George Tenner

Jenseits von Deutschland


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Romhi ihm den Nagel aus dem Finger. Blut spritzte, lief dann über den Stein und auf den Tisch. Müntzer, dessen Körper schweißüberströmt war, fiel in eine leichte Ohnmacht. Romhi nahm einen am Eingang stehenden Eimer und goss dem Gefolterten das Wasser ins Gesicht.

      »Du verdammter räudiger, ungläubiger Hund!«, schrie Ahmad Romhi, während er auf ihn einschlug. »Du elende, stinkende Ratte! Du Sohn einer Hure! Rede endlich! Wer ist der Verräter in unseren Reihen, der unseren Glauben an euch Bastarde verrät?« Dabei schlug er im Takt zu seinen Worten Müntzer immer wieder ins Gesicht. »Sag mir endlich den verdammten Namen des Verräters!« Beim letzten Schlag fiel der Stuhl um, und Müntzer hart mit dem Kopf auf den Boden. Blut lief aus seinem Mund. Zwei Vorderzähne waren ausgeschlagen. Einen spuckte er aus, der andere hing lose, vom letzten Stück Zahnfleisch gehalten.

      »Du Scheißkerl willst mir zeigen, was ein deutscher Märtyrer ist? Ja? Das kannst du haben!«, schrie Romhi. Er ging zur Tür und rief zwei Bewacher.

      Sie kamen herein, brachten eine Panasonic Kamera mit, die sie auf ein Stativ montierten. Dann kauerten sie sich mit ihren Kalaschnikows hinter den noch immer auf der Erde liegenden Müntzer, sodass sie mit aufs Bild kommen würden. Einer von ihnen hielt eine Zeitung mit dem Tagesdatum in die Kamera.

      Romhi kam mit einer Machete. »Ich werde dir jetzt den Kopf abschlagen, wenn du mir nicht sagst, wie der Verräter heißt. Dann werden wir das Video dem Sender Al Djasira übergeben, der es ausstrahlen wird. Wenn deine Kameraden das sehen, werden die Nächsten, die wir gefangen nehmen, reden wie ein Buch!« Er zog sich eine Kufiya vors Gesicht, um später im Film unkenntlich zu sein, und holte mit der Machete aus. »Wie heißt der Verräter?«

      Die Türe wurde aufgerissen. Zwei Taliban kamen herein. Es musste sich um hochrangige Mitglieder handeln, denn Romhi war verunsichert.

      »Mullah Raschid ist sehr unzufrieden mit dir, Ahmad. Der Mann ist ein Kriegsgefangener und wird auch als solcher behandelt werden. Mullah Raschid hat sein Wort gegeben, dass unter seinem Kommando mit Gegnern, die nicht im Kampf getötet worden sind, nach den internationalen Konventionen über die Behandlung von Kriegsgefangenen verfahren wird. Wir nehmen den Mann jetzt mit.«

      *

      »Woher wisst ihr das alles so genau?«, wollte Jerôme wissen.

      »Als wir den Hauptfeldwebel bei einer Säuberungsaktion in einem Außenbezirk von Kunduz fanden, war er zwar noch am Leben, aber er war ein Wrack. Offensichtlich hatte man ihn dort hingebracht, damit wir ihn finden. Wir hatten einen Tipp bekommen, gerade dieses Haus zu durchsuchen. Dennoch berichtete er, was er in Gefangenschaft erlebt hatte. Zwei Tage nachdem wir den Mann aufgefunden haben, verstarb er leider an den physischen Folgen der Folterung im Bundeswehr-Lazarett in Kunduz. Wenn es auf deutscher Seite Märtyrer gibt, damit hatte dieser Ahmad recht – Müntzer war einer. Der andere Kamerad blieb bis heute verschwunden. Wenige Wochen später passierte Ungewöhnliches. Wir alle kennen die staatlichen Killeraktionen aus dem Fernsehen. Sie sind längst in Mode. Die israelische Armee jagt per Hubschrauber und mit Raketen immer wieder hochrangige Mitglieder der militanten Hamas oder des Dschihad Islami. Die US-Armee hat dieses Verfahren bereits in Afghanistan gegen Al-Kaida-Mitglieder angewendet. Unlängst sahen wir wieder einmal eine Sendung auf Al Djasira. Da wurde berichtet, dass eine Bombe, die aus einer Drohne abgefeuert worden war, einen hochrangigen Verhörspezialisten der Hamas nahe Kandahãr getötet hatte. Der Name des Mannes wurde mit Ahmad Romhi angegeben. Wir haben uns alle gefragt, wie der Mann in dieser kurzen Zeit von Samangãn nach Kandahãr gekommen war. Schließlich sind das sechshundertfünfzig Kilometer unwegsames Gelände.«

      »Was glaubst du, wer hat diesen Romhi ins Jenseits befördert?«, fragte Adam Silarski.

      »Bestimmt nicht die Bundeswehr. Unsere Leute sind nicht fähig genug, derartig ausgeklügelte Unternehmungen durchzuführen. Dazu bedarf es Spezialisten.«

      »Die Israelis?«, fragte Jerôme.

      »Ich tippe eher auf die Amis. Am Tag nach der Auffindung unseres Hauptfeldwebels Müntzer hat sich Oberst Mellenthin mit dem amerikanischen Befehlshaber getroffen. Ich denke, dort ist über den Fall gesprochen worden.«

      *

      Gegen sechs verließ Jerôme die beiden jungen Männer und fuhr mit dem Rad zurück zum Landhotel Gustav. Als Erstes rief er seinen Vater an. »Ich danke dir, Vater, dass du mich nach Beelitz gebracht hast und dass keine bösen Worte mehr gefallen sind.«

      »Du bist unser einziger Sohn, Jerôme, und musst deine Mutter und mich verstehen. Wir ängstigen uns um dich.«

      »Ich weiß, Vater. Und es ist berechtigt. Ich weiß, dass der Einsatz in Afghanistan kein Zuckerschlecken ist. Wenn ich zurück bin, werde ich wieder in der Firma arbeiten und mich auf die Geschäftsführung vorbereiten. Vielleicht wäre auch ein BWL-Studium gut?«

      »Das wäre es bestimmt. Es gibt noch eine gesunde Grundlage für die Führung eines Betriebes. Die Zeiten, wo linke Tasche – rechte Tasche geht, sind längst vorbei.«

      »Ich würde versuchen, an der Viadrina einen Studienplatz zu bekommen«, sagte Jerôme.

      »Willst du nicht besser im Westen studieren?«

      »Warum? Ich würde lieber an die polnische Grenze gehen. Manchmal ergeben sich dort Kontakte für unser Geschäft und die Viadrina verfügt über einen ausgezeichneten Ruf.«

      »Wenn du es willst, kann ich schon mal meine Fühler ausstrecken. Frankfurt an der Oder hat wieder eine funktionierende Gemeinde, da gibt es bestimmt Möglichkeiten.«

      »Ich bin einverstanden, Vater.«

      »Sei vorsichtig, Jerôme und denke immer dran: Le shana haba ’e̕be Yerushalayim – und im nächsten Jahr in Jerusalem! Massel tov!«

      »Ich werde daran denken. Auch für dich, Vater, Massel tov – und gib der Mama einen Kuss von mir.«

      Nachdenklich legte jeder der beiden Männer den Hörer wieder auf die Gabel zurück. Der Jüngere dachte, dass er seinen Eltern nicht allzu viele Scherereien gemacht hatte. Nur mit der Entscheidung, zur Bundeswehr zu gehen und sich auch noch freiwillig in ein Kriegsgebiet zu melden, an dem sich schon Großmächte die Zähne ausgebissen hatten und in dem junge Männer ihr Leben lassen mussten. Vor allem aber mit der Trennung von Rachel Cohen hatte er Unmut bei den Eltern hervorgerufen. Es hatte einen Krach gegeben und er, Jerôme, hatte unkontrolliert heftig reagiert. Der Ältere, Samuel Mohr, dachte daran, dass er besser daran getan hätte, die Trennung seines Sohnes von der Nichte des Kantors der jüdischen Gemeinde zu Leipzig zu tolerieren. Nun lag eine unerträgliche, bedrohliche Spannung zwischen Vater und Sohn, die er hoffte, aus der Welt schaffen zu können.

      Nur die Mutter hatte ihrem Sohn nicht eine Minute lang gezürnt.

      2. Kapitel

       Christoph Senz

      5:00 Uhr morgens war die von allen gefürchtetste Zeit des Tages, in der auf den Korridoren erst ein Pfeifen, dann laut der Ruf erschallte: »Auf-ste-hen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« Begleitet wurde das Schreien an diesem Tag durch ein lautes, blechernes Poltern und lautes Pfeifen, das sich noch einmal wiederholte.

      Alternierend war jede der Stuben für eine Woche pünktlichen Weckens verantwortlich. An diesem Tag hatte der Spieß Adam Silarski aus Stube 113 dazu bestimmt, diesen Part zu übernehmen. Am kommenden Morgen würde das Christoph Senz sein, der bereits heute mit Silarski zusammen aufgestanden war und ihm beim Weckruf zugesehen hatte. Silarski hatte gebrüllt wie ein Stier, und als sich nur zaghaft in den angrenzenden Stuben etwas zu rühren begann, hatte er sich eine kleine Mülltonne geschnappt, und diese durch den Korridor geworfen, sodass sein Ruf »Aufstehen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« – durch das Scheppern des Bleches soweit verstärkt wurde, dass augenblicklich Bewegung in den Haufen kam.

      »He, Jerôme … das gilt auch für dich. Heb endlich deinen Arsch aus der Kiste!« Adam Silarski stand vor dem Doppelstockbett des neuen Freundes und rüttelte am Gestell. »Der Spieß