Romy Hofmann

Vom Leben verletzt


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sondern missverstanden. Das hatte nichts mit den Menschen zu tun. Aber schon da fand eine Abgrenzung zur „Außenwelt“ statt, da ich das Gefühl entwickelte, nicht verstanden zu sein. Die Besucher*innen konnten sich nicht in den Alltag der Klinik hineinversetzen. Mir fällt es heute noch schwer zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe. Ich habe noch einzelne Szenen sehr präsent - oft die sehr angenehmen als auch die sehr unangenehmen. Im Zusammensein mit meinen Eltern fühlte ich mich stets geborgen. Ich fühlte eine Last abfallen, wenn ich Leonie einmal in ihre Hände geben konnte und meine Aufmerksamkeit für einen Moment woanders sein durfte. Ich hatte das Gefühl, mich nicht doppelt sorgen zu müssen, wenn ich Leonie aus meinen in andere Hände gab. Sich verstanden zu fühlen, auch wenn einem die Worte fehlen oder gar nicht nötig sind, ist ein so seliges Gefühl, eine Wohltat sondergleichen. Wahrscheinlich haben nicht alle Menschen das schon einmal behaupten können. Verstehen findet auch auf der Handlungsebene statt. Das Gegenteil tut entsprechend richtig weh. Ab und an kam mir der Vorwurf zu Ohren, ich würde in bestimmten Situationen absichtlich „fliehen“, wenn sich Besuch angekündigt hatte. Dann war mein Mann bei Leonie und dem Besuch und ich konnte das Umfeld der Klinik einmal kurz verlassen. Aber noch einmal: Wenn ein Besuch als Hilfe angeboten und gedacht war, dann doch auch, um mich damit unterstützen zu wollen. Für mich war es eine Hilfe, dann einfach mal Pflichten in andere Hände zu übergeben und Zeit für mich zu finden. Wie auch immer das aussah. Und wenn ich mit dem Auto kurz nach Hause fuhr, mir etwas Gutes tat, indem ich einkaufen ging… Missverständnis. Aber ich konnte und wollte mich in der Lage einfach nicht rechtfertigen. Dafür hatte ich keine Kraft. Das konnte ich nicht.

      „NICHT MEHR KÖNNEN“

      Es gab einen Zeitpunkt, einen Tag, an dem ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr konnte. „Nicht mehr können“ - das wird so oft so einfach daher gesagt. Wann aber kann man denn nicht mehr? Und vor allem: Was kann man nicht mehr? Laufen? Sitzen? Sprechen? Fehlt in einem Satz eine solch nähere Bestimmung dieses Zustands, wirkt es noch einmal mehr erschlagend und hilflos. Wenn ich nicht mehr sitzen kann, stehe ich auf. Was aber, wenn ich nicht mehr kann? Gar nichts mehr? Ich musste nicht 70 Stunden in der Woche arbeiten, keine 30 Vorträge auf Tagungen halten. Aber ich habe Tag für Tag, zwei Monate lang, auf der Intensivstation am Bett meiner Tochter verbracht, der ich - „verkabelt“, medikamentös höchst penibel eingestellt und überwacht, beatmet - von meiner Liebe und Zuneigung gar nicht genug geben konnte. Es ist anstrengend, früh aufzustehen, seinen Essenszettel in der Cafeteria der Klinik abzugeben, schnell zu frühstücken, auch ohne Hunger, oder mal viel, den Vormittag bei Leonie zu sein, später vom dritten Stock ins Erdgeschoss zu kommen, schnell Mittag zu essen, wieder in den dritten Stock zu gelangen, mit Ärzt*innen und Schwestern zu sprechen, dem eigenen Kind und sich Mut zu machen, später wieder nach unten zum Abendessen zu stürmen, um danach wieder gemeinsam der Dunkelheit zu trotzen, eine Melodie zu singen, Worte auszusprechen, sich auf den Plastikstühlen zurückzulehnen, um irgendwann in ein Bett zu fallen und einem neuen Tag ins Auge zu blicken. Routine wurde das nie. Meine eigenen Gefühle sind daran schuld gewesen. Am Tag, an dem ich nicht mehr konnte, ein Samstag - Leonie war immer noch von der Herz-Lungen-Maschine abhängig - sprach mich ein Oberarzt an, dass ich doch heute sicher einmal an der frischen Luft einen Spaziergang machen wolle, vielleicht in Richtung Westen der Stadt, um ein paar Störche zu beobachten. Ja, Ärzt*innen kennen sich auch geographisch in der Umgebung ihres Arbeitsplatzes aus und meinen es gut mit den Angehörigen. Es war wohl an der Zeit, kurz der Starre zu entkommen. Weiter als an den Eingang der Innenstadt habe ich es an diesem Tag nicht geschafft. Es sollte dann doch einfach das Zimmer auf Zeit im Ronald-McDonald-Haus sein, in dem ich eine Stunde auf dem Bett lag und mich vor einem Zusammenbruch schützte.

      Dieses „(nicht mehr) Können“ impliziert immer auch einen Kampf. Wie oft wurde dieses Wort, in Abwandlungen, als Verb und Adjektiv, in meiner Gegenwart verwendet; von Ärzt*innen selbst, Angehörigen, anderen Patient*innen usw. Ja, die Kinder haben „gekämpft“, es ist eine scheinbar unmissverständliche Metapher um Strapazen zu beschreiben. Den innerlichen Kampf aber wird wohl kaum ein Mensch nachvollziehen können. Ist es dann gerecht zu sagen, dass ein Kind gekämpft hat, auch wenn es „den Kampf“ verloren hat? Ein „Kämpfer“ sein heißt auch, stark zu sein. Es bedeutet, dass es immer auch einen Gewinner (neben einem Verlierer) gibt. Stärke äußert sich aber nicht immer nur im Sieg, der hier mit dem Leben belohnt wird. Neben den Ärzt*innen, Schwestern und Eltern war es Leonie, die tatsächlich gekämpft hat. Ihr Kampf sah nur anders aus und er endete anders - zwar mit der Überwindung der Krankheit, aber ohne ihr Leben damit fortsetzen zu müssen.

      Bindung & Halt

      Es musste nicht „das alles“ mit Leonie in meinem Leben passieren, um mich zu dem Menschen zu machen, als der ich gerade erscheine. Vielleicht wäre es ein Urlaub in einem fernen Land gewesen, eine Begegnung mit einem wundersamen Lebewesen… Und doch ist gerade das Erleben eines so menschlichen Schicksals verknüpft mit einem wesentlichen Merkmal unseres Lebens, einer Fähigkeit, welche neben den Menschen auch einige Tiere und Pflanzen, in anderer Form vielleicht, einzugehen vermögen: Bindungen.

      Menschen sind auf ganz viele unterschiedliche Weisen miteinander verbunden. Oft wissen, aber merken wir das nicht einmal. Eine (Ver-)Bindung hat auch stets mit Abhängigkeiten zu tun. Eine Abhängigkeit ist dabei nichts ausschließlich Negatives; sie geißelt und fordert uns nicht nur. Wie ein unsichtbares Netz werden wir durch unsere Bindungen im Alltag festgehalten und erfahren Geborgenheit, Zuneigung, Aufmerksamkeit. Diese Beziehungen gehen wir bewusst oder unbewusst ein, erhalten sie unterschiedlich stark am Leben und aktivieren sie in Momenten, in denen wir sie besonders nötig haben. Daneben existieren Bindungen auch „einfach so“. Das macht es uns Menschen gefällig und bequem. Gleichzeitig aber können solche Bindungen auch schnell und unverhofft brüchig werden und ihre Verletzlichkeit offenbaren.

      Der Aufbau einer Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind findet bereits sehr früh im Mutterleib statt. Auch wenn ich keine Expertin in diesem Feld bin, so kann ich erfahrungsbasiert feststellen, dass es eine stetige Entwicklung ist, in der sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind behutsam aufbaut und gleichzeitig wandelt. Hierbei sind es vor allem die spürbaren Veränderungen, erste Bewegungen oder auch ein Ultraschall, der der Mutter und den Eltern ihr Kind näher bringt. Ich habe mit Leonie gesprochen, habe sie mir vorgestellt, sie mit in meinen Alltag eingebunden. Dabei wage ich zu behaupten, Leonie nie außergewöhnlich behandelt zu haben, doch mit erhöhter Vorsicht. Als schützenswertes Wesen galt Leonie in bestimmten Momenten meine ganze Ausdauer, meine Entschlossenheit, mein Ehrgeiz - sowohl im Mutterleib als auch später im Alltag. In der Zeit, die wir mit Leonie in der Klinik verbracht haben, versuchte ich diese Bindung aufrecht zu erhalten, trotz der Umstände, der Widrigkeiten und eines nicht „Bilderbuch-ähnlichen“ Zusammenseins zu Hause. Es blieb aber auch hier stets eine Wechselwirkung: die Annäherung fand nie ohne Abgrenzung statt. So sehr ich mich auch Leonie, ihren Schmerzen, ihrem Schreien, ihrem Lachen hingab, so musste ich mich davon abgrenzen, da ich im Sinne des eigenen Schutzes nicht alles auf mich nehmen konnte. Nie habe ich eine Mauer gebaut, durch die mich Leonie in dem einen oder anderen Moment nicht leiden sah. Aber es waren Momente, in denen ich Verantwortung bildlich gesprochen an Ärzt*innen oder imaginäre Konstrukte abgab, wenn sie ihr Schmerzen erleichtern sollten; an meinen Mann, der Leonie beruhigen sollte. Auch diese Abgrenzung hat unsere Bindung gestärkt; hat mir geholfen, einen Schritt zurückzutreten um wieder zwei nach vorn zu gehen. Es ist mehr als ein Band entstanden, das zwei Menschen miteinander verbindet und sie für immer festhalten mag. Es ist wie ein großes Gebäude, ein Schloss, das immer wieder neue Zimmer offenbart beim Durchlaufen, das zum Ausruhen und zur Bequemlichkeit einlädt, genauso wie es Arbeit bedarf, Umordnung bedeutet und sich so stets kleineren oder größeren äußerlichen wie innerlichen Veränderungen gegenübersieht. Die Bindung zum eigenen Kind ist dabei sicherlich eine spezielle, die sich von anderen unterscheidet. Von klein auf werden Menschen in Beziehungen verwickelt und lernen, sich anderen Menschen gegenüber zu verhalten - beispielsweise so, wie es die Eltern wollen, wie sie selbst es wollen oder wie andere es wünschen. Dieser Lernprozess prägt auch spätere Bindungen. Nie aber sind solche Muster so schematisch gelernt wie das Alphabet oder die „Punkt-vor-Strich-Regel“ in der Mathematik. Wir müssen uns auch darauf einlassen können, ohne zu wissen, was dabei passieren