Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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Sie sich vor, ein Pilot macht da so etwas wie Ihr Co-Pilot in den Alpen.“ Sie zählt noch mehr auf, um dann ihre Rede mit einem Verweis auf das vor ihr liegende Astrologie-Buch abzuschließen: „Die Wirkung der Sonnenfinsternis erstreckt sich nicht nur auf den unmittelbaren Zeitraum, in dem sie sichtbar ist. Im Falle der Sonnenfinsternis vom 20. März muss man sicher von einem Zeitraum von mindestens drei bis vier Monaten vor und nach ihrem Ereignis ausgehen.“

      M sah sich ermutigt, sie nun zu unterbrechen. „Woher haben Sie diese weite Informationsübersicht? Was sind Sie für eine gebildete Frau!“

      Sie lächelte nicht einmal, als sie das Kompliment selbstbewusst entgegennahm. Sie wendete das Gespräch und sagte ihm offen in die Augen: „Sie sind heute zu mir gekommen, um etwas über das Horoskop vom 24. März zu erfahren. Darauf habe ich mich vorbereitet, und Sie sollen meine Ergebnisse kennen.“ Sie schlug ihr Buch auf und legte sich einige Zettel zurecht. M saß ihr aufmerksam gegenüber und sagte keinen Ton. Dann erfuhr er von ihr, dass die Sonne in Konjunktion zum Uranus gestanden habe, woraus unschwer die Liebe von Lubitz zum Fliegen abzuleiten sei. Saturn in Konjunktion zum Schützen erzählt, wie hart er an seiner Liebe zum Fliegen gearbeitet hatte. Ihr sei aufgefallen, dass Mond und Mars im Skorpion stehen und Pluto daneben bleibt. Das heißt, Pluto steigt ab in den Seelenkeller. „Diese Deutung geht zurück bis auf meine Urmütter, die im Orakel des Poseidon vor den Toren der Unterwelt auf der Mani dienten.“ M erschrak, als er von der Frau vor ihm von dem Orakel auf der Mani hörte, eine Landschaft, die er bald besuchen wird. Nur mühsam konnte er eine weitere Frage unterdrücken.

      Die Wahrsagerin verwies gegenüber M auf ihre ausgeprägten Kenntnisse in der Psychologie. Ihre Stärke in der analytischen Astrologie liege darin, die Grundkonstellationen des planetarischen Geschehens mit den Entwicklungen der individuellen Psyche von Menschen verbinden zu können. Die nackten Daten der Sterne am 24. März bringen Tempo in die Schwingungen der Psyche. Es sei doch offensichtlich, dass Menschen wie Lubitz in psychische Zustände wie Burnout, Depressionen, Verlustängste getrieben würden. Je enger sich die Schlinge um sie ziehe, desto kraftvoller und explosionsartiger suchen sie dann nach einer Erlösung, koste es auch die fürchterlichsten Verluste. Von außen gesehen mache man es sich mit der Feststellung zu einfach, solche Menschen rächten sich an ihrem Leben. Lubitz hätte gewusst, dass seine innere Krankheit es bald unmöglich machen würde, ihn noch fliegen zu lassen. Die als Depression erlebte Verletzung schlägt um in äußerste Aggressivität, mit der allen sichtbar gemacht werden soll, wie verachtenswert das Leben geworden ist, wenn es vollständig unter die Regeln der Anpassung gedrückt wird. Nicht er fühle sich krank, alle seien krank, die Grund seiner Angst seien, denen er nicht entfliehen könne. Der süße Tod sei ein inszeniertes Fanal, dessen Herr er sei, mit dem er sich und alle Erreichbaren in seine letzte und in seine größte Tat der Erlösung hineinreißt.

      Die Wahrsagerin unterbrach sich und fuhr dann undeutlicher artikulierend mit monotoner Stimme fort: „Die Luft habe ich angehalten, als ich das Horoskop von Andreas Lubitz vom 24. März in Verbindung zu den Daten der Sonnenfinsternis am 20. März gebracht habe. Da ist es mir im Magen flau geworden, als ich die Transite genauer untersuchte. Die vom 24. März lassen eigentlich keine extremen Auswirkungen erkennen. Die Sonnenfinsternis bildet aber ein Quadrat von Sonne auf Schütze mit dem Stellatium aus Merkur, Saturn und Uranus. Noch weiter: Die Finsternis berührt seine Mondknotenachse auf Fische. Da bekommt man eine Gänsehaut, wenn man die Transite sieht. Jupiter steht an dem Unglückstag gerade genau auf seiner Lilith.“

      Nun musste M die Wahrsagerin doch unterbrechen. Er hatte zwar eine ungefähre Ahnung, was Lilith für die Astrologie bedeutet, wollte es aber in diesem konkreten Fall genauer wissen. Die Wahrsagerin löste sich aus ihrer inneren Versenkung, richtete sich auf und erklärte es ihm wie eine Lehrerin: „Zunächst einmal ist der Hinweis wichtig, dass Lilith kein eigenständiges Gestirn im Horoskop ist. Er ist gewissermaßen ein mathematischer Punkt der kosmischen Kraftkonzentration, die sich rechnerisch aus der Erdbahn und der Mondbahn ergibt, wenn man die Daten für den jeweiligen Menschen eingibt.“ Es gehe um das Prinzip Lilith, diese missratene Urform des Weiblichen in der Schöpfung Gottes, ein Klumpen Lehm, den die Spucke des Teufels traf. Der Lilith-Punkt, so die Wahrsagerin weiter, gibt Auskunft über Leidenschaften sowohl als intensive Annahme wie auch als intensive Ablehnung. Lilith bedeute: „So sehe ich das und Punkt, Schluss.“ Je stärker Lilith in das individuelle Leben hineinwirke, desto faszinierender erscheine die entschiedene Stärke, die ein Mensch in einem Augenblick erlangen könne. Die Einwirkungen einer Lilith-Konstellation könnten so stark sein, dass ein Mensch vollständig aus der Kontrolle seiner Vernunft unter den Druck gerate, etwas Endliches endgültig zum Ende zu bringen. „Mit Jupiter direkt über Lilith ist diese seltene und vollständige Einwirkung bei ihm offensichtlich erreicht worden.“ Da saß die Wahrsagerin majestätisch vor ihrem Tisch, hatte bravourös die Kurve der Astrologie zur Psychologie geschlagen und war sichtbar mit sich zufrieden. M fröstelte. Er ahnte, die Wahrsagerin zielte mit ihrer Lilith-Deutung, unter Jupiter zu liegen, auf ihn.

      Sie legte das große Buch beiseite. M war sich nicht sicher, ob er alles verstanden hatte. Aber die vorgetragenen Informationen wertete er als eine Beschreibung seines Bildes von dem Piloten. Er war mit sich zufrieden. Vor allem beeindruckte ihn seine Methode, Quellen für das Verstehen der Tat zu erschließen und in den Vordergrund zu rücken, die vollständig außerhalb des Denkens in Routinen liegen, in denen Politiker Zusammenhänge zu setzen pflegen. Er musste sich nur noch fragen, was die Darlegungen seiner Wahrsagerin mit seiner augenblicklichen Arbeit zu tun hatten. Diese Frage, verbunden mit der hohen Anerkennung für ihre Arbeit, reichte er an sie weiter.

      „Die Schlüsse werden Sie selbst ziehen müssen. Sie werden vor allem überlegen müssen, wie Sie Ihr Dossier aufbauen, damit auch die Menschen damit etwas anfangen können, die von Lilith oder von den Konjunktionen der Sterne keine Ahnung haben.“ Die Wahrsagerin war an M geschäftlich interessiert und überschritt deshalb eine innere Grenze, indem sie sich zu weit mit ihrer Interpretation hinauswagte. Sie rechtfertigte das in der Meinung, ein paar ganz praktische Schlüsse müsse sie M für das Geld schon anbieten: „In den nächsten Tagen werden wir viele Informationen über Ärztebesuche und Krankengeschichten von Andreas Lubitz erhalten. Wir werden einen dicken Streit darüber erleben, ob er flugtauglich oder fluguntauglich war.“

      „Er war wohl vollständig fluguntauglich“, warf M ein.

      „Nein“, antwortete sie, „er war bis zur letzten Sekunde vollständig flugtauglich, aber er hätte ab dem 20. März nicht mehr fliegen sollen.“

      „Und warum ist er noch am 24. März ins Flugzeug gestiegen?“

      „Weil ihn keiner beobachtet und erkannt hatte. Er wollte die Sache zu Ende bringen.“

      „Die Sache?“

      „Mit seiner Flugtauglichkeit diejenigen vorzuführen, die es zugelassen hatten, dass er mit seiner Verletzung nur noch in einen Abgrund schauen konnte.“

      Im Zimmer brannte nur die Birne in einer kalten Deckenlampe. Es brannte keine Kerze und das Gesicht der Wahrsagerin war kühl. Die harten Linien durch die Schminke und der bewegungslose schwere Körper der Frau in den bunten Kleidern ließen am Ende das Gespräch erstarren. M stand auf, zahlte das Honorar und verließ seine Wahrsagerin mit dem Bekenntnis, sie sei der einzige Mensch, der ihm für seine Arbeit den Boden unter den Füßen bereiten würde. Er sei ihr für ihre Arbeit außerordentlich dankbar.

      Am Abend war er in seiner Wohnung, hatte sich Rotwein ins Glas eingeschenkt und die diversen Informationssendungen und Talks im Fernsehen verfolgt. Um 23.00 Uhr kam eine Mail seines Freundes Tony Bonin aus Bayern. Er hatte schnell geliefert. M öffnete die drei Anhänge der Mail Es waren zwei Rundbildzeichnungen, ein Ereignishoroskop und ein Persönlichkeitshoroskop von Andreas Lubitz. Beide Bilder waren voll mit Punkten und Linien, für ihn nicht zu entziffern. M konnte so gut wie nichts mit ihnen anfangen. Er hatte nie gelernt, die Horoskope zu lesen, denen er vertraute. Schier unmöglich war es für ihn, die an Informationen überbordenden Bilder seines Freundes den wesentlichen Aussagen zuzuordnen. Denn in der dritten Anlage war ein ausführlicher Text, in dem sein Auftragnehmer beschrieb und deutete, was sich aus den Horoskopen für die Vorstellungswelt