Romy Hofmann

Vom Leben verletzt


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in vielerlei Hinsicht. Ich habe eine so intensive Bindung noch nie erlebt und selbst ausgefüllt. Erst mit und durch Leonie war mir das möglich. Doch auch heute noch fällt mir das in-Worte-fassen schwer, da die Abgrenzung zwischen einer Alltäglichkeit und Besonderheit - eine Mutter und Mutter eines schwer chronisch kranken Kindes zu sein - gefühlt fließend verläuft und ich Aufgaben und Verantwortung als Mutter von Leonie vollbracht habe, ohne bewusst zu unterscheiden, was denn normal und was anders war, oft auch aus dem einfachen Grund, dass ich es nicht wusste. Verletzlich und brüchig war diese Beziehung selten, weil ich zu geben alles vermochte. Die Aufopferung empfand ich nie einseitig; was ich von Beziehungen zu anderen Personen nicht immer behaupten kann. Verletzlich war die Bindung zu Leonie aber dennoch, weil ich mich verletzlich fühlte: nach einer fast schlaflosen Nacht, nach acht Stunden von frühmorgens an, in denen sich Leonie kaum wirklich beruhigen ließ und ich immer noch im äußerst bescheidenen Antlitz in den vier Wänden umherwandelte. Aber auch das konnte die Besonderheit unserer Beziehung nicht erschüttern. Hinzu kommt dieses Band, das ich über den Tod hinaus mit Leonie aufrechterhalte und wiederum außergewöhnlich wahrnehme.

      In der intensiven Bindung zu Leonie ist mir der außerordentliche Wert der Eltern, meiner Eltern besonders deutlich geworden. Wertvoll sind die eigenen Eltern, das weiß man selten auszusprechen noch zu denken, zumindest mit weniger emotionaler Intensität und begründet. Sicherlich, es sind (Extrem-)Situationen, in denen wir nicht allein klarkommen (wollen, müssen, können), die uns diese Bindung anerkennen lassen, weil dann Eltern oft „da“ sind. Doch die Bindung zu den Eltern besteht ja trotzdem, wie ein unsichtbares Netz, das uns hält und das auch Lücken haben kann. Über Jahre hinweg wird ein solches Netz aufgebaut, ob monetär oder ideell auf sehr unterschiedliche Weisen. Es gibt unzählige verschiedene Eltern-Kind-Beziehungen und keine wird der anderen gleichen. Ich schätze meine Eltern aufs Höchste, da sie auch ohne (viele) Worte, ohne Gegenleistungen zu fordern, als ein Teil meines Schutzschildes für mich da sind. Ich glaube als Eltern eigener Kinder sind sie auf eine einzigartige Weise mit den Kindern ihrer Kinder verbunden. „Groß“-Eltern, da steckt ein Teil der Bedeutung schon im Begriff selbst. Großeltern sind größer im Sinne von älter, stehen an räumlich gesehen höherer Stelle im Stammbaum als die (Enkel-)Kinder. Aber groß-artig ist eben auch die Beziehung selbst. Oft werde ich beim Anschauen eines speziellen Fotos daran erinnert: Es war ein Besuch an einem schon frühlingshaften Tag und meine Eltern hatten mir Leonie für einen Spaziergang abgenommen. Anschließend saßen wir draußen bei Kaffee und Kuchen, Leonie bei ihrer Oma auf dem Schoß. Beide strahlen etwas sehr Intensives, Eigenes aus, das ich kaum zu beschreiben in der Lage bin. Es ist ein bezauberndes Bild, kommt ohne große Deko aus. Zwei Menschen, die zufrieden sind. Es scheint ein Glück von unaussprechlicher Bedeutung. Was für ein Moment! Am gleichen Tag entstanden weitere solcher Fotos - mein Vater hat ein Händchen dafür. Ja, so war Leonie, es war ihre Art. Ich bin so dankbar für diese Fotos - neben den unzählig vielen anderen, die uns Leonie geschenkt hat. Ich bin dankbar solche Eltern zu haben.

      Kapitel 2 - Die Blicke erweitern

      Leonie war lange Zeit meines (und ihres) Lebens der un-umkämpfte Mittelpunkt, um den sich für mich alles drehte, auch wenn die Zeit einmal stehen blieb, langsamer und schneller voranschritt, vor, zurück, zur Seite, nach oben und unten. Wir breiteten uns in einer Art dreidimensionalem Koordinatensystem aus, das für uns aber keine x-, y- und z-Achsenbezeichnungen besaß. Die Zeit erlangte auch eine Tiefe in viele Richtungen, Höhen, die gleichzeitig seitwärts verliefen. Vorgegebene Wege haben wir, falls einmal betreten, sodann auch wieder verlassen. Es gab solche Fixpunkte, die in meinem Gedächtnis noch sehr präsent sind und markantere Punkte im Koordinatensystem markieren würden.

      Sprache - Ein machtvolles Werkzeug

      Neben dieser sehr bildlichen Vorstellung und Beschreibung mithilfe von Sprache gelang ich aber auch oft an deren Grenzen. Ich wurde sprachlos oder konnte keinen Sinn aus den Äußerungen anderer ziehen. Einige solcher Missverständnisse im weitesten Sinne werde ich noch ansprechen. Sie kennen sicherlich alle diesen Ausspruch „Es sieht gut aus“ (auch in abgewandelter Form): Sie sind beim Arzt, der Ihnen Ihre Blutwerte erklärt und die ein gesundheitlich unbedenkliches Bild zeigen; ein Essen, das appetitlich und üppig aussieht und zum Verspeisen einlädt; der Nachbar, der sich nach einer Krankheit scheinbar wieder erholt hat und äußerlich auch einen solchen Eindruck macht. Wenn ich so darüber nachdenke - und das tat ich eines Tages; ich war gerade beim Arzt, der sich ein Bild von mir machte - ist dieser Ausspruch „Es sieht gut (oder schlecht oder anders) aus“ doch so gehaltlos und unbestimmt. Was sehen wir denn tatsächlich auf dem Zettel, der gedruckte Zahlen und Buchstaben enthält? Zahlen, Buchstaben, Messwerte… Sehen sie gut aus? Nein, es ist lediglich die Interpretation der Werte, die auf meinen Körper übertragen werden und damit ein solches Bild ergeben. Außerdem können wir uns auch sehr schnell „versehen“, falsch sehen, etwas übersehen. Die Tätigkeit des Sehens, im übertragenen Sinne, objektiviert viele Umstände und auch Gefühle: Blutwerte werden zwar auch in einem bestimmten Bereich innerhalb von Grenzen ermittelt, aber welche Bedeutung liegt tatsächlich darin? Muss eine Zahl genau in der Mitte liegen? Was, wenn mein Wert genau auf der Grenze liegt? Dieses Sehen ist damit anfällig für Lücken, weil es die Person oder den Gegenstand, der gesehen wird, nur äußerlich betrachtet, objektiviert, verdinglicht. Eine Messung meines Körpers muss nicht meinem subjektiv gefühlten Zustand entsprechen; erst der Genuss eines Essens wird meine eigene Bewertung des Geschmacks offenbaren und mit dem Aussehen abgleichen können. Und ob sich der Nachbar tatsächlich so gut fühlt wie er aussieht, auch das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Dem Essen wird unsere Einschätzung egal sein; dem Koch wohl eher nicht.

      Und so habe auch ich den ein oder anderen Moment erlebt, in dem mir das äußerliche Sehen anderer Personen weh tat, weil ich merkte, dass sie nicht einmal hinter die Fassade geschaut oder mich zu meinen tieferen Empfindungen befragt hatten. Ob etwas gut aussieht oder gut klingt - das sollte mit einem erweiterten Blick beurteilt werden. Es ist etwas ganz Grundlegendes, damit sich Menschen verstehen können. Und darum soll es in den folgenden Abschnitten auch gehen.

      SPRECHEN UM ZU VERSTEHEN

      In so kurzer Zeit wurden so unendlich viele Worte gewechselt, gedacht, nicht ausgesprochen, umformuliert… Worte stehen nie allein da. Sie haben stets eine*n Absender*in und Empfänger*in. Auf dem Weg zwischen ihnen können sich Botschaften verändern, verkürzen oder verlängern. So wahrnehmbar Worte im Sprechen sind, so unsichtbar scheinen sie zugleich. Vielleicht unsicht-, aber spürbar hingegen sind Schwingungen, Gefühle, Spannungen, die mit Worten übertragen werden. Absender*in und Empfänger*in strahlen diese aus, vermitteln sie. Jede*r von uns hat das schon oft im Alltag erfahren. Trotzdem bleibt Kommunikation unter vielen Menschen ein „reiner“ Wechsel von Worten und Gedanken. Kein Austausch, kein tieferes Verstehen.

      Mir wurde besonders in der Zeit mit Leonie wenn auch nur ein kleiner Teil der Tragweite von Sprache bewusst. Es war ein durch und durch praktisches Erfahren und Ausprobieren von Sprache. Ja, ich wusste theoretisch, dass das Sprechen etwas sehr Wichtiges zwischen Menschen und beispielsweise auch bedeutsam für das Lernen in der Schule ist. Sprache vermittelt Inhalte nicht nur neutral, denn daneben spielt auch der Kontext der Entstehung und Äußerung einer Aussage eine Rolle im (Miss-)Verstehen. Sprache schafft Wirklichkeit, sie stellt sie erst her. Das heißt, dass wir mit Worten und Sätzen immer neue Realitäten erschaffen, uns und andere darin verorten und ein und derselbe Satz oder -bestandteil zu zwei unterschiedlichen Momenten auch zwei ganz verschiedene Bedeutungen haben kann. Man denke nur an das Wort Hund: einmal ist es das treue Haustier, ein andermal dient es als Schimpfwort - je nach Kontext. Alle Beteiligten einer Kommunikationssituation müssen dabei eine Übersetzungs- bzw. Interpretationsarbeit leisten. Worte bauen aber nicht nur Brücken, sondern können auch Mauern schaffen. Gesellschaftliche Diskurse sind dafür ein Paradebeispiel. So nähren Meldungen über Krisen, Natur-, Atom-, Hunger- und andere Katastrophen Ängste in der Bevölkerung, auch wenn Gefahren ja nicht offensichtlich am eigenen Leib oder anderweitig zu spüren sind. Aber durch Sprache wird eine Situation geschaffen, eine Wirklichkeit hergestellt. Und so kann