Juliett L. Carpenter

Die Wächter der Insel


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wenn er hier notwassern musste. Wenn er das Aufsetzen überlebte und gut rauskam, hatte er eine Chance. Garantiert fuhren hier jede Menge Schiffe entlang, er war sich ziemlich sicher, dass er in der letzten Stunde mindestens einen Kahn gesehen hatte. Newcastle Tower hatte ja seine Position und würde jeden, der in der Nähe war, zu ihm schicken. Selbst wenn sie ein Stück weg waren, konnte es nicht länger als einen Tag dauern, bis sie ihn auffischten. Das konnte man durchhalten, das Wasser war nicht besonders kalt. Aber was war mit den Haien?

      Er nahm das Mikrophon. "Sagt mal, wie lange wird es dauern, bis ein Schiff bei mir ist?"

      Täuschte er sich, oder zögerte Newcastle Tower mit der Antwort?

      "Wir forschen noch nach und sagen Ihnen sofort Bescheid, wenn wir Kontakt mit jemandem in der Nähe haben ..."

      "Moment mal, was soll das bedeuten?"

      "Ihr Kurs liegt abseits der Hauptrouten", sagte der Controller. "Könnte noch eine Minute dauern, bis wir jemand gefunden haben. Aber machen Sie sich mal keine Sorgen."

      Es fiel Robin schwer, das zu beherzigen. Kein Schiff in seiner Gegend! Konnte es sein, dass es wirklich vorbei sein sollte? Begannen gerade die letzten Stunden seines Lebens?

      "Wie geht´s Ihrem Motor?" ertönte die nüchterne Stimme von der Küste in seinen Kopfhörern. "Je länger Sie in der Luft bleiben können, desto besser."

      Robin hätte beinahe gelacht, obwohl ihm nicht danach zumute war. Über dem Festland konnte er ein Flugzeug ohne Motor den ganzen Tag in der Luft halten – eine halbe Tonne weißes Fiberglas auf Luftströmungen zu balancieren war sein größtes Talent. Doch hier über dem Ozean hatte er keine Chance. Er glitt dem Abgrund entgegen, sah genau, was auf ihn zukam, und konnte nichts dagegen tun, nichts. Diese Hilflosigkeit war vielleicht das Schlimmste daran. "Das Scheißding läuft noch, aber mehr schlecht als recht. Was ist denn jetzt mit diesen verdammten Schiffen? Soll ich auf einen anderen Kurs gehen?"

      "Negativ, negativ. Wir haben noch niemanden gefunden. Bleiben Sie auf dem alten Kurs und versuchen Sie, noch eine Weile durchzuhalten."

      Nervös suchte Robin das Meer unter ihm nach dem V-förmigen Muster ab, das ein vorbeifahrendes Schiff verraten würde. Seine Augen brannten von der Anstrengung, auf der glitzernden Wasseroberfläche etwas zu erkennen. Aber da war nichts, er flog über eine menschenleere Wüste. Und sein Motor quälte sich – gerade in diesem Moment hustete er durch eine Serie von Aussetzern, obwohl Robin ihn hätschelte wie nie zuvor eine Maschine, ihm gut zusprach, andere Einstellungen ausprobierte.

      Robin zwang sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. "Ich fürchte, lang macht´s die Kiste nicht mehr. Haben Sie Search & Rescue schon Bescheid gegeben?"

      Robin wusste, dass er den Controller nervte. Aber er wusste auch, dass sie bald Funkverbindung verlieren würden, und klammerte sich an jedes Wort.

      Es war heiß im Cockpit der Cessna 150, und es schien mit jedem Augenblick heißer zu werden. Der Steuerknüppel war glitschig geworden vom Schweiß seiner Hände, und sein T-Shirt war klatschnass.

      Fluchend kramte Robin nach der Schwimmweste, er musste sich abschnallen, um sich die Weste anziehen zu können. Er wünschte, er hätte daran gedacht, ein aufblasbares Rettungsboot mitzunehmen – das wäre viel nützlicher gewesen und hätte ihn wenigstens gegen Haie geschützt. Warum hatte er Peter überhaupt versprochen, seine verdammte Cessna zu überführen? Und warum war er nicht einfach umgekehrt, als er gesehen hatte, dass die kleine Kiste vernachlässigt aussah? Er hatte sich darauf verlassen, dass Peter sie wie versprochen hatte durchchecken lassen. Der Motor hatte ja auch einen ganz guten Eindruck gemacht. Trotzdem – er hätte es besser wissen müssen!

      Im Cockpit der Cessna ertönte ein knirschendes Geräusch, als der Motor endgültig abstarb, der Propeller verwandelte sich von einer fast unsichtbaren Scheibe wieder in ein schmales schwarzes Stück Metall. Das stetige Dröhnen wich dem leisen Zischen der Luft um den Rumpf, das Robin aus Tausenden von Stunden von Segelflug so gut kannte. Jetzt bekam er von diesem Geräusch nur eine Gänsehaut.

      Die Stimme von der Küste war immer schwerer zu verstehen, je tiefer die Cessna glitt. Eine Minute später brach die Übertragung ab – die Station war unter dem Horizont. Robin schaltete das nutzlose Funkgerät aus. Er schwitzte, und doch fühlte sich sein ganzer Körper eiskalt an.

      Neunhundert Fuß, achthundert, siebenhundert zeigte der Höhenmesser; gleichmäßig und unerbittlich kreisten die Zeiger um die Skala und bewegten sich auf die Nullmarke zu. Wie ein gigantisches Heer marschierten die Wellen unter ihm entlang, er konnte schon den Schaum auf ihren Kronen erkennen. Gleich musste er sich ihnen ausliefern.

      Robin blickte auf und kniff die Augen zusammen – da vorne auf seinem Kurs war doch etwas. Eine sehr, sehr dünne rauchblaue Linie dort, wo sich Meer und Himmel trafen. Konnte das Land sein? Das war wohl Wunschdenken! Auf der Karte war in dieser Gegend kein Fußbreit Erde eingezeichnet. Es musste eine Regenfront sein oder einfach der Horizont im Dunst ...

      Lautlos glitt das kleine rot-weiße Flugzeug wenige Meter über der glitzernden Oberfläche des Ozeans dahin. Immer träger flog es, behutsam bis zur Mindestgeschwindigkeit verlangsamt. Gischt spritzte auf, als das Fahrwerk die Wellen berührte. Als der plötzliche Widerstand des Wassers sie abbremste, versuchte die Cessna sich zu überschlagen. Aber das Meer ließ ihre Räder schon nicht mehr los. Der Rumpf sackte sehr schnell ab; nur die großen flachen Flügel hielten ihn noch einen Moment lang an der Oberfläche. Dann zog der schwere Motorblock ihn in die Tiefe, mit der Schnauze voran begann die Maschine zu sinken. Einen Moment lang konnte man die Umrisse des weißen Flugzeuges durch das klare Wasser noch erkennen, dann sank es ins Blau hinein und verschwand ohne eine Spur.

      2. Kapitel

       Zwei Tage zuvor

      Im fünften Stockwerk eines klobigen Bürohochhauses in Sydney flötete das Telefon. Keine Minute lang kann man sich in Ruhe auf seine Arbeit konzentrieren, dachte Lindy erbittert und schnappte sich den Hörer. "Lloyd Andrews Limited, Deggendorf am Apparat."

      "Hallo Lindy, hier ist Robin Cameron."

      Sie erkannte seine Stimme sofort, auch nach all den Jahren, und ihr Gehirn brauchte ein paar Sekunden, bis es sich von dem plötzlichen Stromstoß erholt hatte.

      "Lindy, bist du noch dran?"

      "Ja, ja. Aber ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ... Wieso rufst du an?"

      "Wollte nur mal hören, wie´s dir geht."

      Ach, er will nur mal hören, wie es mir geht, dachte Lindy bissig. Auf einmal. Sie ärgerte sich darüber, dass ihr Puls raste wie nach einem Sprint.

      "Gut geht´s mir, na ja, ich bin jetzt bei Lloyd Andrews im Marketing ... hast du ja schon gemerkt ... äh, ich bin jetzt stellvertretende Produktmanagerin für eine neue Seifenmarke ... interessante Sache, macht mir Spaß ..." Hör auf, du redest bloss Schwachsinn, dachte Lindy und knetete abwesend ihre Stirn. "Und wie läuft´s bei dir? Arbeitest du immer noch auf diesem Buschflugplatz?"

      "Ja, man schlägt sich so durch. Hör mal, ich bin nächstes Wochenende in deiner Gegend. Hast du Lust, mit mir was Essen zu gehen?"

      "Nächstes Wochenende?" Lindy blätterte in ihrem Terminkalender, erinnerte sich an die Party am Sonntag und daran, dass sie am Montag die Unterlagen fertig haben musste, zog eine Grimasse, entschied sich, nahm den Hörer wieder. "Nächsten Samstag ... hm ... um acht?"

      "Okay. Im Champs Elysées – falls es das noch gibt."

      "Ich glaub schon. Na, dann bis Samstag."

      Als sie auflegte, bemerkte sie, dass Tom, der andere Junior im Marketing, sie von seinem Schreibtisch schräg gegenüber grinsend beobachtete. Ich wette, er hat sich kein Wort entgehen lassen, dachte Lindy und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln, das ihm hoffentlich das Blut in den Adern verstopfte.

      Am Samstagabend war das Champs Elysées ziemlich voll, und Lindy war froh, dass sie den Tisch