Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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zwischen den beiden Horoskopen, dem Tathergang und der Persönlichkeit von Andreas Lubitz erschreckend groß seien. „Wie du weißt, unterhalte ich in meinem Institut auch ein medizinisches Forschungszentrum. Wir müssen uns also allein schon deshalb intensiv damit beschäftigen, was im Leben dieses jungen Menschen geschehen ist.“ Und dann gab es noch den Satz, den sich M sofort in seine Kladde übertrug: „Von einem normalen Suizid kann man in diesem Fall nicht sprechen.“

       Von den langatmigen Exegesen der Horoskope war M ziemlich enttäuscht. Der Text kam ihm über weite Strecken schwammig und wolkig vor. Tony vermied es mit der gewählten Sprache offensichtlich, sich auf klare Aussagen festzulegen. Immerhin nahm M folgende Informationen zur Kenntnis und notierte sie sich kurz in seiner Kladde, die er neben den Computer gelegt hatte: Die dramatischen Evidenzen zwischen den Persönlichkeitsstellungen und den Ereignissen mit dem Flugzeugabsturz bestätigten auch die neuen Dokumente. Die Zusammenhänge mit der Sonnenfinsternis wurden auch in den neuen Berechnungen gesehen. Als Deutung fasste M die Lektüre zusammen, sie lasse „hinterlistige Machenschaften durch Außenseiter und Zukurzgekommene durch Sabotage“ erkennen.

      M fand den Hinweis, dass Lubitz den Flug von Barcelona nach Düsseldorf eigentlich gar nicht hätte antreten dürfen, da er krankgeschrieben war. Die Krankschreibung hatte er aber in kleine Stücke zerrissen, die die Fahnder in seiner Wohnung im Papierkorb gefunden hatten. Es sei davon auszugehen, dass Lubitz in den letzten Monaten seines Lebens sehr häufig zu vielen Ärzten gelaufen sei, ständig zu anderen, um nicht mit der Diagnose leben zu müssen, krank und fluguntauglich zu sein. Seine Angst vor der Gefährdung seiner Fliegerkarriere sei größer gewesen als alle Ängste, die er sonst noch hatte und kannte. Angst und ihre Verdrängung sei also der Zustand gewesen, so dachte M, aus dem heraus der Co-Pilot gehandelt habe. Auf den tieferen Grund dieser Grundangst hatten M die horoskopischen Deutungen hingewiesen: Lubitz leide an einer progressiven Einschränkung seines Sehvermögens. Er sei augenkrank. Deshalb habe er alle ärztlichen Erkenntnisse seinem Arbeitgeber gegenüber verschwiegen. Seine Fliegerkarriere habe er als die eigentliche Bestimmung seines Lebens und somit als sein Grundrecht empfunden.

      Dann fand M im Gutachten die Hinweise auf einen Artikel in der BILD-Zeitung, in der über Andreas gestörte Liebesbeziehungen mit seiner damaligen Lebensgefährtin spekuliert wurde. Mit ihr lebte er seit vier Jahren zusammen, und sie sei von ihm schwanger. Die Frau erzählte den Reportern von den übertriebenen Kontrollversuchen ihres Lebensgefährten und über seine gelegentlichen Ausbrüche, wenn er sich erregte. Ihr soll er vor nicht allzu langer Zeit gesagt haben: „Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.“ Das Gutachten des M-Beraters datiert diese Aussage auf den späten Abend des 20. März.

      Aus dem Lebenshoroskop des Andreas Lubitz mit der starken Uranus-Einwirkung interessierte M vor allem das Motiv, wie dominant für den jungen Menschen stets das Fliegen gewesen sei. Er notierte sich, was er bereits aus seinem Büro weiß, dass Lubitz schon mit 13 Jahren im örtlichen Luftsportclub Mitglied wurde und dort die Segelfliegerei lernte. Aus dem Gutachten erfuhr er zusätzlich: Schon in seiner Jugendzeit zog es den Segelflieger in die Alpen. Die Uranus Konjunktion Saturn interpretierte der Gutachter: „Er war fasziniert von den Alpen und sogar besessen von ihnen. Nicht nur das Bedürfnis zu fliegen bestimmt Lubitz, sondern auch der Drang, es im schwierigen Gelände zu tun. Wie soll er aus der akuten Falle herausfinden? Die zunehmenden Sehprobleme (Jupiter und Schütze als das Sehen) werfen ihn auf sich zurück. Mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten kommen die Zweifel an sich selbst. Die empfindet er als Zurückweisung und persönliche Verletzung. Der von ihm beschrittene Ausweg ist dann Rache, ist Anklage des Systems, von dem er sich fallen gelassen sieht.“ M war froh, in dem Gutachten keine Hinweise auf die Lage Jupiters zu Lilith zu finden. Tonys Ausführungen haben Lilith ausgespart.

      Nach dem Studium des Gutachtens fasst M für sich zusammen und schreibt auf: „Es gibt zwei Perspektiven, den Absturz zu deuten. Die erste Perspektive startet mit der Frage, wie ist das alles aus einer kranken Psyche möglich? Die Antwort muss im Einzigartigen eines kranken Individuums hängen bleiben. Die damit verbundene Frage bleibt gänzlich unbeantwortet oder wird an einen starken Psychiater delegiert: Warum tötet sich dieser Mensch nicht, wie es andere in einer vergleichbaren ausweglosen Situation tun, sondern reißt 149 andere Menschen kaltschnäuzig mit in den Tod? Die Perspektive, die aus dieser Frage resultiert, ist politisch. Sie geht von den Dimensionen der Tat aus. Sie folgt dem Sachverhalt, dass ein Mensch kaltblütig die Macht ergriffen hat, mit 149 Menschen gezielt an einer Bergwand zu zerschellen. Er inszeniert den lebendigen und zu demonstrierenden Beweis, dass Systeme zerschellen können, wenn jemand überzeugt ist, aus ihrem Schoß gestoßen zu werden.“

      M wusste, wie wichtig es in der Politik ist, im Wettlauf mit der Zeit aktuellen Ereignissen eine Deutung zu geben. Man muss ein Thema schnell besetzen, indem man es in eine bestimmte Sprache kleidet. Mit einer semantischen Bekleidung begründet man eine Agenda, mit der das Geschehene verbunden wird mit dem Profil einer Partei und des politisch Handelnden. Diese Methode nutzt auch M. Er hatte sie vor Jahren in einer teuren Weiterbildung eingebläut bekommen. Madame hatte er frühzeitig den Auftrag erteilt, am Wochenende einen Entwurf für den Bericht über den Flugzeugabsturz zu verfassen, höchstens vier Seiten lang. Das Arbeitsergebnis solle am Montag früh vorliegen. Er würde diesen Entwurf dann während des Tages bearbeiten. Schatz hatte er gebeten, erst am Montagmittag ins Büro zu kommen. Er brauchte sie für die Reinschrift und für die Beförderung des dann fertigen Berichts in das Büro des Fraktionsvorsitzenden.

      M hatte als Schlüsselbegriff für seinen Bericht das Wort Selbstmordattentat gewählt. Das Wort sollte die Assoziationen zu den Selbstmordattentaten der Dschihadisten vom Islamischen Staat auslösen, die als Vorhut bei der Eroberung von Städten in Syrien und im Irak eingesetzt wurden, um Angst, Panik und Chaos zu erzeugen, eine Erstarrung im Unfassbaren, die es dann den Kämpfern erleichterte, den militärischen Widerstand in den zu erobernden Städten schnell zu brechen. Außer in den Kurdengebieten war diese Strategie der Selbstmordattentate mit vielen toten Zivilisten meistens sehr erfolgreich gewesen. Auch im Falle Andreas Lubitz, mit 27 Jahren in einem Alter, das als besonders geeignet für Selbstmordattentäter gilt, war M überzeugt, hinter der Tat müsse eine bislang noch nicht entschlüsselte Strategie stecken. Die Hinweise auf die psychischen Schäden des Täters reichten ihm als Erklärung nicht aus. Psychische Probleme ließen sich sicher auch bei den dschihadistischen Selbstmordattentätern diagnostizieren, würde man nach ihnen suchen. Krankheiten, so die Hypothese von M, treiben einen Menschen vielleicht in einen Selbstmord. Dazu suchen sie sich aber kein Flugzeug, um 149 weitere Menschen zu töten und die große Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.

      M war sich beim Verfassen des Berichts durchaus seiner heiklen Mission bewusst. Die Quellen aus seinem Umfeld ließen darauf schließen, dass Andreas Lubitz das Instrument einer übergeordneten Konstellation gewesen sei. Seine Quellen durfte er aber in seinem Bericht nicht nennen. Deswegen musste er argumentativ einen Umweg einschlagen. Außerdem konnte M die Macht, in deren Korrelationen der Co-Pilot zum Täter geworden war, noch nicht konkret benennen. Aber das Selbstmordattentat ließ, das wollte er andeuten, auf diese Macht schließen. Ihr ordnete er persönlich das Eigenschaftswort dämonisch zu. Auch hier musste er vorsichtig formulieren, denn er konnte ja nicht entlang der Sprache seiner Informanten argumentieren. Der Taktiker M ist gefragt. Sein Bericht muss ein taktisches Meisterstück werden, um seine politische Strategie verwirklichen zu können.

      Natürlich kann M nicht berichten, dass er sich eines Astrologen und einer Wahrsagerin bedient, um die Korrelationen aufzudecken, in denen das Selbstmordattentat steht. Er muss seine Politik als parlamentarischer, seiner Fraktion verbundener Einzelgänger betreiben. Die Ergebnisse seiner einzelgängerischen Politik sollen im Machtzirkel seiner Fraktion beeindrucken. Für sich sucht er bei den Großen oben Respekt. Würde er seine Methode tatsächlich offenlegen, wäre er eine Lachnummer. Das muss M unter allen Umständen vermeiden, also bleibt er übereifrig loyal und angepasst.

      M weiß das alles und ist sich der Einzigartigkeit seiner politischen Existenz bewusst. Nach außen ist er ein anderer als nach innen. Seine Chance sieht er darin, sich auf einer höheren Ebene mit denen zu treffen,