Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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in anderen Zusammenhängen entstanden, seine Ahnungen und Vorstellungen ausdrücken. Gerne folgt er den Hinweisen über die Beschränkung der Kausalität, die Propheten der digitalen Revolution verbreiten. Was in der Welt geschieht und sich entwickelt, kann nicht auf das Prinzip von Ursache und Wirkung reduziert werden. In den digitalen Netzen finden unzählige Bewegungen der Anpassung und Veränderung statt, für die es keine zentralen Steuerungen gibt. Dennoch entsteht kein Chaos der unendlichen Möglichkeiten. Was Aufmerksamkeit erregt, hat den ersten Schritt auf den Wegen zur Macht geschafft. Macht und Erregung sind Geschwister der digitalen Welt geworden. Man muss nicht Analytiker sein, um das Verhalten von Menschen in den virtuellen Welten zu verstehen.

      Madame hatte ihm ihren vierseitigen Entwurf mitsamt vielen Anlagen bereits wenige Tage später am Sonntagabend gemailt. Wie er erwartet hatte, bekam er eine sehr gute, detailreiche und gewissenhaft argumentierende Vorlage mit geschickt gesetzten Pointen. Madame war halt eine außerordentlich qualifizierte Mitarbeiterin. Auf ihre Talente konnte er sich verlassen. Bis weit nach Mitternacht arbeitete M an diesem Schriftstück. Er konnte sich nicht erinnern, je in seinem Leben so intensiv und konzentriert an einer Vorlage gearbeitet zu haben. Da er keinen Satz aus dem Entwurf seiner Mitarbeiterin streichen wollte – alle schienen ihm so ausgewählt und formuliert, als seien sie seinen eigenen Vorstellungen und Schlussfolgerungen entsprungen – vergrößerte sich der Textkörper durch Zusätze und Zuspitzungen, die aus seiner Feder stammten. Aus den vier Seiten wurden auf diese Weise fast acht.

      Ein so langer Bericht würde den Fraktionsvorsitzenden zunächst missmutig stimmen. Missmut ist aber eine negative Energie beim Lesen. Das hatte der Chef des Öfteren bei den Fraktionssitzungen seinen Kolleginnen und Kollegen ins Stammbuch geschrieben. Um dieser negativen Energie entgegenzutreten, fühlte sich M ermutigt, dem Bericht einen Vorspann zuzufügen, der als Seite eins die wichtigsten Aussagen zusammenfasst und das Interesse auf die ausführlicheren Passagen des Berichts lenkt. Der Vorspann soll also die Aufmerksamkeit des Fraktionsvorsitzenden auf M und seinen Bericht lenken. Dieser Vorspann begann: „Andreas Lubitz, der Co-Pilot des Airbus, wusste in dem Augenblick, in dem er die Passagiermaschine mit 150 Menschen an Bord gegen die Bergwand lenkte, sehr genau, was er tat. Er wusste, dass er wegen seiner Krankheiten früher oder später seine Pilotenlizenz verlieren würde. Die Lizenz wäre im August dieses Jahres ausgelaufen. Alles spricht dafür, dass die Fliegerei für ihn das Wichtigste in seinem Leben war. Er wusste, was er in den zehn Minuten zu tun hatte, in denen er allein im Cockpit war. Die entsprechenden Flugeinstellungen hatte er bereits auf dem Hinflug ein paar Stunden vorher eingeübt. Ihm war klar, welche Betroffenheit seine Tat auslösen würde. Er hatte in diesen Minuten die Macht, durch seine Tat vollständige Fassungslosigkeit zu erzeugen. Er nutzte die Maschine und die Menschen in ihr, um ein Fanal zu setzen. Er schrieb mit der Tat eine dämonische Botschaft, die es zu entziffern gilt. Für diese dämonische Botschaft schuf er sich die Macht des Augenblicks. Er inszenierte ein Selbstmordattentat gegen das System, als dessen Opfer er sich verstand.“

      Für die dann folgende Aussage wählte M eine Taktik, auf die er besonders stolz ist. Er verweist auf eine Mitarbeiterin im Rathaus des Alpendorfs Seyne-Les-Alpes, in dem die Krisenzentrale nach der Katastrophe eingerichtet worden ist. Dort gibt es eine gewisse Janique, die sich vor allem um die verstörten Kinder kümmert. Mit ihr haben Reporter gesprochen. „Sie muss den Kindern erklären“, schreibt M, „was geschehen ist. Natürlich kann sie ebenso wenig erklären wie alle anderen Menschen und sagt aus Gefühl, aus dunkler Ahnung: Vielleicht war der Co-Pilot ein Terrorist. – Liegt sie so falsch? So vorsätzlich, wie dieses Selbstmordattentat ausgeführt wurde, kann nur ein Terrorist handeln.“ M fügt noch hinzu, dass man keine Anhaltspunkte für Hintermänner habe. Das würde aber nicht die politische Brisanz des Attentats mindern. In den Vordergrund müsse die Frage rücken, wie zerstörerische Korrelationen in anfälligen technischen Systemen erkannt werden können, die Risikofaktoren darstellen. „In diesem Sinne handelt es sich um ein Ereignis, das eine erweiterte Art des prognostischen Sicherheitsdenkens in der Politik notwendig macht.“

      Madame hatte in ihrer Vorlage versucht, das „Unfassbare“ mit Informationen herauszuarbeiten, die ihre Recherchen über Andreas Lubitz ergeben hatte. Das „Unfassbare“ redigierte M als Berührung durch das Dämonische. Die Informationskette von Madame ließ er unverändert stehen. Im Monat vor dem Todesflug hatte der Co-Pilot sieben Ärzte konsultiert. Besonders zu schaffen machten ihm Sehstörungen, die er auch seiner Mutter und seiner Lebensgefährtin anvertraut hatte. An zehn Tagen im Monat des Absturzes war er krankgeschrieben. Er hätte am 24. März nicht fliegen dürfen. Die Krankschreibungen fand man zerrissen in seiner Wohnung. Sein Arbeitgeber hat von den Arztbesuchen nichts erfahren. Während der Arbeit, also auch am 24. März, konnte er sich offensichtlich vollständig unauffällig verhalten. Der Pilot hätte anders reagiert, hätte er irgendwelche Ahnungen über den Zustand seines Co-Piloten gehabt. Madame hatte in diesem Zusammenhang geschrieben: „Es tun sich jetzt Blicke in dunkle Abgründe auf.“ M schrieb diesen Satz um: „Die zwei Seiten des Lebens von Andreas Lubitz sind von einem Dämon gesteuert. Uns erscheint Lubitz wie ein dunkler Abgrund. Aber er verweist auf etwas außerhalb des Willens und Handelns eines Individuums.“ Der Bericht erwähnt die angebliche Aussage von Andreas Lubitz gegenüber seiner Lebensgefährtin, die ein Kind von ihm erwartet und in einem nicht spannungsfreien Verhältnis zu ihm stand. Ihre Aussage gegenüber der BILD-Zeitung erscheint auch im Bericht: „Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.“

      Noch etwas anderes stärkt M in seiner Annahme, das Selbstmordattentat folge einem terroristischen Muster. Madame hatte bei der französischen Untersuchungsbehörde BEA recherchiert und alarmierende Ergebnisse in ihre Vorlage eingearbeitet. Der BEA waren bereits auf dem Hinflug von Düsseldorf nach Barcelona am Morgen des 24.März unverantwortliche Manöver des Co-Piloten aufgefallen, als dieser für kurze Zeit allein in der Pilotenkanzel saß und das Kommando über die Maschine hatte. Auch auf dem Hinflug hatte der Pilot das Cockpit verlassen. Das war zwischen 8:19 und 8:25 Uhr. Die Maschine flog zu hoch, und das Kontrollzentrum Bordeaux hatte Lubitz aufgefordert, die Flughöhe auf 35.000 Fuß zu senken. Lubitz geht auch in einen sanften Sinkflug, wie ihn Passagiere kaum bemerken. Im Kontrollzentrum fällt aber auch auf, dass die Daten für die Flughöhe im Cockpit manipuliert werden. Offensichtlich wird der Autopilot programmiert, um auch ein tieferes Sinken ohne Stopp auf der vorgegebenen Flughöhe zu erreichen. Die Autopiloteinstellung wird rechtzeitig korrigiert. Denn der Pilot kommt zurück ins Cockpit und übernimmt wieder das Fluggeschehen. Madame zitiert die BEA mit einem Satz über den Co-Piloten: Man könne aus den Daten schließen, „dass er handlungsfähig war und dass alle seine Handlungen den gleichen Zweck hatten, nämlich das Flugzeug auf den Boden stürzen zu lassen.“

       M war mit dem Bericht pünktlich fertig geworden. Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin hatte er schon am Montagmittag mit starken Komplimenten entlassen. Sie habe hervorragende Arbeit geleistet, und nun stünde ihr redlich ein wenig Freizeit zu. Schatz hatte bereits am frühen Nachmittag die Reinschrift fertig. M verzichtete auf ein persönliches Begleitschreiben. Den Bericht datierte er auf den 30. März 2015, 15.30 Uhr. Schatz brachte den Bericht in einem geschlossenen Briefumschlag in das Büro des Fraktionsvorsitzenden. Auf dem Umschlag stand auch: „Sehr wichtig – eilt!“

      Schon eine Stunde später erhielt M auf seinem Mobiltelefon eine SMS: „Wenn möglich, morgen um 10.00 Uhr in meinem Büro.“ M war mit seiner Arbeit zufrieden. Am Abend gönnte er sich einen Besuch der Parlamentarischen Gesellschaft. Da traf er Freunde und hatte gute Laune in einer ihm wohltuenden Geselligkeit.

      M war pünktlich. Die Sekretärin des Fraktionsvorsitzenden empfing ihn freundlich und fragte ihn, ob er Kaffee oder Tee bevorzuge. Sie war ganz anders, als über sie geredet wurde: kühl, distanziert, eine kaum zu überwindende Hürde im Reich ihres Herrn. M empfand sie hingegen zuvorkommend und warmherzig. Das sah er als ein gutes Zeichen, das sich verstärkte, als die Tür aufging und der Fraktionsvorsitzende mit einem breiten Lächeln auf ihn zukam und ihn mit einem kräftigen Händedruck herzlich begrüßte. M bemerkte, wie zwischen ihnen beiden ein Zustand der politischen Gleichgewichtung entstand. Diesen Zustand hatte er immer wieder herbeigesehnt, doch nie erreicht. Oft hatte er im Bett gelegen und sich vor dem Einschlafen