Romy Hofmann

Vom Leben verletzt


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Kind nach der Intensivstation verlegt wurde, nannte sich umgangssprachlich „Normalstation“, aber normal war ein Tag dort keineswegs. Es gab daneben auch sehr heilvolle, wenn auch aufregende Momente: der erste „Ausgang“ mit Leonie im Kinderwagen. Sie hatte die ersten drei Wochen ihres Lebens nie ihre Umwelt draußen kennengelernt. Gelb gestrichene Klinikzimmer, sauber gefilterte und regulierte Luft durch die Klimaanlage auf der Intensivstation, Licht und Schatten, die durch die Jalousien reguliert wurden, wiederkehrende Stimmen des Personals und Pieptöne der Maschinen. Daneben ein Lächeln, ein Grinsen aus Leonies Gesicht. Und später der Entlassungsbericht. Trotz der Überforderung und Panik, die ich an diesem Tag empfand, gab es wohl nichts Schöneres, mit Leonie nach Hause zu fahren und uns dort langsam einzurichten.

      Die regelmäßigen Untersuchungen und Impfungen beim Kinderarzt begleiteten unseren Alltag genauso wie die Medikamentengaben, unruhige Nächte, täglich penible Einträge in Leonies „Tagebuch“ zum Stillen, Wickeln, Wiegen und ihren Aktivitäten. Auch wenn Ängste oder Sorgen dabei gar nicht immer meine Begleiterinnen waren und meine Gedanken bestimmten, war es doch keine ruhige und entspannte Zeit. Kaum blieben mir ruhige Stunden für mich. Natürlich ist auch das Leben mit dem ersten gesunden Kind nicht immer nur entspannt und bleibt die Mutter auch einmal im Schlafanzug und ohne die Haare gewaschen zu haben. Doch diese innere Gewissheit, bald wieder in die Normalität zurückzukehren, wird schon bald die aufgebrachten Meereswellen beruhigen und eine gewisse Gelassenheit herbeiführen. Nie habe ich mich an die Besuche beim Kardiologen gewöhnt, weil es eine so derart angespannte und unangenehme Situation war: Ich sah mein Kind nicht gern leiden, schreien, sich aufregen. Jede Berührung, jeder Ultraschall waren für Leonie eine Qual. Mir brach es das Herz. Auch die Metaphern der Ärzte, mit denen sie Leonies Zustand beschrieben, waren da wenig bestärkend. Ihr Herz sei ein rohes Ei; es bliebe ein Ritt auf der Rasierklinge. Sprache kann sehr starke Emotionen auslösen, ohne dass man solche Bilder bis ins Kleinste aufspaltet und interpretiert. Die Worte und Diagnosen der Ärzte haben oft gesessen, mich getroffen. Und doch, zu Hause zu sein, mit Leonie „nichts“ zu tun, ihr und mir Ruhe zu schenken, sie zu beruhigen, ihr die Welt im Kleinen zu erklären, spazieren zu gehen - das überwand gefühlt so viele Steine und Berge.

      Nach genau zwei Monaten zu Hause wurden wir wieder in der Klinik zur Herzkatheter-Untersuchung aufgenommen. Eine Routine-Untersuchung zur Vorbereitung der zweiten Operation, eigentlich, mit Aussicht auf Entlassung nach drei Tagen. Letztlich verbrachten wir die folgenden drei Monate durchgehend in der Klinik. Das Kuriose dabei war: Wir ließen uns eine Parkgenehmigung der Klinik ausstellen, um als Dauerpatienten, die auch in der Klinik bzw. dem Ronald-McDonald-Haus schliefen, für ein geringeres Entgelt in der Nähe parken zu dürfen. Eine Schwester kam - es war irgendwann im Dezember - zu uns um uns die Bescheinigung für die Behörde auszuhändigen. Ein Blick auf das Datum machte uns zunächst etwas stutzig: bis dahin waren es drei volle Monate! Sollten wir denn nach einer Routineuntersuchung so lang im Krankenhaus bleiben? „Keine Angst, die haben wir nur erstmal bis dahin ausgestellt. Das heißt nicht, dass Sie so lang hierbleiben“. Ok, ich glaubte auch nicht wirklich daran. Dass aber das Datum exakt (!) stimmte und wir also bis zum wirklich letzten auf diesem Zettel angegebenen Tag in der Klinik blieben, gleichte doch im Nachhinein irgendwie einem Wunder. Wenn auch keinem, das wir uns gewünscht hätten.

      Gefühlt verlängerten sich diese drei Monate um das Doppelte oder Dreifache - gern würde ich diese Zeitspanne in Stunden oder Minuten ausdrücken, um nur annährend die tatsächlich gefühlte Dauer mit sämtlichen Höhen und Tiefen zu verdeutlichen - durch die zwei Wochen, die Leonie nach ihrer zweiten Operation mit viereinhalb Monaten an der Herz-Lungen-Maschine (ECMO) am Leben gehalten wurde. Ungern erinnere ich mich an diese Zeit, vielmehr wohl unvollständig. Oft stand ich an Leonies Bett, streichelte ihr Köpfchen und legte meine Hand auf ihren Brustkorb um sie zu beruhigen, um ihre Atmung zu begleiten und ihr meine Aufmerksamkeit zu schenken. Langsam pendelte sich ihre Atmung ein, sie atmete einige Züge selbst und brauchte in dem Moment die Unterstützung der Maschine - „Teufels“- oder „Höllenmaschine“, wie ich sie nannte - nicht. Leonie macht das wirklich gut, denke ich erfreut. Ihr Atem wurde wieder unregelmäßiger, sie ließ sich von der künstlichen Beatmung helfen. Gleich empfand ich wieder eine Unruhe, ich hoffte aber, sie überträgt sich nicht auf Leonie. Was ich wollte, war Ruhe ausstrahlen und ihr Kraft geben. Diese Momente dauerten zwar gemessen nicht lang, und doch fühlte ich durch die Addition von Anstrengung und Erleichterung Stunden verstreichen. Es waren Stunden, bis hin zu Tagen, die so und ähnlich verliefen, angereichert mit Gesprächen zwischen Schwestern, Ärzt*innen und Eltern, kleinen Freudenmomenten, genauso wie Rückschlägen. Dazu zählten auch die zwei Versuche, Leonie von dieser ECMO zu befreien, die aber nicht erfolgreich waren. Es waren Leonies Zeichen uns zu sagen, dass sie noch zu schwach war, vielleicht auch schon, dass ihr Herz gar nicht mehr genug Kraft hatte, um den Lebensaufgaben allein gerecht zu werden. Wie enttäuscht ich war - ohne aber wirklich auf Leonie zu hören. Ich war zu sehr davon überzeugt, dass es doch normal weitergehen konnte. Aber normal war dieser Zustand, waren diese Umstände schon nicht mehr. Ich hielt an Leonie fest. Nach außen hin schien es wohl so, als ob in der Zeit nichts voranging. Entsprechend erreichten uns so merkwürdig anmutende Fragen von Außenstehenden wie „Wisst ihr schon, wann ihr wieder zu Hause seid?“; so, als wäre der Bus an einer Haltestelle und müsse ja seinen Fahrplan erfüllen und unverzüglich weiterfahren oder Ersatz schicken. Dass es aber an einem oder zwei Tagen auch mal nicht offensichtlich vorangehen konnte, das war - verständlicherweise - zunächst gar nicht denkbar für Andere. Schließlich wollte ich ja auch, dass es Neuigkeiten gibt, wenn ich früh zu Leonie auf die Intensivstation kam und gleich eine Schwester nach Auffälligkeiten in der Nacht und dem geplanten Vorgehen am Tag befragte. Dass sich aber Leonie nicht äußerlich-offensichtlich verwandelte, ihre Narben nicht auf einmal sichtbar verheilten, sondern sie innen drin so viel vollbrachte, ihr Körper metaphorisch gesprochen Arbeit für ein Jahr vor sich hatte, welche innerhalb von einem Monat zu verrichten anstand, das war vielleicht wirklich nur Ärzt*innen bewusst. Oft erzählten mir Schwestern, dass es Leonie ja bereits besser ging, dass sie beispielsweise nachts nicht mehr so unruhig war. Das waren für mich echte Fortschritte. Und im gleichen Moment wusste ich doch, dass ich nie auch nur alle Details erfahren würde, weil man in so einer Verfassung, wie ich es war, wahrscheinlich gar nicht in der Lage wäre, die Fakten zu ertragen. Weiterhin lernte ich in der Zeit, dass auch Ärzt*innen sich irren können. Sie können nicht in den Menschen schauen und vorhersagen, was mit einer Operation tatsächlich verändert wird, welchen Verlauf sie nimmt. „Tempo und Richtung bestimmt das Kind“ war ein oft von ihnen geäußerter und in meinen Ohren erklingender Satz. Wie viel Wahrheit doch dahinter steckt.

      HILFE UND AUSZEITEN

      Ich habe in der Klinik begonnen, so etwas wie ein Tagebuch zu schreiben. Auch das gehörte zu den kleinen „Auszeiten“ am Krankenbett meiner Tochter. Manchmal hatte ich jedoch nicht die Kraft (Was heißt Kraft eigentlich?) den Stift in die Hand zu nehmen. Wollte der Gedanke wiederkommen, tat er das. In einem anderen Moment. Nach Leonies Tod habe ich die Seiten des kleinen Büchleins herausgetrennt, um sie in ein neues blanko Buch zu kleben und wiederum darauf zu antworten; ich habe Erfahrungen ergänzt, mit kleinen Zeichnungen und später auch Bildern gefüllt. Dabei sind ganz unterschiedliche Formate entstanden. Ich erzähle von Tagen, die ich als kleine Glücksmomente erlebt habe, zwei Monate nach dem Tod; von Symbolen, die mir unendlich Halt gaben; den Menschen, wie sie mit uns umgingen. Manchmal erscheinen selbst meine eigenen Worte und die früher gefühlten Gefühle paradox. Das ganze Leben. Ja, ich verstehe mich manchmal im Nachhinein selbst nicht. Aber das Schreiben war und ist mir immer noch eine große Hilfe.

      Es gab Momente, in denen ich auch gar nicht mehr Hilfe gebrauchen und annehmen konnte. Angehörige und Freunde „meinten es gut“, wenn sie auf einen Besuch im Krankenhaus vorbeikommen wollten. Viel mehr, so ehrlich muss ich sein, haben sie oft auch nicht tun können. Aber irgendetwas stimmte daran nicht. Ich freute mich wirklich selten, wenn sich Besuch ankündigte. Wieso? Ich lebte in einem Krankenhaus. Aber nicht als Patientin, sondern Mutter meiner schwer herzkranken Tochter. Und dort lebte ich in einer sehr eigenen, einer ganz anderen Welt. Dass Freunde und Bekannte zu Besuch kamen, um Hallo zu sagen und Leonie zu sehen, das kam mir absurd vor, konnte es aber damals noch nicht angemessen einordnen. Auch wenn ich diese Metapher etwas hart finde, aber einem Besuch in einem Zoo kam die Situation