George Tenner

Jenseits von Deutschland


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von willigen Werkzeugen des Regimes gegen ihren Willen dauerhaft sediert wurden, dass man sie mühelos über Monate ruhiggestellt und für psychisch krank erklären konnte.

      Das dritte und jährlich immer wiederkehrende Andenken an den Ort war das an den bekannten Beelitzer Spargel, der freilich mit einer der besten Qualitäten auf dem deutschen Markt aufwarten konnte. Diese Erinnerung war allerdings die unbestritten angenehmste.

      Jerôme Mohr war einen Tag früher angereist, hatte sich den kleinen Ort angesehen, die Heilstätten und schließlich den Eingang der Kaserne in der Husarenallee. Bei der Abfahrt von der Autobahn waren sie an einer Werbetafel für das Landhotel Gustav vorbeigekommen, das nur wenige Meter von der Hauptstraße entfernt im Paracelsusring lag.

      »Hier wirst du die Nacht verbringen, Jerôme«, hatte der Vater versöhnlich gesagt. »Da kannst du dich ausschlafen und morgen in aller Ruhe in die Kaserne einrücken.«

      Es hatte Ärger gegeben, zu Hause in Leipzig. Samuel Mohr baute jahrelang seinen Sohn als seinen Nachfolger für die eigene Schokoladenmanufaktur auf. Was der Großvater Jerômes, Israel Mohr, 1892 begründet hatte, sollte weiterleben. Von Generation zu Generation. Freilich mit einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren, die unfreiwillig durch die Naziherrschaft herbeigeführt worden war und den Großvater 1944 in Auschwitz das Leben gekostet hatte. Dass Jerôme zum Wehrdienst eingezogen wurde, war eine unumgängliche Situation. Aber sich freiwillig für vier Jahre zu verpflichten und sich darüber hinaus zum Einsatz in Afghanistan zu melden, war für den Vater eine nicht zu verzeihende Ungeheuerlichkeit, die zu schmählichen Komplikationen innerhalb der Familie geführt hatte. Böse Worte waren auf beiden Seiten gefallen. Worte, die sie sicher beide schon bereuten. Doch weder Vater noch der Sohn waren in diesen Minuten bereit, den Streit zu begraben.

      Zu gern wäre Jerôme mit seinem eigenen Wagen, einem schwarzen Golf der neuesten Generation mit 140 PS, nach Beelitz gefahren. Aber er hatte nur einige Tage Urlaub bekommen, als man ihn vom Logistikbataillon 461 in Walldürn nach Beelitz in Marsch setzte. Ganze zwei Tage hatte man ihm gewährt und auch nur deshalb, weil das Logistikbataillon 172, dem man ihn auf eigenes Betreiben zugeteilt hatte, nach Mazar-e Sharif in Afghanistan verlegt werden würde. Deshalb hatte Jerôme Mohr auch entschieden, das Fahrzeug zu Hause in Leipzig in der Garage zu belassen. Zu leicht wäre der Wagen ein Opfer möglicher Randalierer geworden, wenn er mehrere Monate unbeaufsichtigt auf dem Parkplatz der Kaserne gestanden hätte.

      Als der Vater wieder in Richtung Leipzig abgefahren war, lieh sich Jerôme im Hotel ein Fahrrad aus, um damit die Stadt zu erkunden. Vorbei ging es an den Heilstätten und der Husarenallee. Die in grau-grüner Tarnfarbe gespritzten Lastkraftwagen, die aus der Kaserne fuhren, zogen für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit an. Sie sahen nicht anders aus als die Wagen der Nibelungen-Kaserne in Walldürn. Die jungen Gesichter in den Führerhäusern nahmen sich auch nicht abweichend aus. Rekruten hatten Einheitsgesichter, die zwischen aufgeblähtem Selbstbewusstsein und Angst angesiedelt waren. Nur wer von den Jungen wie Jerôme in Zivil unterwegs war, konnte den Kasernenmief ablegen und verströmte möglicherweise wissbegierige, gespannte Neugier.

      Er verspürte Hunger. Zeit für eine Mahlzeit, dachte er, als er aus der Berliner Straße in die Mauerstraße einbog. Es ist eine Ringstraße, die um den Innenstadtkern führt, einbahnig mit einem Kirchlein aus Backstein und weißem Turm. An der Kreuzung Mauerstraße zur Treuenbrietzener lag die Gaststätte Zur Alten Brauerei in einem historischen Gebäude. Jerôme stellte das Fahrrad ab, schloss es an und betrat die Gaststube.

      Schwere Eichenhölzer unbestimmbaren Alters stützten die Decken.

      Obwohl es erst früher Nachmittag war, hatte die Wirtschaft einigen Zuspruch. Am Stammtisch saßen eine Handvoll ältere Herren, die sich ungeniert über die Veränderungen der tausendjährigen Stadt unterhielten, die der Ort erfuhr. Es waren Einheimische meist und Patienten der Heilstätten, die ihren Ausgang wahrnahmen, indem sie für eine Zeit in das Leben außerhalb des Krankenhauses eintauchten.

      Deutlich war herauszuhören, dass nicht einhellig die Meinung vertreten wurde, dass die Einheit Deutschlands, die 1989 überraschend über sie hereingebrochen war, einen Segen für die hier verwurzelten Menschen darstellte. Während die Erneuerung und Restaurierung historischer, mittelalterlicher Gebäude gelobt wurde, schalt man die Heuschrecken, die auch hier bemüht waren, Fuß zu fassen und den Einheimischen das Wasser abzugraben.

      An einem der hinteren Tische saßen sechs junge Männer, vier davon in Uniform, zwei in Zivil.

      Jerôme nahm an einem der unbesetzten runden Tische Platz. Er bestellte ein Schweinefilet mit Spargel und ein in eigener Produktion des Hauses gebrautes Bier. Während des Essens war er bemüht, Wortfetzen von dem Tisch aufzufangen, an dem die Rekruten saßen. Offensichtlich schmeckte den jungen Männern das heimische Bier, und so war nach kurzer Zeit der Anstieg des Lärmpegels nicht zu überhören. Und auch hier gab es eine heftige Diskussion. Diesmal war es ein Pro und Contra über den Afghanistaneinsatz.

      »Wir werden es diesen mittelalterlichen Banausen schon zeigen«, ließ sich einer der Männer großmäulig vernehmen. Ein anderer gab kleinlaut zu bedenken, dass schon mehr als dreißig deutsche Soldaten am Hindukusch gefallen waren.

      »Wir stehen im Norden, nicht im Nordosten, und da ist es relativ friedlich.«

      »An diesem Land haben sich schon Großmächte die Zähne ausgebissen, die Engländer, zuletzt die Russen und jetzt die Amerikaner. Und wisst ihr was? Die Europäer sind dumm genug, da mitzumarschieren! Wir marschieren in den Untergang!«

      »Halt’s Maul, Eddie!«

      »Recht hat er«, sagte einer der beiden Männer in Zivil.

      »Ein Lied! Auf der schwäb’schen Eisenbahn, erste Strophe!«

      Die Kellnerin kam an Jerômes Tisch. »Schmeckt es Ihnen?«

      Sie ist eine hübsche Person, dachte Jerôme, jung, schlank und wirklich gut aussehend. Er dachte an seine eigene Freundin Rachel, die mit ihm Schluss gemacht hatte, weil sie nicht bereit war, sein freiwilliges Engagement innerhalb der Armee mitzutragen. Sie war eine Verwandte des Leipziger Kantors der liberalen Gemeinde, hielt sich schon aus diesem Grund für etwas Besseres. Es hatte ihn schon eine ganze Weile gestört, dass sie war, wie sie war, von sich und ihrer Ausstrahlung mehr als eingenommen. Die Tatsache, dass die Männer hinter ihr her waren wie die Motten um das Licht, überzeugte ihn, dass sie sich bald einer anderen, vielleicht lohnenderen Partie zuwenden würde. Und was Jerôme weiterhin bedrückte, war, dass sie nahezu gleichaltrig waren. Auf Dauer, dachte er, würde die Gesamtkonstellation zwischen Rachel und ihm ohnehin nicht gut gehen können.

      »Jeder hat nur ein Leben«, hatte Rachel gesagt. »Noch bin ich jung genug, habe genügend Chancen und werde nicht versauern, während du den Kriegshelden spielst.«

      Umsonst hatte er ihr nahegelegt, dass das heutige Deutschland auch auf seine Bürger jüdischen Glaubens zählen müsse. Gerade bei der Landesverteidigung. An diesem Tag ging ihre Beziehung zu Ende, und Jerôme entwickelte einen regelrechten Widerwillen gegen sie.

      »Aus einer noch so schönen Schüssel kann man nichts essen, wenn nichts drinnen ist«, hatte seine Mutter mit Hinweis auf Rachel warnend gesagt.

      Rachel war gegangen, und sein eigener Vater hätte fast mit ihm gebrochen. Nun, so weit war es zum Glück nicht gekommen. Viel hatte allerdings nicht gefehlt. Vielleicht war es die Hoffnung, dass Jerôme nach seiner Rückkehr aus dem Kriegsgebiet doch noch für die Übernahme des Traditionsunternehmens zur Verfügung stehen würde, spätestens aber nach den vier Jahren, die sich der Sohn zum Dienst an der Waffe verpflichtet hatte.

      »Schmeckt es Ihnen?«, wiederholte die junge Frau ihre Frage.

      Jerôme schluckte den letzten Bissen herunter. »Danke, ausgezeichnet. Sie können mir bitte einen Espresso bringen und dann die Rechnung. Sie haben doch Espresso?«

      »Ja, natürlich. Einen Espresso und die Rechnung. Gerne doch.«

      Er sah der Frau nach, als diese zum Tresen ging und telefonierte.

      Am Tisch der Rekruten war für kurze Zeit Ruhe eingekehrt. Man diskutierte jetzt leise. Dann