Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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vielleicht auf die Toilette. Oder er hatte die Kabine aus anderen Gründen kurzfristig verlassen. Der Flug lief ja regelmäßig. Da kommt es häufig vor, dass man das Kommando seinem Co-Piloten überlässt. Die Tür zum Cockpit ist elektronisch gesichert. Ein Knopf im Inneren des Cockpits kann sie offenhalten oder aber auch absperren, sodass sie von außen nicht geöffnet werden kann. Dieser Mechanismus macht Sinn, um die Fliegerkabine vor dem Eindringen von Terroristen zu schützen. Von außen kann man über eine Gegensprechanlage Kontakt zum Piloten in der Kabine aufnehmen. Man kann auch einen Türcode über Tasten eingeben. Dann muss der Pilot auf „Unlock“ stellen und die Tür öffnet sich kurz. Sie kann aber auch von innen verriegelt bleiben. Dann dauert es eine halbe Stunde, bis sich die Tür nach Eingabe eines nur den Piloten bekannten Codes automatisch öffnet. Vor dieser Tür begann die Katastrophe. Der Stimmenrekorder verzeichnet einen Wortwechsel des um Einlass bittenden Piloten mit seinem Co-Piloten. Die Tür bleibt verschlossen, der Sinkflug wird eingeleitet. Ab nun gibt es keine Äußerung des Co-Piloten auf dem Rekorder mehr. Die Tür bleibt verschlossen.

      Die Flugsicherung beobachtet zu diesem Zeitpunkt bereits besorgt das Verhalten der Flugmaschine. Sie ahnt, dass es Probleme für den Piloten gibt, die Tür zum Cockpit zu öffnen, und sie hört trotz mehrmaliger Aufforderungen nichts vom Co-Piloten, obgleich die Übertragungstechnik funktioniert. Man hört in den letzten Minuten auf dem Stimmenrekorder wild aufgeregte Geräusche von außen und ansonsten nur das Atmen des Co-Piloten. Für die französische Flugsicherung bedeutet dieser Tatbestand Notfallalarm. Sie veranlasst deshalb, was in so einer Situation zu geschehen hat. Ein Kampfjet der französischen Luftwaffe wird gestartet, um dem Airbus entgegenzufliegen. Zu spät. Der Jet wird die Maschine nicht mehr erreichen. Im Airbus saßen auch 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See. Sie waren auf einem Austauschbesuch in Spanien gewesen.

      Ab jetzt wird von einer „absichtlichen Tat“ gesprochen. Der französische Staatsanwalt gibt diese Sprachregelung aus und vermeidet es, in diesem Zusammenhang von einem „Suizid“ zu sprechen. M vermerkt diese sprachliche Unterscheidung in seiner Mappe mit einem Ausrufungszeichen. Schnell wird der Name des Co-Piloten bekannt. Es handelt sich um Andreas Lubitz. Ihm gelten jetzt alle Recherchen, und auch für M ist er die Person, die sein größtes Interesse findet. Die ersten Infos über Andreas L. – wie er zunächst in den Medien präsentiert wird – sind wenig aufschlussreich. Er ist 27 Jahre alt und stammt aus der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Montabaur. Er wohnt dort bei seinen Eltern, hat aber auch noch eine Wohnung in Düsseldorf. 2008 begann er seine Pilotenausbildung in Bremen, die er allerdings ein paar Monate lang unterbrechen musste. Zunächst als Flugbegleiter tätig, wurde er 2013 Pilot bei Germanwings, einer Lufthansa-Tochter. Bis zum Absturz hatte er 630 Flugstunden absolviert und galt laut Lufthansa als hundertprozentig flugtauglich, „ohne Einschränkungen und Auflagen“.

      Bald kommen weitere Informationen. Die Düsseldorfer Wohnung von Lubitz war durchsucht worden. Unterlagen deuten darauf hin, dass der Co-Pilot erhebliche psychische Probleme gehabt haben musste. Auch da macht sich M eine Anmerkung in seine Quelle, kaum dass die ersten Andeutungen über eine solche Krankheit gemacht werden: „Der Attentäter soll in der Vergangenheit und vielleicht auch in der Gegenwart in psychiatrischer Behandlung gewesen sein. Jetzt wird die große Entlastung konstruiert. Psychisch krank – na dann gibt es ja kein Verschulden dieser absichtlichen, terroristischen Tat. Das Schicksal hat zugeschlagen. Dagegen ist keiner gefeit. Jetzt darf man sich entsetzen, ohne über weitere Dimensionen dieser Tat nachdenken zu müssen. Politisch: Mit dem Verkriechen in die Innensicht darf man sich nicht zufriedengeben.“

      Wäre M jetzt Bundeskanzler – eine politische Vorstellung, die in seiner vorigen Kladde breiten Raum eingenommen hatte – hätte er andere Worte gewählt, als die so vorsichtig und erfahren regierende Kanzlerin sie benutzte. Sie setzte offensichtlich auf die menschliche Dimension der Tat. „Unfassbar“ war ihre erste Reaktion gewesen. Jetzt setzte sie nach den Informationen über die Tat von Lubitz fort: „So etwas geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus.“ M empfand diese Aussage als Negierung seines politischen Vermögens, das Ereignis in seiner Gefährlichkeit zu erkennen, Die Kanzlerin lag deshalb nach seinem Verständnis falsch. Ebenso falsch empfand er das Statement des Lufthansa-Chefs als eine Beruhigungspille, weil der den bei ihm angestellten Piloten als „tragischen Einzelfall“ bezeichnet hatte. In solchen Aussagen vermutete M die Strategie, Wut in Ohnmacht umzulenken. Er war hingegen überzeugt, dass zur Freiheit die Möglichkeit gehört, Böses zu tun. Er würde sich immer für Freiheit einsetzen, aber er war in die Politik gegangen, um die Zumutungen zu zähmen, die durch das Böse in immer neuen Formen in die Welt getragen werden. Das Wissen, dass ein Pilot in voller Absicht ein Flugzeug gegen eine Bergwand rasen lässt, ist jetzt in der Welt. Es ist Ms Aufgabe wie auch Aufgabe aller Politiker, wie mit diesem Wissen umzugehen ist.

      Während seines kurzen Aufenthaltes im Büro tat ihm die Begrüßung durch Madame sehr gut. Sie machte ihm Komplimente, dass nun die Ermittlungen ganz in dem Sinne laufen, dass sie nun seine anfänglichen Vermutungen bestätigen würden. „Sie haben wirklich bemerkenswerte Instinkte und einen schnellen Verstand“, meinte sie. Im Büro arbeitete sie allein, da Schatz noch nicht wieder am Arbeitsplatz erschienen war. Madame erledigte also noch die wichtigsten Korrespondenzen, die sonst im Aufgabenbereich ihrer Kollegin lagen. So legte sie M auch eine Mail vom Fraktionsvorsitzenden vor, die er mit großer Freude und Genugtuung las: „Hervorragende Arbeit, Gratulation. Aber Vorsicht bei den Schlussfolgerungen! Weitere Informationen wie bisher nur an mich.“

      Von Madame ließ er sich in Einzelheiten erklären, was es mit den technischen Sicherheitsvorkehrungen für die Tür zum Cockpit auf sich hat, auf welcher politischen und rechtlichen Grundlage sie entwickelt worden waren und welche vergleichbaren Unfälle es in der Luftfahrt der vergangenen Jahre schon gegeben hätte, in denen vielleicht der Verschluss der Tür Piloten zu einem absichtlichen Absturz verleitet haben könnte. Wie er vermutete, war der aktuelle Fall nicht zum ersten Mal geschehen, sondern stand in einer inzwischen beängstigend langen Reihe ähnlich gelagerter Anschläge. Interessant fand er auch eine Beschreibung des Tathergangs in der „New York Times“, die sich auf ein Protokoll aus dem Militär bezog, das offensichtlich dem amerikanischen Geheimdienst vorlag. Danach habe der Co-Pilot gleich nach dem Verlassen des Piloten damit begonnen, den Bordcomputer umzuprogrammieren, um den Sinkflug einleiten zu können. Der entscheidende Augenblick sei dann die Rückkehr des Piloten gewesen: „Der Mann draußen klopft leicht an die Tür, aber es gibt keine Antwort. Dann klopft er stärker an die Tür, und wieder keine Antwort.“ Dann gibt es Geräusche, wie der Pilot gegen die Türe tritt. Die Tür bleibt vorsätzlich verschlossen. Auf dem Stimmenrekorder muss der Kampf um die Tür eine Zeit lang die überragende akustische Botschaft gewesen sein. Danach hört man das gleichmäßige Atmen des Co-Piloten, das den Schluss zulässt, dass er physisch völlig gesund war. Schreie von innen gibt es nur ganz zum Schluss, sie „hören wir erst in den letzten Sekunden auf dem Band“, wie die Ermittler zu Protokoll geben.

      Solche Informationen lassen M nicht kalt. Aber sie regen seine Fantasie anders an als die Gefühle der meisten Menschen. Er versucht sich in die Lage des Co-Piloten zu versetzen. Andreas Lubitz muss in extrem kurzer Zeit eine Vielzahl von Entscheidungen mit klarem Kopf treffen und logisch aufbauende Handlungen vollziehen. Alles muss sitzen, kleinste Fehler wären für ihn verhängnisvoll. Ab dem Augenblick, in dem der Pilot die Kabine verlässt, ist er der Herr über Flug und Flugzeug. Auf diesen Augenblick hat er gewartet, und er ist in jeder Beziehung für ihn günstig. Die Manipulation des Bordcomputers und die Verriegelung der Tür machen ihn vollständig autark, keiner kann mehr von außen auf das Fluggeschehen einwirken.

      Vor sich sieht er in weiter Ferne die aufsteigenden Berge der Alpen mit den schneebedeckten Spitzen in einem klaren, nur kaum bewölkten Himmel. Um die Maschine gegen ihre Wände zu setzen, muss er einen Sinkflug berechnen, der ihn von gut 30.000 Fuß in acht Minuten ans Ziel bringt. Als erfahrener Pilot fallen ihm solche Parameterberechnungen nicht schwer. Er gibt die Zielwerte für den Autopiloten ein. Er ist sicher, dass seine Eingaben vollständig korrekt sind. Die Belästigungen hinter der Tür stören ihn nicht, auch nicht die ständigen Anrufe und Aufrufe aus der Flugsicherungszentrale. Er hatte sie erwartet und beschlossen, sie einfach vollständig zu ignorieren. Er stellt fest, dass die Maschine mit exakter Gleichmäßigkeit den Sinkflug beginnt. Auf diesen Airbus hat er noch nie etwas