Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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Sekundärrhythmus für den Ereignistag. Keiner hat sich dafür interessiert. Aber ziemlich genau zwei Jahre nach dem Fiasko, so leitete er aus dem Horoskop der Attentäter ab, sind überaus ungünstige Aspekte für die USA zu erkennen. Und tatsächlich: Am 14. August 2003 gibt es den größten Stromausfall in der amerikanischen Geschichte. Auch in New York gingen die Lichter aus.

      Und nun heute diese Katastrophe. Alles nur Zufall, technische Probleme, Schicksal? Daran glaube ich nicht. Ich hätte es ohnehin besser wissen können, die Katastrophe sensibler auf uns zukommen sehen müssen. Meine Wahrsagerin hatte sie mir angekündigt. Sie ist keine gebildete Astrologin wie Tony und sie lallt beim Sprechen. Aber sie fühlt in Kraftfeldern die Zusammenhänge, die Tony in seinen komplizierten Rundbildern wie ein Anwalt Schritt für Schritt erschließt. Ich werde Toni beauftragen, das heutige Ereignis zu analysieren. Und ich werde meine Wahrsagerin besuchen. Es muss schnell gehen, sonst rast mir die Zeit davon.“

       M ging mit dem guten Gefühl ins Bett, an diesem Tag alles richtig gemacht zu haben. Eine Mail an Tony Bonin mit der Anfrage und dem mit ihr verbundenen Auftrag waren schon unterwegs. Der Bevollmächtigte des Fraktionsvorsitzenden ging seinen eigenen Weg und hatte seine eigenen Methoden. Vor allem hatte er seinen Experten in der Astrologischen Akademie in Bad Wörishofen. Das aber sollte niemand erfahren, schon gar nicht sein Fraktionsvorsitzender. Die offiziellen Wege zu ihm hatte Madame, seine Mitarbeiterin, mit der ihr eigenen Methode im Umgang mit Informationen zu pflastern.

      Der 25. März, der Tag nach dem Flugzeugabsturz, beginnt mit einer kurzen Lagebesprechung im Büro am Besprechungstisch. Schatz hat ihren Stenoblock auf dem Schoss. Madame hat einen Packen Papier, Kopien und Ausdrucke auf dem Tisch ausgelegt. M sitzt ohne Unterlagen am Kopf des Tisches. Er richtet sich an Madame: „Was wissen wir?“

      „Wenig“, antwortet sie, „es ist viel geschrieben worden, aber Genaues weiß man noch nicht. Die Bundeskanzlerin wird heute Nachmittag zur Unglücksstelle fahren und sich dort mit dem französischen Präsidenten treffen.“

      „Die Luftfahrtgesellschaft? Die Technikexperten?“, fragt M. Bleibt alles unklar. Die Maschine war zwar alt, wurde aber noch einen Tag vor dem Abflug aus Barcelona technisch gewartet. Die Experten sprechen eher über allgemeine Probleme bei den Flugzeugen, tun sich aber schwer, im konkreten Fall eine Erklärung zu finden. Selbst ein Anschlag durch Passagiere wird nicht ausgeschlossen, wenngleich es kein Anzeichen dafür gibt und auch keine Bekennerschreiben aufgetaucht sind. „Also lasst uns rekonstruieren, was wir über den Ablauf bis zum Aufprall wissen. Schatz soll mitschreiben“, kürzt M die Wiedergabe der Informationslage ab.

      Der Airbus A320 der Germanwings war kurz nach 10:00 Uhr in Barcelona zu seinem Flug nach Düsseldorf gestartet. Es gab keinerlei Hinweise, dass irgendetwas mit der Maschine nicht in Ordnung sein könnte. Der Funkverkehr lief die ersten 45 Minuten völlig normal. Die übliche Flughöhe von 38.000 Fuß war schnell erreicht worden. Um 10:44 Uhr hatte es ein Signal gegeben, wonach die Maschine diese Höhe verlassen habe. Um 10:52 Uhr war der Funkkontakt in einer Höhe von nur noch knapp über 6.000 Fuß abgerissen, so Germanwings-Chef Winkelmann. Da befand sich die Maschine bereits in der Nähe von Barcelonnette im Département Alpes-de-Haute-Provence, rund 100 Kilometer nordwestlich von Nizza. Das Bergmassiv Les Trois Évêchés ist hoch, steil und zerklüftet. Dort prallte die Maschine um 10:53 Uhr gegen die Bergwand und zerschellte. Die Teile liegen meilenweit auseinandergeschleudert in dem nur schwer zugänglichen Gebiet verteilt.

      Madame zieht aus ihrem dicken Papierstapel noch eine Notiz heraus: „Es gibt da eine Webseite, die heißt Flightradar24. Sie verfolgt Flugrouten und bildet sie im Netz grafisch ab, auch unseren Flug. Danach sei die Maschine am Ende etwa 900 bis 1.200 Meter pro Minute gesunken. Das sei vergleichbar mit dem Standard bei Landeanflügen.“

      Diese Meldung verfolgt M mit intensiver Aufmerksamkeit. Er holt sich seine Kladde und zeichnet den Verlauf der Kurve, die die Maschine im Sinkflug in den letzten acht bis neun Minuten geflogen war. Dieser Linie legt er eine Horizontale unter, auf der er die Minuten markiert, um auf diese Weise die gleichmäßige Sinkkurve zu dokumentieren. „Das Wetter war gut, klarer Himmel. Im Cockpit war also den Piloten klar, was passieren musste. Kein Notruf, kein Alarm.“ Schatz und Madame sitzen erschrocken vor seiner Zeichnung.

      Madame holt noch ein anderes Blatt aus den vielen Nachrichten: „Am Nachmittag wurde der Stimmenrekorder unter den Trümmern gefunden. Aber es gibt noch keinen Hinweis, was die Audio-Dateien an Informationen bergen.“

      M bewertete diese Lagebesprechung als gut gelaufen und brach sie schnell ab. Er wollte pünktlich im Plenum sein. Auf seinem Platz verfolgte er aufmerksam die Meldungen, die er über sein Smartphone bekam, eine bei vielen Kollegen beobachtete Praxis, während der Sitzungsreden, die er zutiefst verabscheute. Immer wieder betrachtete er seine Zeichnung über die Flugbewegung der Maschine in ihren letzten Minuten. Er fertigte von ihr auf der leeren Folgeseite seiner Kladde eine Reinzeichnung an, für die er eine Broschüre aus seinen Unterlagen als Lineal benutzte. Daneben schrieb er die einschlägig bekannten Daten des Flugzeuges und seines Absturzes.

      In der Mittagspause lief er fast beiläufig seinem Fraktionsvorsitzenden über den Weg. Der kam ihm entgegen, schüttelte die Hand und meinte warmherzig: „Mein Freund, Sie wissen sicher auch noch nicht mehr als ich.“ M lächelte ein wenig verlegen, zog seine Zeichnung aus der Tasche, zeigte sie dem Fraktionsvorsitzenden und sagte: „Alles weiß ich noch nicht. Aber schauen Sie, diese Fluglinie geht dem Aufprall voraus. Sie deutet auf keinen technischen Defekt der Maschine hin, auf keine Explosion und auch auf keine Turbulenzen bei den Passagieren. Die Fluglinie wäre auch nicht logisch, wenn der Pilot plötzlich kollabiert oder nicht mehr Herr der Situation gewesen wäre. Sie sieht so aus, als sei die Maschine absichtlich auf diesen Kurs gesteuert worden.“

      Der Fraktionsvorsitzende verliert sichtbar Farbe im Gesicht. „Um Gottes Willen, was wollen Sie damit andeuten? Das kann doch gar nicht sein.“ Kurz schweigen beide und er fährt fort: „Haben Sie Kontakt zum Bundeskanzleramt aufgenommen? Die Kanzlerin ist wahrscheinlich schon unterwegs zur Unglücksstelle.“

      „Nein“, erwidert M. „Wir waren ja so verblieben, dass ich nur Ihnen berichte und auch nur Ihnen meine Schlussfolgerungen mitteile.“

      Da hellt sich das Gesicht des Fraktionsvorsitzenden wieder auf, und er klopft M freundlich auf die Schulter. „Sie haben einen scharfen Verstand. Aber verrennen Sie sich nicht. Ich setze weiter auf Sie.“ Spricht - und wendet sich schnell anderen zu, die seine Nähe suchen und ihm bereits auf den Fersen sind.

      Nach der Mittagspause zurück in seinem Büro fiel M auf, dass seine beiden Mitarbeiterinnen sich ihm gegenüber sehr höflich und ehrerbietig verhielten. Offensichtlich akzeptierten sie ihn jetzt als Autorität, als einen Politiker mit Instinkten, der sich nicht durch Gefühle beeinflussen lässt, die das Unglück aller Orten ausgelöst hatte. Gleich mit seinem ersten Satz verblüffte er seine beiden Mitarbeiterinnen: „Ich hätte den Angehörigen der Piloten nicht den Rat gegeben, mit den Angehörigen der anderen Opfer ins Unfallgebiet zu fliegen.“

      Die Informationslage 27 Stunden nach dem Absturz war immer noch einigermaßen unübersichtlich. Die Ursachen und der genaue Ablauf blieben im Verborgenen. 72 Bundesdeutsche waren an Bord, das wusste man nun. Der Stimmenrekorder wird noch ausgewertet. Auch Deutsche Spezialisten beteiligen sich daran. Das Zentrum im Alpengebiet, in dem die Hilfsmannschaften ihre Basis haben, in dem die Heerscharen der Journalisten einfallen, in dem die Seelsorger und Psychologen campieren, die den Angehörigen helfen sollen, in dem die Turnhalle hergerichtet wird, um die Särge für die Opfer aufzustellen, in dem offizielle Sprecher und Politiker ihr Fenster zur Welt finden, ist nun das Dorf Seyne-les-Alpes mit gerade einmal 1.400 Einwohnern. Die Bundeskanzlerin, der französische Präsident und der spanische Regierungschef zeigen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, wie betroffen sie sind, wie nahe ihnen diese Katastrophe geht, wie sehr sie an einer schnellen Aufklärung interessiert sind, und dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun wollen, um den Hinterbliebenen der Opfer zu helfen.

      Die Kanzlerin nannte das Unglück „das Unfassbare“ und gab ihrer Einschätzung Ausdruck, es werde angesichts der schwierigen Lage der Absturzstelle sicher einige Zeit in Anspruch nehmen, die Unglücksursachen zu klären.

      Madame