Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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dass Dritte den Absturz absichtlich herbeigeführt hätten“.

      Die beiden Frauen erschraken innerlich, als M beiläufig kommentierte: „Doch, meine Flugkurve.“

      Madame sah etwas ratlos aus, als sie ihre Übersicht der Informationslage mit der Aussage abschloss: „Wir müssen offensichtlich abwarten. Die Experten finden keine heiße Spur.“

      Schatz beobachtet ihren Chef. Es läuft ihr kalt über den Rücken, als sie wahrzunehmen glaubt, wie sich ein angedeutetes Lächeln um seine Lippen legt, als Madame ihre ergebnislose Bilanz vorträgt.

      „Ich sehe das ein wenig anders“, entgegnet M. „Wir sollten uns ab jetzt auf den französischen Staatsanwalt in Marseille konzentrieren. Der ermittelt offensichtlich anders, als die Medien das tun. Der Staatsanwalt Brice Robin hat festgestellt, die Flugüberwachung habe kurz vor dem Absturz vergeblich versucht, den Kontakt zur Unglücksmaschine zu halten. Das finde ich bemerkenswert. Diese Feststellung erklärt voll und ganz meine Fluglinie. Beobachten Sie diese Quelle so sorgfältig wie möglich. Ich gehe davon aus, dass hier vorsätzlich gehandelt wurde.“

      Schatz kann dem nicht folgen. In ihr sind die Bilder mit den herumliegenden Wrackteilen in der unwirtlichen Berglandschaft. Sie sieht vor sich die fassungslosen Menschen, wie sie in dem kleinen Steindorf zusammenkommen. Sie stellt sich vor, dass die Särge für die Angehörigen nicht geöffnet bleiben können, weil keiner den Anblick der Reste der umgekommenen Menschen ertragen kann. Sie möchte an etwas Unabwendbares glauben, ein fatales technisches Versagen, vielleicht sogar an einen Schlaganfall im Cockpit. Aber Absicht? So perfide kann doch kein Mensch sein.

      Auch Madame bleibt skeptisch. Sie bewundert zwar, wie früh und konsequent sich M auf eine Hypothese eingeschossen hat und findet, diese beansprucht durchaus Beachtung. Aber sie sagt sich, dass zu vieles gegen sie sprechen müsse. Andernfalls würde es nicht die Statements von höchster Regierungsebene und die Spekulationen vieler Experten geben, die ebenfalls über die Fakten verfügten, aus denen M seine Schlüsse zieht. „OK“, sagt sie, „wir werden die französischen Staatsanwälte besonders im Auge behalten. Aber es ist sicher ebenso wichtig, dass wir alle Einschätzungen und Möglichkeiten genauso vorurteilslos registrieren, die gegen die These sprechen, der Absturz sei absichtlich herbeigeführt worden.“

      Schatz ging es sehr schlecht. Sie fühlte sich völlig ermattet. Sie bat M, das Büro vorzeitig verlassen zu dürfen. M gab ihrer Bitte ohne Zögern nach und wünschte ihr schnelle Genesung. Madame zog sich an ihren Computer zurück und M verließ das Büro, um wieder in den Plenarsaal zu eilen. Dort saß er dann mit seinem Handy und der FV-Mappe auf dem Pult. In sie trug er ein: „Der Sinkflug gegen die Bergwand wurde absichtlich eingeleitet und konsequent zu Ende geführt. Das machen wahrscheinlich nicht zwei Piloten gemeinsam (Pflichtbesetzung). Es muss sich also im Cockpit eine Tragödie ereignet haben, an deren Ende nur ein Pilot handlungsfähig blieb (muss aufgeklärt werden). Die absichtliche Tat ist dann – unabhängig aus welchem Zustand entstanden – ein Attentat, dem neben dem Piloten 149 Menschen zum Opfer fielen. Ich nenne das terroristisch. Das Attentat offenbart dann in letzter Konsequenz eine neue Form des Terrorismus.“

      Am Abend speist M nach langer Zeit wieder in der Parlamentarischen Gesellschaft. Die Bedienung im Kaisersaal ist ebenso vorzüglich wie das Essen und der Wein erlesen. M sitzt mit Freunden an einem Tisch. Sie kommen aus unterschiedlichen Fraktionen. Ihre Konversation kreist um Griechenland, die Ukraine und um den „unsäglichen Islamischen Staat“ in Syrien und im Irak. Sie diskutieren nicht kontrovers. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in der Parlamentarischen Gesellschaft, bei den Gesprächen an den fein gedeckten Tischen parteipolitische Zuspitzungen zu meiden. Sind Nuancen in der Bewertung der neuen Syriza-Regierung in Griechenland und in der Analyse der Anteile Russlands und der Ukraine am neuen Ost-West-Konflikt durchaus zu erkennen, ist die Ratlosigkeit gegenüber dem islamistischen Sturm des neuen Kalifats Abu Bakr al-Baghdadi allen gemeinsam unverkennbar. Verlässlich haben sich nur die kurdischen Kämpfer der Peschmerga und der kurdischen Verteidiger von Kobane erwiesen. Aber allein mit ihnen am Boden ist der internationale Krieg gegen den IS nicht zu gewinnen. Undurchsichtig, feindlich gar, erscheint in diesem Nahostkrieg vor allem auch die Türkei mit ihrem offiziellen Hass auf die Kurden, wo immer sie leben.

      Nach dem Essen stiegen die Freunde noch in Ossis Bar in den Keller des prachtvollen Gebäudes. Dort war es voll, und sie fanden gerade noch einen freien Stehtisch, auf dem sie ihre gut gezapften Gläser Bier drapierten. Trotz der Fülle war es in diesem Bierkeller nicht laut. Auch hier, wo die Etikette der kleinen Parlamentsrepublik am lockersten ist, bleiben die Parlamentarier halb politisch, halb privat, ungeachtet der unterschiedlichen Mengen des Biers und des Weins, die sie konsumieren, ein ruhiges Völkchen, das lieber flüstert, als mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Auch unter Freunden ist es hier üblich, das Gesicht zu wahren, ständig und ernsthaft über die vielen Probleme dieser Welt zu räsonieren.

      Schließlich kam die Runde am Stehtisch auch auf das Thema des Flugzeugabsturzes zu sprechen. M gab mit keiner Bemerkung zu erkennen, in welcher Mission er mit diesem Thema auf besondere Weise verbunden ist. Die anderen suchten eher nach Ursachen im technischen Bereich. Das Pannenregister der Airbus-Maschinen hatte immerhin schon einen erschreckenden Umfang. Den Sinkflug interpretierte man eher als einen letzten Versuch eines sehr erfahrenen Piloten, die Maschine irgendwie noch zu einer Landung zu bringen, was aber in dem wilden zerklüfteten Bergmassiv leider aussichtslos gewesen sei. M war der Einzige, der zögerlich zu bedenken gab, dass auch der Faktor Mensch eine Rolle gespielt haben könne. Vorsichtig umschrieb er seine Vermutungen mit „menschlichem Versagen“, um keine Nachfragen zu provozieren, denen er sich an diesem Ort vor diesen Freunden nicht stellen wollte. Kopfschütteln und betroffenes Schweigen beendeten dann auch bald die Diskussion.

      M hatte die persönliche Mailadresse seines Fraktionsvorsitzenden. Sie sollte er nutzen, wenn es geboten erschien, die offizielle Anlaufstelle im Bundestag zu umgehen. Insgesamt galt für M die Arbeitsvorgabe, das Internet sehr zurückhaltend einzusetzen, wenn es um politisch brisante Dinge ging. Auf dem Weg von der Parlamentarischen Gesellschaft in seine Wohnung überlegte M, ob er seinem Fraktionsvorsitzenden einen Hinweis über seine Vermutung zukommen lassen sollte. Er war sich darüber im Klaren, dass wahrscheinlich der BND, die NSA oder beide den Mailverkehr registrieren und auswerten würden. Er hatte also abzuwägen, ob er dieses Risiko eingehen müsste. Er kam zu dem Ergebnis, aus aktuellen Gründen seinen Fraktionsvorsitzenden schließlich doch informieren zu müssen. Seine Entscheidung stützte auch die Spekulation, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch andere Informationskanäle ihre Argumentation auf der Grundlage seiner Erkenntnisse aufbauen würden.

      Unter den Toten ist auch der Co-Pilot. Er kommt aus Montabaur. Dort war er bereits als Jugendlicher aktiv im Verein der Segelflieger. Seine Freunde bestätigen, was für ein fantastischer Flieger und Kamerad er gewesen sei. Sie waren es auch, die gleich nach dem Absturz eine Traueranzeige in die örtliche Zeitung setzten: „Er konnte sich seinen Traum erfüllen, den Traum, den er jetzt so teuer mit seinem Leben bezahlte.“ Der Stadtrat von Montabaur tagt am Mittwochnachmittag. Die Bürgermeisterin eröffnet die Sitzung mit einer Schweigeminute zum Gedenken an den angesehenen Sohn ihrer Stadt.

       Am Mittwochabend um 23.15 Uhr mailt M an seinen Fraktionsvorsitzenden: „Ich bin ziemlich sicher, dass einer der beiden Piloten die Maschine absichtlich gegen die Bergwand geflogen hat. Aus welchen Gründen auch immer das geschehen ist, bleibt die Tatsache zu bewerten, dass wir es mit einem Attentat zu tun haben, das in der Kategorie Terrorismus zu verorten ist.“ Danach rief er seine Wahrsagerin an und verabredete mit ihr einen Termin für den nächsten Tag, Donnerstag, den 26. März, um 18.00 Uhr.

       Das wird mein Tag. So stieg M in den Donnerstag ein. Ungeheuerliche Informationen über den Flugzeugabsturz strömten bereits am Morgen in die Öffentlichkeit und ließen die Menschen vor Fassungslosigkeit erstarren. Nicht aber M, der in ihnen die Mosaiksteine fand, mit dem er sein Puzzle vervollständigte, das ihm von Anfang an vorgeschwebt hatte. Er wurde sich zunehmend sicher, als Politiker eine Rolle spielen zu können, weil er Karten in der Hand hielt, mit denen er in die Abgründe von Menschen sehen konnte. Er genoss es, wie die Informationen das Abgründige in Fakten gossen, ohne deuten zu können, was sie da an Wahrnehmungswirkungen auslösten.

      Der