George Tenner

Jenseits von Deutschland


Скачать книгу

Also denken Sie daran: Niemals wird geschossen, ohne vorher zu warnen. Wer ohne Warnung schießt, macht sich strafbar! Wenn allerdings Gefahr für Leib und Leben vorliegt, kann ausnahmsweise anstatt der mündlichen Warnung ein Warnschuss abgegeben werden. Und merken Sie sich eins: Wenn der Taliban dann wegrennt, ist es verboten, diesen fluchtunfähig zu schießen! Hat jemand Fragen dazu?«

      »Ich weiß nicht, wer diese Regeln aufgestellt hat, aber glauben Sie, dass man mit einem solch laschen Vorgehen neue Anschläge verhindern kann?«, fragte einer der Männer aus einem anderen Zug. »Sind das nicht Regeln, die völlig an der Realität vorbeigehen?«

      Ein anderer meldete sich. »Jeder Polizist bei uns in Berlin darf da ja mehr als ein Soldat in Afghanistan. Er darf nämlich jeden flüchtigen Verbrecher, der bewaffnet ist, mit Schusswaffengebrauch daran hindern, zu flüchten.«

      »Das mag sein«, sagte der Instrukteur. »Aber der deutsche Soldat in Afghanistan darf das so natürlich nicht. Daran sollten Sie sich gleich von vorn herein gewöhnen.«

      »Aber das ist doch ein Unding«, warf wieder ein anderer ein. »Diese Regeln sind völlig unpraktikabel.«

      »Woher wollen Sie das wissen?«

      »Von meinem Bruder, der vier Monate in Kunduz stationiert war. Er sagte mir auch unter vier Augen, dass der Verteidigungsminister Jung, ich drücke das mal ganz vorsichtig aus, ein Hasenherz sei, dem es an Mut fehle, die derzeitigen Einsatzbefehle zu ändern.«

      Zustimmendes Gelächter zu dem Gehörten und Diskussionen der Rekruten machten sich breit.

      »Das habe ich nicht zu kommentieren. Ruhe … Ruhe! Die Anweisungen werden von Fachleuten nach bestehendem Recht in dem Einsatzland ausgearbeitet.« Am Gang baute sich der Spieß auf. »Ruhe, verdammt noch mal …!«

      »Eine Frage habe ich noch dazu«, sagte der Mann, der die Diskussionen in Gang gebracht hatte.

      »Bitte.«

      »Die deutschen ISAF-Soldaten sind doch eingebunden in das Gesamtkonzept, das weitgehend von den Amerikanern bestimmt wird. Glauben Sie, dass ein amerikanischer Rekrut erst in die Luft schießt, wenn ein Auto auf ihn zurast oder ein einzelner Mensch mit einem Sprengstoffgürtel auf ihn zuläuft?«

      »Der Gürtel wird kaum zu sehen sein«, rief ein Diskutant in die Runde. »Vielleicht hört man nicht einmal mehr den Knall, wenn es einen zerreißt.«

      »Der deutsche Einsatz im Norden setzt ganz andere Prioritäten als der Einsatzort um Kandahãr. Die deutsche Politik will den friedlichen Aufbau des Landes Afghanistan vorantreiben, und die Bundeswehr soll das flankierend begleiten. Mehr nicht.«

      »Deshalb haben wir bereits über dreißig Verluste zu verzeichnen«, widersprach der Frager.

      »Kein Mensch bestreitet, dass der Einsatz auch im Norden gefährlicher geworden ist. Die Taliban kommen in die Region zurück und kämpfen partisanenartig: schnelle Angriffe aus dem Hinterhalt, ebenso schneller Rückzug. Sie arbeiten in relativ kleinen und Kleinstverbänden, sodass sie schwer aufzureiben sind. Ja, die Anschläge nehmen zu.«

      »Sollte die Entscheidungsebene dem nicht Rechnung tragen und endlich den Kommandeuren vor Ort den Einsatz von Schusswaffen nach eigenem Ermessen zum Schutz des Lebens der eigenen Soldaten gestatten?«, wagte sich Heiner Müller vor.

      »Da stehen Sie mit Ihrer Meinung sicher nicht allein, Soldat, aber die Entscheidung darüber fällt im Deutschen Bundestag. Die Bundeswehr, und das dürfte Ihnen bekannt sein, ist nur ausführendes Organ. In einer Demokratie ist das so geregelt«, sagte der Leutnant.

      »Stimmen Sie mit mir überein, dass das der schwierigste Einsatz überhaupt ist, den die Bundesrepublik in ihrem Bestehen zu bewältigen hat?«, fragte der Gefreite aus dem anderen Zug, der die Diskussion angestoßen hatte.

      »Das ist er ohne Frage.«

      »Glauben Sie nicht auch, dass ein solcher Einsatz zwingend politische Führung erfordert?«

      »Auch das muss ich bejahen.«

      »Gehört nicht zur politischen Führung, dass man rechtzeitig veränderte Situationen erkennt und diese Erkenntnisse dann politisch umsetzt?«

      »Ja, das ist so.«

      »Dies ist durch den zuständigen Minister nicht geschehen. Er hat lange gezaudert. Wichtige Zeit ist verloren gegangen, in der unsere Soldaten bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten im Dauereinsatz waren.«

      Der Instrukteur wusste genau, dass der Mann, der ihn nun vor versammelter Mannschaft in Verlegenheit brachte, recht hatte. Immer wieder hatten die Kommandeure das Ministerium in Berlin davon unterrichtet, dass die Zahl der Soldaten in Afghanistan nicht annähernd ausreiche.

      »Mein Bruder sagte, sie haben so manchen Auftrag nicht oder nur bedingt erfüllen können, weil sich das Einsatzkontingent während des ganzen Einsatzes an seiner Belastungsgrenze befand.« Völlig unbemerkt war ein Oberstleutnant hereingekommen, hatte sich in die hintere Reihe gesetzt und eine Weile zugehört. Jetzt schien ihm die Diskussion zu weit zu gehen.

      »Ich denke, wir sind nicht hier, um über die Möglichkeiten, über genutzte und ungenutzte Chancen zu diskutieren«, sagte er. »Sie sollen hier auf den Einsatz vorbereitet werden. Und dazu ist genau das Papier wichtig, das der Leutnant Ihnen gerade erklärt.« Er schaute den Instrukteur an. »Fahren Sie fort!«

      *

      Am Morgen des kommenden Tages ließ Senz sich von seinem Handy wecken. Nun wäre er an der Reihe gewesen, mit lautem Ruf durch den Flur die Kameraden zu wecken. Alles, was er herausbrachte, war ein leises Krächzen. Er ging zurück und weckte Adam Silarski.

      »Ich kann das nicht, Adam«, sagte er. »Ich kann nicht so schreien, dass die Jungs das hören.«

      »Musst du mich wecken? Ich habe gerade so schön geträumt. Hast du gar kein Selbstvertrauen? Stell dich hin und schreie, was das Zeug hält.«

      »Ich kann das nicht.« Senz war den Tränen nahe.

      Adam schälte sich mühsam aus seinem Bett. Gemeinsam gingen sie vor die Tür und Silarski forderte Christoph Senz auf, es nochmals zu versuchen. Wieder war Senz nur in der Lage, ein leises Krächzen abzugeben, und so übernahm Silarski es wieder, laut schreiend die Kameraden zu wecken.

      »Auf-ste-hen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!« Er zeigte auf den leeren Blechkübel. »Und nun, Christoph, wirf den Kübel durch den Flur!«

      Senz hob den Kübel an, und während Silarski wieder »Auf-ste-hen! Auf-ste-hen! Alle auf-ste-hen!«, schrie, warf er den Kübel zaghaft in den Flur.

      »Glaubst du, dass es Zweck hat, wenn ich dem Arzt heute sage, ich sei schwul?«, fragte Senz Silarski.

      »Warum? Bist du denn schwul?«

      »Nein. Ich will aber unbedingt ausgemustert werden.«

      »Wenn der Arzt selbst schwul ist, wird er den Wink verstehen und es möglicherweise machen. Jedenfalls dann, wenn er dich als Homosexuellen erkennt. Wenn nicht, sehe ich schwarz, weil er dann denkt, du hättest seine Homophilität erkannt und wollest das ausnutzen. Und den stinknormalen Ärzten ist es scheißegal, wen sie diensttauglich schreiben. Da wird das ohnehin nicht ziehen.«

      »Ich habe gestern noch einmal mit meinem Onkel gesprochen, der Allgemeinmediziner mit eigener, großer Praxis in Mecklenburg-Vorpommern ist.«

      »Hat es etwas gebracht?«

      »Nein. Er sagte nur, wenn der Arzt vom Psychologischen Dienst gut sei, würde er meinen Zustand erkennen. Auf das angebliche Schwulsein solle ich lieber verzichten.«

      »Na, siehst du.«

      Inzwischen zeigte das »Unternehmen Weckruf« Erfolg. Die ersten Rekruten gingen zum Waschraum. Silarski und Senz zogen sich in den Raum 113 zurück.

      *

      Nach dem Frühstück gingen Graber und Jerôme Mohr hinunter zum Tor, wo bereits ein Wagen der Fahrbereitschaft