dann von Athen aus für den 18. April gebucht werden.

      Die Reise sollte eigentlich privat sein. Für die Kosten würde M aufkommen. Aber sie sollte beim Präsidenten des Parlaments angemeldet werden. Denn M verstand seine private Osterreise auch als eine politische Reise. Für sie sollten möglichst hochrangige Kontakte mit griechischen Politikern gesucht werden. Im Reiseetat hatte M einen Posten zwischen 2000 und 2500 Euro für eine gebildete und ortskundige Begleitperson vorgesehen. Sie sollte in Griechenland leben und in die aktuellen Geheimnisse des Landes eingeweiht sein. Obgleich für private Reisen der Bundestag nicht zuständig war, beanspruchte M wegen ihres in Teilen politischen Charakters die vollen Dienstleistungen seines Büros. Vor allem für die Entscheidungen, ihn mit den richtigen Menschen in Verbindung zu bringen, war er auf seine Mitarbeiterinnen vollständig angewiesen. Er war sich auch bei dieser Planung sicher, dass er bei den konkreten Vorbereitungen eher dem Schicksal vertrauen sollte, als etwas selbst in die Hand zu nehmen, von dem er das Ziel noch nicht kannte. Die beiden Mitarbeiterinnen waren bei so etwas einfach besser als er. Die hatten sich die anstehenden Vorbereitungen aufgeteilt. Madame würde sich um die politischen Kontakte in Athen kümmern und die möglichen Fragen aus der Parlamentsverwaltung beantworten. Schatz würde alle organisatorischen Probleme lösen, eine Begleitung bei einem Reiseveranstalter suchen und ein schönes Feriennest im Sonnenland vorbereiten.

      Für Schatz war die Arbeit vergleichsweise einfach. Sie fand einen genialen Handlungsrahmen, der mit einfachen Mitteln schnell zu füllen war. Das Glück spielte ihr dabei in die Hände. Sie war als Touristin ein Jahr vorher, ebenfalls in der Frühlingszeit, in Griechenland gewesen. Unterwegs mit einer Studiengruppe war sie von Tobias geführt und begleitet worden, einem wunderbaren jungen und gelehrten Mann, der alles über die lange Geschichte dieses europäischen Kleinods wusste und sie mit den angenehmsten Gefühlen das in sattesten Farben leuchtende Frühlingsland im Mittelmeer erleben ließ. Und Schatz erinnerte sich, dass dieser Tobias, wenn auch ein wenig links angehaucht, über die in Jahren gewachsene Katastrophe des Landes mit ihren Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen umfassend zu diskutieren verstand.

      Seit ihrer Reise im vorigen Jahr hatten ihr die Griechen stets leidgetan, und Schatz empfand die Aussagen der Politiker im eigenen Land als nicht angemessen und den Menschen gegenüber als arrogant. Tobias hatte die kleine Gruppe während einer einmalig schönen und ihre Zeit auf der Mani, der mittleren Halbinsel auf der südlichen Peleponnes, begleitet. Für Schatz war das eine der eindrucksvollsten Reisen gewesen, die sie je erlebt hatte. Einen großen Anteil ihrer Begeisterung schrieb sie Tobias zu, der sie damals Tag für Tag in eine faszinierende Welt geführt hatte. Sie ahnte, M könne nichts Besseres geschehen, als diesen Mann für seine Griechenlandreise zu gewinnen.

      Schnell fand sie die Kontaktdaten von Tobias und rief ihn an. Er war begeistert von ihrem Angebot. Es passte bestens in sein neues Konzept. Er unternahm gerade alle möglichen Anstrengungen, sich als ein exzellenter Experte im Griechenlandtourismus, der in diesem Jahr gründlich einzubrechen drohte, selbständig zu machen und ganz auf umfassende Betreuungsleistungen für einzelne Reisende zu setzen. Er wollte damit auch ein Zeichen gegen die ständigen Behauptungen über die Griechen setzen, sie seien unfähig zu Reformen, scheuten die Arbeit und verprassten das Geld der anderen europäischen Länder. Solche Behauptungen hatten tiefe Spuren im Pauschaltourismus hinterlassen. Auf der anderen Seite zog es die so oder so Interessierten ins Land, in dem sie dann jedoch allein ohne Hilfe kaum hinter die Kulissen der in der Tat immer grauer werdenden Bilder aus Depressivität und Ratlosigkeit schauen konnten. So individualisiert wie möglich das Land den Gästen näher zu bringen, war Tobias neues Geschäftsmodell. Ein Kunde wie M war für ihn ein Volltreffer.

      Schon im ersten Telefongespräch waren Schatz und Tobias handelseinig und klärten alle Einzelheiten. Tobias wurde eine Art Generalbevollmächtigter von Schatz. Sie gab ihm die Personaldaten von M und betonte immer wieder, dass M ein sehr freundlicher, aufgeschlossener und neugieriger Mensch sei. Tobias beteuerte, er habe keine Berührungsängste, wenngleich er der politischen Partei, die M vertrete, nicht nahestehe. Er verpflichtete sich, alle Reisevorbereitungen und Buchungen zu übernehmen und innerhalb von 48 Stunden die entsprechenden Unterlagen und Dokumente an Schatz weiterzuleiten. Mit diesem Volltreffer konnte Schatz nach einer guten halben Stunde ihrer Kollegin berichten, alle Vorbereitungenan bereits abgeschlossen zu haben.

      „Hast du es gut. Dann kannst du heute ja früh nach Hause gehen“, meinte Madame. „In meinen Kontaktbörsen sieht es nicht so gut aus. Da stoße ich bisher nur auf schwarze Flecken.“

      Schatz bot an, Tobias auch für die Suche nach politischen Kontakten zu beauftragen. Aber das lehnte Madame ab. Ihr war wichtig, dass bei den griechischen Stellen der Deutsche Bundestag als Anfrager und – wie sie es interpretierte – als Anbieter für politische Gespräche deutlich werden müsse. Das sei umso wichtiger, weil sie wusste, wie angespannt die Lage gerade zwischen der Fraktion und der griechischen Regierung wie auch den Abgeordneten im griechischen Parlament geworden war.

      Vor allem aber erwies sich der gewünschte Zeitpunkt für Gespräche als schier unüberwindbare Hürde. Eine Woche vor dem griechischen Osterfest verließen die meisten griechischen Politiker, vornan die Parlamentarier, die Stadt. Ostern ist dort noch stärker als Weihnachten hierzulande geprägt von den alten Traditionen in der Familie und in der Heimat. Hinzu kam, was sie erwartet hatte: Keiner in Athen kennt M. Das wird an allen Stellen betont, die Madame aufruft. Wen man nicht kennt, für den interessiert sich in dieser Zeit auch niemand.

       Diese einfache Schlussfolgerung bewahrte Madame davor, ihre Bemühungen unnütz allzu weit auszudehnen oder gar in ihren Gesprächen allzu intensiv zu insistieren. Sie konzentrierte sich schließlich auf das Presseamt der Regierung in der naheliegenden Annahme, dass dort Pflichten verankert sind, die durch die Osterzeit nicht außer Kraft gesetzt werden können. Im Werben für einen Gesprächstermin bewegte sie sich auf einer Grenzlinie. Sie behauptete, M komme in der Mission, die Wogen zu glätten, die inzwischen aus der großen Parteifraktion im Norden so hoch gegen die steilen Felsen im Süden schlugen. Tatsächlich konnte sie einen Treffer landen. Innerhalb weniger Minuten bekam sie per Mail die Bestätigung eines Termins. Sofort stellte sie alle weiteren Bemühungen ein mit der Gewissheit, mehr erreicht zu haben, als zu erwarten war. Das fasste sie auch in breiter Darlegung in ihrer Notiz für M zusammen. Darin stand dann als triumphaler Satz: „Trotzdem dürfen Sie sich glücklich schätzen. Am Donnerstag, dem 9. April, werden Sie um 10.00 Uhr einen halbstündigen Gesprächstermin beim Regierungssprecher Gavrill Sakellaridis im Presseamt der griechischen Regierung haben.“

      M war am Dienstag nur noch kurze Zeit im Büro. Er verbreitete gute Laune, obwohl nur noch Madame anwesend war. Von ihr erfuhr er, dass die Reisevorbereitungen für die Griechenlandfahrt bestens liefen. Er würde einen hervorragenden Begleiter finden und für einen Spitzenkontakt in Athen sei auch gesorgt. „Für die Ferienwoche haben wir die Mani ausgesucht.“ Madame konnte nicht sehen, dass M ein wenig zusammenzuckte und ihm die Röte ins Gesicht schoss, als er das Wort Mani hörte. Gibt es da etwa eine fatale Verbindung zu seiner Wahrsagerin, fragte er sich, verwarf aber gleich den Gedanken, weil so eine Möglichkeit schlichtweg ausgeschlossen war. Ein wenig gespielt gab er zurück: „Wo liegt denn die Mani?“

      „Das ist eine wildschöne Halbinsel auf der südlichen Peleponnes“, erwiderte Madame, unsicher, warum ihr Chef an diesem fürchterlichen Tag des Flugzeugabsturzes so gute Laune hatte.

      Das klärte sich schnell auf. Ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, dass die Arbeitsaufträge für die Vorbereitung eines neuen Sicherheitsausschusses ab sofort als eingestellt zu gelten haben, umriss M auf die Schnelle das neue Arbeitsprogramm. „Sie haben erfahren, was sich heute in den französischen Alpen abgespielt hat. Fürchterlich, was wir alles miterleben müssen. Der Fraktionsvorsitzende hat mich beauftragt, alle Informationsquellen über die Aufklärung dieses Absturzes