George Tenner

Jenseits von Deutschland


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hörte aufmerksam zu. »Und?«, fragte er, als Wolfgang für einen Augenblick still blieb.

      »Sie brachten ihn in eins ihrer Basislager und begannen, ihn systematisch über uns auszufragen. Truppenstärke, Namen der Befehlshaber, Bewaffnung und so weiter. Der Hauptfeldwebel war Zeitsoldat und als harter Hund bekannt. Das merkten auch die Taliban. Sie bedienten sich eines Verhörspezialisten, der offensichtlich aus einem arabischen Land stammte, der die deutsche Sprache aber genauso beherrschte wie sein Handwerk.«

      »Woher wisst ihr das alles?«

      *

      Aus der Ferne war Gefechtslärm vernehmbar. Vereinzelt wurden große Haubitzen abgefeuert, deren Explosionsknall sich mehrfach in den nahen Bergen brach.

      Die drei gepanzerten Fahrzeuge der Bundeswehr, zwei Dingos und ein Luchs, bahnten sich mühsam ihren Weg durch die unwirkliche Landschaft. Der Hügel, der vor ihnen lag, bestand aus von der Natur aufgetürmtem Steingeröll. Nur vereinzelt hatten einige dünne Bäumchen hier überlebt. Ihnen fehlte die eigentliche Lebensgrundlage – ein angemessener Boden, in dem sie wurzeln konnten. Plötzlich fing einer der Lastwagen an zu schlingern.

      »Feindliches Feuer«, schrie Hauptfeldwebel Thomas Müntzer.

      »Wir haben etwas abgekriegt! Raus hier und verteilen!«

      Die Männer verteilten sich, nahmen Deckung hinter einzelnen Felsbrocken und begannen, das Feuer der Taliban zu erwidern. Gefühlt feuerten die Angreifer von allen Seiten. Aber so schnell sie gekommen waren, zogen sich die Islamisten wieder zurück. Die beiden intakten gepanzerten Fahrzeuge hatten in den Kampf eingegriffen. Sie waren es, die die Stellungen der Taliban mit Maschinengewehrfeuer bestrichen und den Anführer des Haufens zu einem schnellen Rückzug veranlasst hatten.

      Nur der Hauptfeldwebel und ein weiterer Kamerad blieben zurück, als Müntzer die Soldaten seines Zuges wieder zu dem gepanzerten Dingo zurückschickte. Sie erklommen den Hügel, um zu sehen, wohin die Angreifer geflohen waren.

      Wie aus dem Nichts waren die vier Taliban aufgetaucht. Sie hatten die beiden Männer geschickt eingekreist und hielten ihnen die Kalaschnikows an die Stirn. Zähneknirschend hatten sie sich ergeben müssen. Müntzer verfluchte sich, unter Vernachlässigung der Sicherheitsvorschriften seinem Aufklärungstrieb nachgegeben zu haben. Ausgerechnet er, der als umsichtiger Stratege innerhalb seines Zuges bekannt war.

      Als der Schütze auf dem Spähpanzer Luchs etwas ahnte, war es bereits zu spät. Die Kameraden waren noch einmal ausgeschwärmt. Von den verschwundenen beiden Soldaten fehlte aber jede Spur.

      *

      Zwei Tage und zwei Nächte waren sie über die angrenzenden Berglandschaften unterwegs gewesen. Oft waren sie nachts marschiert, weil sie sich am Tage mehrfach verbergen mussten, um nicht von Flugzeugen des Feindes ausfindig gemacht zu werden. Endlich kamen sie zu einer Basis der Taliban, die irgendwo zwischen Kholm und Samangãn gelegen war.

      Die Hütte war nicht eben groß, wie die meisten Häuser des Ortes unverputzt, aus den zusammengetragenen Steinen der Umgebung gebaut, die unbehauen waren und von Lehm zusammengehalten wurden. Dutzende Kämpfer lungerten in der Umgebung herum. Alte mit wallenden Bärten und dem Pakul, jener typisch afghanischen Mütze, die wie ein Pfannkuchen mit wulstigem Rand ebenso unwirklich für Europäer war wie die weiten Hosen. Auch die Jungen sahen so aus. Sie waren wahrscheinlich schon alt, bevor sie tatsächlich die Jugend abgelegt hatten.

      Die Gefangenen wurden getrennt.

      Müntzer kam in einen Raum, der nahezu dunkel war. Nur durch ein kleines Fenster, das relativ hoch angebracht war, fiel etwas Licht auf einen kleinen Tisch, der inmitten des kärglichen Zimmers stand. Zwei der Bärtigen hatten ihn hereingebracht. Einer bedeutete ihm, sich auf den Stuhl zu setzen. Der zweite Mann fesselte mit einem breiten, braunen Klebeband zuerst seine Hände an einem großen, rechteckigen Steinbrocken, der auf dem Tisch lag, dann seine Beine an den stählernen Beinen des Stuhles.

      Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein, den Müntzer auf Ende vierzig schätzte. Es war ein südländischer Typ, braun gebrannt mit einem schwarzen Mehrtagebart, der gepflegt war. Er trug eine Kakihose und ein leichtes, grünes Sakko über einem hellen Hemd. Mit dieser Aufmachung stach er gravierend von den Talibankämpfern ab. Müntzer wusste, dass das nichts Gutes bedeutete.

      »Wie heißt du?«, fragte der Mann ganz ruhig in flüssigem Deutsch. »Ich bin Ahmad Romhi. Ich bin ein Verwandter von Sheik Yassin, der die Hamas gegründet hat. Sagt dir das etwas?«

      »Yassin … Ist das nicht der Mann, der durch eine Bombe getötet wurde?«

      »Der von den israelischen Imperialisten ermordet wurde, obwohl die Hamas legal an die Macht gekommen war.«

      Müntzer sagte nichts. Für ihn war dieser Yassin ein Kriegstreiber, ein Falke, der die Feindschaft der semitischen Völker weiter anheizte.

      »Ich komme aus Khān Yūnus. Weißt du, wo das ist?«

      Müntzer schüttelte den Kopf.

      »Im Gazastreifen. Sagt dir das etwas?«

      »Es ist ein von Palästinensern bewohnter Streifen Israels.«

      Romhi lachte abschätzig auf. »Du bist scheinbar auch so ein zionistischer Hund, der es begrüßt, dass man uns Arabern das Land unserer Väter gestohlen hat. Wie heißt du?«

      »Müntzer. Thomas Müntzer.«

      Wieder lachte Romhi auf. »Ich habe gelernt, dass Thomas Müntzer ein Theologe irgendwann im ausgehenden Mittelalter war, der wegen Aufsässigkeit hingerichtet wurde. Das ist kein besonders gutes Omen für dich! Was meinst du?«

      »Sie sprechen meine Muttersprache aber verdammt gut«, warf Müntzer leise ein.

      »Ich habe einen Teil meines Lebens in Deutschland verbracht, um zu studieren.«

      »Sie haben in Deutschland studiert?«

      »Auf Einladung des Auswärtigen Amtes studierten einige Ausländer an der Bundeswehrhochschule in München. Zwei Einladungen waren auch an die palästinensischen Sicherheitsbehörden ergangen. Ich war einer von ihnen.«

      »Sie haben eine militärische Ausbildung auf Kosten unseres Landes genossen, um uns zu bekämpfen?«

      »Erwartest du Skrupel?«

      »Immerhin unterstützt die Europäische Gemeinschaft, also auch Deutschland, das palästinensische Volk mit vielen Millionen Euro in jedem Jahr. Auch die Leute im Gazastreifen, da kann man ein wenig Dankbarkeit erwarten«, sagte Müntzer.

      »Dankbarkeit? Ein Land, das gegen unsere islamischen Brüder in Afghanistan vorgeht, erwartet Dankbarkeit für eine Selbstverständlichkeit im humanen Sinne? Wie soll die aussehen? Dass wir Araber aus den palästinensischen Gebieten mit euch ungläubigen Hunden gegen unsere Brüder vorgehen? Dass wir euch helfen, den amerikanischen Imperialismus weiter zu verbreiten? Dass wir den Sittenverfall, der aus den Staaten herübergekommen ist und dem auch ihr verfallen seid, unterstützen? Dass wir zusehen, wie unsere Frauen zu Huren gemacht werden? Für all das gibt es nicht genug Schuld, um das widerspruchslos mitzumachen. Nein, in diesem Sinn empfinde ich keine Dankbarkeit gegenüber Deutschland. Du kommst aus dem deutschen Lager in Kunduz?«

      »Warum fragen Sie?«

      »Ich will es von dir wissen.«

      »Der Einsatz der Taliban war doch gut geplant. Also wussten Ihre Leute genau, wann wir wo waren und woher wir kamen.«

      »Antworte nur auf meine Fragen.«

      »Ja, ich komme aus Kunduz.«

      »Wie hoch ist die derzeitige Einsatzstärke?«

      »Das weiß ich nicht, da sich die Zahlen jede Woche ändern. Ein Trupp reist ab, ein anderer kommt dazu …«

      »Wie heißt der Kommandant des Lagers?«

      »Auch das weiß ich nicht«, log Müntzer.

      »Sein Stellvertreter?«