Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


Скачать книгу

er für wenige Sekunden die Augen. Er malt sich aus, wie in einem kaum messbaren Augenblick alles aus ist, für ihn wie für alle, die in der Maschine in seiner Hand sind. Er ist jetzt der mächtigste Pilot, mächtiger als alle, denen er diese Macht verdankt. Macht gibt es nie auf Ewigkeit, sagt er sich. Je vollkommener sie ist, desto kürzer dauert sie, sie ist die letzte Abstraktion seines Lebens. Er hat den Gipfel der Macht erreicht. Das Panorama vor ihm wird nun immer großartiger. Die Alpen gehen von den großen Gliederungen immer zerklüfteter in kleinteilige Berg-Tal-Schluchten-Massive über. Andreas Lubitz lehnt sich zurück. Die Maschine ist ruhig, nur die Steinriesen fetzen vor seinen Augen vorüber. Vor ihm türmt sich die steinerne Wand, rast ihm entgegen. Er geht noch einmal voll in die Beschleunigung, schließt die Augen. Aus, vorbei. In einem Blitz ist alles erloschen, zerschellt.

      Schon mehrere Male hat M diesen Film in seinem Kopf abgespielt. Da gibt es keinen Zufall, der an irgendeiner Stelle des Ablaufs den Gang der Dinge bestimmt. Alles ist präzise vorbereitet. Andreas Lubitz arbeitet wie ein Roboter. Er hat seine Macht mit äußerster Konsequenz gesucht und vollständig genutzt. Die Zusammenhänge sind weiter gespannt, als es die Konzentration auf die arme Psyche eines Mannes erkennen lässt. M hatte sich angewöhnt, Macht als eine Notwendigkeit zu verstehen, Mögliches zu tun. Er konnte nur wenige Texte aus dem Bestand der abendländischen Kultur auswendig. Aber ein paar Zeilen von Johann Wolfgang Goethe begleiteten ihn sein Leben lang, die „Urworte. Orphisch“:

       Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

       Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

       Bist alsobald und fort und fort gediehen

       Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

       So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

       So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

       Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

       Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

      M ist überrascht, als er am Abend die Wohnung seiner Wahrsagerin betrat. Ihm kam eine Frau entgegen, die ganz anders aussah, als er sie kannte. Sie trug einen langen lilafarbigen Rock mit großen Mäandermustern in dunkelblauer Farbe, darüber eine weite Bluse mit einem tiefen Dekolleté über ihrem großen und schweren Busen. Die Bluse war aus grüner Seide, bedruckt mit prallen Blumen in rot-violetten Farbtönen, üppig prachtvoll wie die Blüten von Pfingstrosen. Die Haare waren pechschwarz gefärbt und hinten zusammengebunden. Knallrot waren die Lippen geschminkt, weit über die Linien hinaus, die sie mit der Haut des Gesichts verbinden. Schwer geschwärzt waren die Augenbrauen und die Augenlider. Sie lächelte ihn an, als er die Wohnung betrat, und ihre weißen Zähne glänzten. Ihr Auftreten und ihre Aufmachung beeindruckten M, und er war in seiner Begrüßung auffallend unsicher.

      Sie führte ihn in ihr Zimmer, das sauber und aufgeräumt war. Statt der Kugel stand eine Vase mit Narzissen auf dem Tisch. Er sah keine Karten, nur ein dickes Buch der Astrologie mit zahlreichen eingelegten Zetteln. Sie erkundigte sich nach seinem Befinden und freute sich über die starke optimistische Haltung, die aus seiner Stimme klang, als er ihr über seine erheblichen beruflichen Erfolge im Parlament erzählte. „Es sind noch nicht viele Tage vergangen, seit ich am Tag der Sonnenfinsternis bei Ihnen war. Da hatten Sie mir einiges offenbart, was mir sehr geholfen hat. Vor allem haben Sie das Flugzeugunglück gesehen, das uns im Augenblick so sehr beschäftigt. Sie haben vom Zerschellen gesprochen. Leider habe ich das falsch gedeutet, aber jetzt weiß ich, welche großen Gaben Sie haben.“

      Die Wahrsagerin hörte sich das mit ernstem Gesicht an und schwieg eine kurze Zeit. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber, die Arme auf den Tisch gelegt. M musste jetzt noch näher in das riesige Dekolleté schauen und erschauerte ein wenig, wie fremd ihm dieser massige Körper war. Er roch ihr starkes Parfum, das ihm eher unangenehm war, und lehnte sich weit zurück auf seinem Stuhl.

      „Ich kann mich an keinen Satz, an kein Wort erinnern, was ich damals zu Ihnen gesagt habe“, sagte die Wahrsagerin. „Ich war in ein kosmisches Rauschen gefallen, wie immer, wenn ich Dinge klar zu sehen glaube. Aber nichts davon zieht in mein Gedächtnis. Sie hören zu, sind Zeuge, bezahlen mich und gehen Ihre eigenen Wege. Ich verharre noch Stunden wie in einer Starre. Finde ich zurück in die Welt, ist alles wie ausgelöscht.“

      „Dann haben Sie gar nicht gewusst, dass vorgestern das Flugzeug in den Alpen zerschellen wird?“

      „Ich wusste vorher nicht mehr als Sie, aber ich wusste am Tag der Sonnenfinsternis, dass große Unglücke geschehen werden.“

      Dann hielt sie ihm eine kleine Vorlesung, wie sie Astrologie und das Geschehen auf der Erde versteht, und wie sie in Trance die Verbindungszeichen zwischen den kosmischen Konstellationen, großen Ereignissen auf der Erde und den Verknotungen im kleinen Geschehen bis zum Verhalten des einzelnen Menschen erfährt. Das in der Sonnenfinsternis entstandene Uranus-Pluto-Quadrat sei ein sicheres Zeichen gewesen, dass in der Folgezeit einige gewalttätige Erschütterungen die Menschen heimsuchen würden. „Aber“, so fuhr sie fort, „Sie dürfen das nicht zu eng nur für Ihr Gesichtsfeld gelten lassen. In den letzten Tagen ist Vieles geschehen, das in seiner Häufung und der weltweiten Verteilung darauf hindeutet, wie fürchterlich die Sonnenfinsternis gewirkt hat. Die Sonnenfinsternis ist ein Ereignis, das die Notwendigkeit von Verhängnissen aussäht. Dazu gehört der Flugzeugabsturz, über den sie sagen, der Absturz sei eine Folge eines terroristischen Attentats. Dazu gehören aber noch viele andere Unglücke, die wir in dergleichen Zeit zu registrieren haben.“

      M hörte ihr gebannt zu und konnte kaum glauben, wie gebildet, Wort gewandt und klar diese Frau zu analysieren verstand, die er bisher nur über Kugel und Karten gebeugt und Dämpfe inhalierend erlebt hatte. Sie durcheilt mit wenigen Sätzen die Krisenherde der Welt, aus denen stets nur tropfenweise und grob ein paar Informationen in die politischen Raster aktueller Wahrnehmungen geträufelt werden. Sie bewege sich, so sagt sie, ausschließlich auf der Eklipse jener Zeit der Sonnenfinsternis, die in jedem guten Astrologie-Buch präzise beschrieben sei, und verweist mit der rechten Hand auf das Buch vor ihr. Nun zählt sie auf: Eine Woche, bevor sich der Mond zwischen Sonne und Erde drängt, stürmt eine islamistische Terrororganisation vor dem Parlament in Tunis ein Museum. Bis zu diesem Zeitpunkt war in Tunesien von einer Terrororganisation nichts bekannt. Nun war sie blitzschnell und wie aus heiterem Himmel zur Stelle, um die Haut des Parlaments verletzen zu können. Der Krieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran im Jemen schien schon stillzustehen, ausgestanden. Nun bricht er wieder aus, mit zahlreichen Toten. Ob Boko Haram in Nigeria, Dschihadisten, die IS-Krieger in Syrien und im Irak, die sterbenden Flüchtlinge aus Myanmar oder die rasante Häufung ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer – „man schaut nicht mehr hin, will nicht wissen, woher so viel Unordnung in der Welt kommt. Lieber wirft man sie alle in einen Topf. Sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen, Hauptsache sie tun das nicht bei uns“.

      Fast pathetisch und staatsmännisch klingt es, als sie hinzufügt: „Ich erinnere daran, Saturn durchläuft noch bis Ende 2017 das Schütze-Zeichen und prüft dort Religion und Weltanschauung. Armut und Perspektivlosigkeit zu vieler Menschen sind ein fataler Nährboden für die immer heftigeren Kriege im Zeichen von Glauben und Visionen. Wir müssen tiefer in die Hintergründe einsteigen, um zu verstehen. Die Vereinigungen, zu denen auch Sie gehören, die da einfache Antworten anbieten, klingen verlockend, können aber nicht halten, was sie versprechen.“

      M muss zur Kenntnis nehmen, dass seine Wahrsagerin sich bestens in den internationalen Entwicklungen auskennt. In Israel schütze Netanjahu die Siedler und weigere sich, einen eigenständigen palästinensischen Staat anzuerkennen. Netanjahu spreche vor dem amerikanischen Repräsentantenhaus, um die inneramerikanischen Querelen zu schüren, mit dem Iran ein Abkommen über das Atomprogramm zu finden. Da sei doch die Tatsache interessant, so die Wahrsagerin, dass am entsprechenden Verhandlungstisch in Lausanne zwei Nationen ihre Teilnahme verweigern: Saudi-Arabien und Israel. Sie könne noch viele Beispiele erwähnen, was den Zeitungen nicht einmal eine Meldung wert sei: Im Schwarzen Meer, das doch ein internationales Gewässer sei, umkreisen