George Tenner

Jenseits von Deutschland


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      »Und Ihr Großvater? Was sagte der dazu?«

      »Er redete mit mir, wie mit einem kranken Hund. Aber ich brachte ihn auch mit meiner Haltung dazu, seine Zurückhaltung mir gegenüber aufzugeben.«

      »Wie äußerte sich das?«

      »Er ließ seine innere Ruhe vermissen, brüllte mich an, versuchte es mit den unterschiedlichsten Methoden, auf mich positiv einzuwirken.«

      »Positiv in seinem Sinn?«

      »Ja. Aber sicher auch in meinem Sinn. Nur wollte ich das nicht erkennen.«

      »Kommen wir noch einmal auf Ihre Großmutter zurück. Nennen Sie mir nun ein konkretes Beispiel, wo ihre Oma sich gegen Sie gestellt hat. Das hat sie doch.«

      »Nicht wirklich. Die Wahrheit ist, sie hat mir im Beruf sehr geholfen. Als ich meinen Meister machen wollte, wurde ihre Küche zur Backstube. Sie müssen wissen, meine Großmutter kann ausgezeichnet backen. Ohne sie hätte ich die Meisterprüfung nicht bestanden. Aber sie war es auch, die mich als ‚Dünnbrettbohrer‘ bezeichnete, weil ich es bei keiner Arbeitsstelle länger ausgehalten habe.«

      »Zog sie damit einen Vergleich zu Ihrem Vater?«

      »Eher selten.«

      »Aber ein-, zweimal schon?«

      »Ja.«

      »Haben Sie deshalb versucht, während Ihrer kurzen Zeit beim Bund Kontakt zu Kameraden zu bekommen, die möglicherweise in einen Kampfeinsatz gehen werden?«

      War Christoph Senz, nach anfänglicher Unsicherheit, während des Großteils des Gesprächs zu einer nahezu normalen Stimmung gekommen, die ihn mühelos aus seinem Leben berichten ließ, änderte diese Frage schlagartig sein Verhalten. Das Zittern in der Stimme, die Unsicherheit, die ihn verriet, wenn er die Gelenke seiner Finger zum Knacken brachte, das Spiel der Falten auf seiner Stirn und die Schläge der Augenlider zeigten dem erfahrenen Psychiater, dass er einen jungen Mann vor sich hatte, der von Selbstzweifeln zerfressen wurde.

      »Ja. Das war wohl der Auslöser. Ich wollte ihnen Stärke beweisen.«

      »Aber diese Stärke haben Sie nicht? Sie haben Angst vor dem Dienst beim Bund?«

      Christoph Senz kämpfte mit den Tränen.

      »Ja. Ich … ich glaube, ich bin dem nicht gewachsen. Allein das Rumbrüllen beim Wecken versetzt mich in einen Zustand der Unsicherheit.«

      Der Psychiater war ein Mann, dem die »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« durchaus geläufig waren. Er hatte schon alles erlebt von Männern, die dem Wehrdienst entgehen wollten, und war mit nahezu allen Tricks bestens vertraut. Hier hatte er es mit einem jungen Mann zu tun, dem es an jeglichem Selbstbewusstsein fehlte. Sicher schrie der Mann nach einer Befreiung vom Bund, aber nicht, weil er sich drücken wollte, sondern weil er sich in tiefer psychischer Not befand.

      »Herr Senz, ich sehe durchaus, in welcher Verfassung Sie sich befinden. Ich werde Sie dienstuntauglich schreiben, wenn Sie mir versprechen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Werden Sie mir das zusagen?«

      Als Senz nichts sagte, fuhr er fort: »Aufgrund unseres Gesprächs habe ich den Eindruck, dass Sie dringend einer solchen Behandlung bedürfen, um festzustellen, was notwendig ist, um gewisse Unsicherheiten, die Ihr ganzes Leben beeinträchtigen, zu beseitigen. Es kann sich um Psychosen handeln … aber auch um Schlimmeres. Genaues kann nur eine langwierige psychiatrische Untersuchung zutage bringen. Können Sie mir zusagen, sich in eine solche Behandlung zu begeben?«

      Christoph Senz zögerte einen Moment. »Ja.«

      »Fragen Sie Ihren Großvater oder besser Ihren Onkel, der wird Ihnen sicher behilflich sein können«, sagte der Psychiater.

      »Ich werde meinen Onkel fragen.«

      »Bisher habe ich dienstlich mit Ihnen besprochen. Jetzt werden wir uns noch ein wenig unterhalten. Ich werde versuchen, Ihnen noch einige Ratschläge zu geben.«

      Sechs Tage später verließ Christoph Senz die Hans-Joachim-von-Zieten-Kaserne in Beelitz und suchte erst einmal Zuflucht bei seinen Großeltern in dem kleinen brandenburgischen Dorf, in dem das Grundstück mit dem Haus – umgeben von riesigen Feldern der ehemaligen LPG – wie eine Oase lag.

      3. Kapitel

       Mazar-e Sharif, Herbst 2001

      

      In seinen Pluderhosen und dem schwarzen Turban fand Ahmad Romhi sich eigenartig aussehend. Lieber hätte er die schwarz-weiß karierte Kufiya des palästinensischen Widerstandes getragen. Damit wäre er aber hier im Norden Afghanistans zu sehr aufgefallen. Jede Befragung nach seiner Herkunft und Tätigkeit wollte er jetzt umgehen. Schließlich hatte Al Djasira seinen Tod bereits in die Welt hinausgeschrien. Es hätte ihn auch tatsächlich beinahe erwischt. Aber die Bombe hatte seinen Begleiter zerrissen, den man für ihn ausgab. Und so konnte er seinen Feldzug gegen den westlichen Imperialismus unerkannt fortsetzen.

      Der klapprige alte Wagen ohne Motorhaube, auf dessen Ladefläche Said el Oteiba und Ahmad Romhi saßen, zog eine breite Staubfahne hinter sich her. Die brütende Hitze ließ die mächtige Kuppel der Moschee in Mazar-e Sharif – Grab des Edlen –, die mit ihren blaugrünen Fliesen aus der Ferne zu sehen war, flirrend erscheinen. Hunderte weißer Tauben hielten sich vor dem Gebäude auf, stolzierten gurrend umher und flogen hoch, wenn sie sich bedroht fühlten. Der Einfluss iranischer Architekten war unverkennbar. Es war eine Reminiszenz an die Schiiten, denen rund zehn Prozent aller Muslime zugerechnet werden und die im Iran vorherrschend sind. In dieser Moschee wurde angeblich der Stammvater der schiitischen Glaubensrichtung, Ali ibn Abu Talib, auf wundersame Weise bestattet. Ein weißes Kamel hatte, der Überlieferung zufolge, den Leichnam des Sharifs aus dem fernen Mesopotamien in die fromme Landschaft Baktriens transportiert.

      Obwohl es während der Mittagszeit sehr heiß war, spürten die Männer die Stadt. Je näher sie den Straßen des Zentrums kamen, umso eindrucksvoller war das Treiben. Karren, teilweise von Eseln gezogen, kamen vom Souq oder brachten Nachschub für die Händler. Frauen waren um diese Zeit nur wenige zu sehen. Meist trugen sie blassblaue, manche tiefschwarze Burkas, die ihr Gesicht ganz verhüllten. Hier hatten die Taliban die Scharia, das islamische Recht, in Kraft gesetzt.

      Was für eine gespenstische Szene, dachte Ahmad Romhi. Aber wenn er sich ehrlich befragte, ob diese Art zu leben seinen Vorstellungen entsprach, sagte er sich, dass der Zweck die Mittel heiligte. In Ehrfurcht vor Allah zu stehen und die Versuchung, Weib zu eliminieren, schien ihm für das Bauernvolk allemal geboten.

      Der klapprige Wagen hielt in einer Seitenstraße. Ein ungezügelter Haufen junger Männer lungerte auf dem Platz vor dem Haus Allahs herum. Keiner wusste, wer von ihnen den Taliban zugerechnet werden musste, Sympathisant oder nur Zuträger war.

      Der Holzbeinige saß im Schatten, den die große Moschee warf. Er sah durch die beiden Fremden hindurch, als hätte er sie nicht bemerkt. Ahmad Romhi und Said el Oteiba gingen an ihm vorbei, um in der Moschee zu beten. Sie ließen ihre Schuhe am Eingang stehen. Als sie nach einer Weile zurückkamen, saß der Holzbeinige noch immer an der gleichen Stelle.

      »Lā ilāha illā ʻllah!«, sagte Said el Oteiba. »Es gibt keinen Gott außer Allah!«

      »Muḥammadun rasulu ʻllah!«, murmelte der Alte. »Und Mohammed ist sein Prophet!« Umständlich stand er auf. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, humpelte er, die beiden jungen Männer im Schlepp, auf ein Gebäude zu, das am Rande einer Gasse, unweit des Souqs gelegen war.

      »Ich rekrutiere junge Kämpfer für die Taliban aus der ganzen islamischen Welt!«, sagte der Holzbeinige, als er das Tor hinter sich zugemacht hatte und die jungen Männer neugierig den gepflegten Innenhof des Hauses besahen. »Man hat mir die Bitte vorgetragen, euch zu eurem Bestimmungsort zu bringen!«

      Sie nahmen in dem großen Wohnraum des Hauses Platz.

      Aus dem Nebenraum ließen sich kichernd weibliche