George Tenner

Jenseits von Deutschland


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Ihm gegenüber stand Christoph Senz. Obwohl fast einen Meter neunzig groß und gut gebaut, gab er ein erbärmliches Bild ab. Wie geistesabwesend starrte er auf das Fenster und durch das hindurch auf einen imaginären Punkt.

      »He Christoph, was machst du für ein Gesicht? Morgen bist du dran, den Unsympathen zu geben und die Brut aus den Betten zu treiben«, sagte Jerôme und bemühte sich, einigermaßen lustig zu klingen. »Warst du schon im Waschraum?«

      Senz schüttelte den Kopf.

      Silarski schaute Jerôme an und hob die Schultern.

      »Komm schon, Christoph, schnapp dir dein Handtuch.«

      Draußen auf dem Gang wieselte nun ein reges Treiben. Männer kamen, andere gingen zu den Waschräumen. Jerôme beeilte sich, denn die Zeit zwischen Wecken und Stubenappell war nur kurz bemessen. Sie verschwanden im Waschraum und machten einen Schnelldurchlauf wie alle Rekruten, die mit letztem Wind aus dem Bett fanden.

      »Was ist eigentlich los mit dir, Christoph? Du scheinst dich hier nicht wohlzufühlen. Oder bist du etwa krank? Da musst du dich beim Sani melden«, sagte Jerôme, als sie fertig waren und zurück zu ihrer Stube gingen.

      »Ich will nicht beim Bund bleiben«, sagte Senz leise. »Ich pack das psychisch nicht. Ich gehe hier ein! Bitte sag nichts den anderen Jungs. Die denken sonst, ich bin eine Pfeife.«

      »Hatten wir nicht besprochen, wir gehen zusammen nach Afghanistan, reißen dort vier Monate runter, und dann sehen wir weiter. Adam will weitermachen und innerhalb der Bundeswehr aufsteigen. Ich wollte das ursprünglich auch, werde mich aber stattdessen für ein BWL-Studium anmelden und dann einen unserer Betriebe übernehmen. Mein Vater hat mir angeboten, die Manufaktur in Mainz zu leiten, in der wir nach dem Krieg wieder angefangen haben. Für meinen Vater war immer klar, dass er zum Gründungssitz der Mohr-Schokoladenmanufaktur nach Leipzig zurückgehen würde, sollte es zu einem einheitlichen Deutschland kommen. Und prompt haben wir den Hauptsitz der Manufaktur nach Leipzig verlegt, als das wieder möglich war.«

      »Ich weiß nicht, was ich machen soll?«, sagte Senz.

      »Was heißt das?«

      »Das heißt, dass ich nicht glaube, irgendeine Zukunft zu haben, weder hier beim Bund, noch als Bäcker.«

      Jerôme lachte. »Ein so junger und gesunder Mann wie du und keine Zukunft haben? Verwechselst du da nicht etwas? Könnte es nicht sein, dass du nur ein wenig die Orientierung verloren hast und nun gleich den Kopf in den Sand steckst?«

      »Ich komme nicht mehr mit meiner Mutter zurecht.«

      »Dann musst du ausziehen, musst dir eine eigene Wohnung nehmen! Es ist wichtig, sich rechtzeitig abzunabeln. Und abnabeln kann schmerzhaft sein, sowohl für die Eltern als auch für das Kind.«

      »Und meine Großeltern werden mir immer fremder. Mein Großvater, zu dem ich immer ein überaus gutes Verhältnis hatte, fängt an, mich barbarisch zu nerven.«

      »Das ist eine ganz normale Entwicklung. Denk daran, nur rechtzeitig Nestflüchter zu sein bringt Punkte.«

      Wie auf Kommando war der Flur nahezu leergefegt. Nur vereinzelt rannte noch der eine oder andere, als gelte es, das eigene Leben in Sicherheit zu bringen. Die meisten Rekruten waren bereits auf ihren Stuben, warteten auf den Durchgang, den der Spieß allmorgendlich durchführte, und bereiteten sich zum Gangappell vor, wo Durchzählungen und Krankmeldungen erfolgten. Christoph Senz und Jerôme Mohr erreichten die Stube in dem Augenblick, in dem der Spieß mit seiner Begleitung am Anfang des Korridors seine Runde begann. Hastig zogen sie sich fertig an und richteten die Betten. Alle Decken mussten auf Kante liegen, und wehe dem, der das nicht ordentlich machte. Silarski half Christoph schnell noch die Überzüge geradezuziehen, als schon die Tür aufgerissen wurde.

      Silarski machte zackig Meldung. »Stube 113, mit drei Mann belegt, zum Stubenappell angetreten!«

      Hauptfeldwebel Stange blieb vor dem Bett von Christoph Senz stehen. »Nennen Sie das Bett gemacht, Rekrut? Wohl nicht rechtzeitig aus der Furzkapsel gekommen, was? Silarski, zeige ihm, wie das richtig auszusehen hat.«

      »Jawohl, Herr Hauptfeldwebel!«

      »Heute zum Küchendienst melden, verstanden? Und morgen das Wecken übernehmen, klar?«, wandte er sich an Senz.

      »Verstanden, zum Küchendienst melden.«

      »Morgen früh halten Sie sich bereit. Sie fahren zum psychologischen Dienst nach Leipzig. Dort werden Sie einem Psychiater vorgestellt.« Stange drehte sich um. Im Eingang stand Leutnant Max Franzke. Hinter dem Offizier wurden zwei junge Männer sichtbar.

      »Ich habe hier noch zwei Mann, von denen einer hier mit reingelegt werden soll«, sagte Franzke und drückte dem Hauptfeldwebel die dazugehörige schriftliche Order in die Hand.

      »Graber, Tom!«

      »Hier!«

      »Müller, Heiner!«

      »Hier!«

      Die jungen Männer hatten Haltung angenommen.

      »Graber bleibt hier. Müller kommt auf die 114. Rühren! Silarski ist der Stubenälteste, der hier für alles verantwortlich ist«, verkündete Stange. »Mit Senz fährt morgen der Rekrut Graber nach Leipzig zum Psychologischen Dienst. Abfahrt 8:00 Uhr … Silarski!«

      Adam Silarski nahm Haltung an.

      »Sie sind mir verantwortlich, dass die Fahrbereitschaft nicht warten muss, bis die beiden Herren ausgeschlafen haben!«

      »Jawohl, Herr Hauptfeldwebel.«

      Leutnant Franzke hatte die Szene lächelnd beobachtet. So schnell, wie sie gekommen waren, hatten sie den Raum 113 wieder verlassen und Heiner Müller mitgenommen. Silarski wies Graber sein Bett zu.

      »Wo kommst du her?«, fragte Silarski Graber.

      »Aus Karlshagen.«

      »Karlshagen?«

      »Mecklenburg-Vorpommern.«

      »Aha, oben von der Küste.«

      »Usedom«, sagte Graber. »Insel Usedom.«

      Wenig später gingen sie gemeinsam in die Kantine zum Frühstück fassen. Anschließend holte sie der Alltag in der Kaserne ein.

      Silarski, der vom Instandsetzungsbataillon 466 aus Volkach in Bayern gekommen war, das dem Logistikbataillon 467 in der Mainfrankenkaserne angeschlossen ist, ging zu einem Lehrgang, der die Instandsetzung verschiedener neuralgischer Punkte des sehr wendigen Sechsrad-Transportpanzers Fuchs beinhaltete.

      Die Rekruten Graber, Mohr und Müller aus der Stube 114 nahmen an einem Einführungskurs bezüglich der Verhaltensweisen zwischen Angehörigen der Bundeswehr und afghanischen Einheimischen teil.

      »Das ist eine Taschenkarte, die jeder Rekrut vor Ort bekommen wird«, sagte der Instrukteur.

      Obwohl jeder der Teilnehmer ein solch mehrseitiges Papier vor sich liegen hatte, wurde mit einem Projektor ein Bild einer solchen Taschenkarte an die Leinwand geworfen.

      Taschenkarte

      Zu den Regelungen für die Anwendung militärischer Gewalt

      für die Soldaten und Soldatinnen des Anteils

      International Security Assistance Force

      (DtA ISAF)

      in Afghanistan

      Druckschrift Einsatz Nr. 23 DSKSF 009220133

      »Was Sie dürfen und was nicht, ist in diesem Papier manifestiert«, sagte der Leutnant, der den Kurs leitete. »Lesen Sie also sorgfältig die jeweiligen Einsatzregeln der Taschenkarte durch. Im Punkt drei ist der genaue Ablauf geregelt, wenn Sie meinen, schießen zu müssen, weil Ihr Leben bedroht ist.« Mit einem Stock zeigte der Offizier auf die Leinwand. »Die Anwendung des Schusswaffengebrauchs erfolgt durch einen lauten Anruf, vorwiegend in englischer Sprache United Nations – stop, or I will fire! Da wir es in der Vielzahl