Juliett L. Carpenter

Die Wächter der Insel


Скачать книгу

dann begann sie den Kuss zu erwidern. Sie spürte seine Hand auf ihrer Wange, sanft und sehr vertraut. Ihre Frisur geriet durcheinander und ihr Lippenstift verwischte sich, als sie sich noch einmal küssten, heftiger diesmal.

      Lange Zeit standen sie dort auf dem Gehweg, und Worte waren gar nicht nötig. Schließlich schafften sie es, sich voneinander zu lösen. Lindys Stimme war heiser. "Es würde nicht klappen mit uns."

      "Wahrscheinlich nicht", hörte sie ihn sagen. "Aber verdammt, ich kann dich jetzt nicht so einfach gehen lassen. Ich will dich gar nicht gehen lassen. Ich hab dich vermisst."

      "Wir könnten es ja nochmal versuchen", sagte Lindy, legte die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Er roch nach Sonnenöl und Rauch.

      "Bist du sicher?"

      "Vielleicht soll das so sein – dass wir nochmal eine zweite Chance bekommen."

      "Aber wie und wo ... Tocumwal ..."

      "Ruf mich einfach an, sobald du zurück bist", sagte Lindy leise. "Wir finden einen Weg."

      "Versprochen", flüsterte Robin.

      3. Kapitel

      Robins Schwimmweste war völlig zerfetzt von den scharfen Korallen des Inselriffs, auf das ihn die Brecher geschleudert hatten. Er war bewusstlos und wusste nichts davon, dass er mit dem Gesicht nach unten auf dem nassen Sand lag. Dann und wann griff eine Welle nach dem reglosen Körper, konnte ihn aber nicht wieder ins Meer zurückziehen.

      In der Tropensonne begannen seine Haare langsam zu trocknen, und ein stetiger Wind bewegte sie. Von seinem Arm sickerte Blut in den Sand und färbte ihn dunkel. Eine Krabbe huschte über den Sand und versteckte sich in den Fetzen der gelben Rettungsweste, bevor sie weiterkroch zu einem Tangklumpen, der ebenfalls angeschwemmt worden war. Mit trägem Summen zog eine Fliege ihre Kreise über der Gestalt an der Wasserlinie, stieg schwerfällig wieder auf. Der stetige Donner der Wellen am Riff pulste wie ein Herzschlag durch die Stille.

      Die Insel war nur ein kleiner, heller Fleck im Ozean mit einem Durchmesser von etwa eineinhalb Kilometern und einer Länge von zwei, drei Kilometern. Sie hatte die Form eines unregelmässigen, fetten Cs. Über die Jahrhunderte hatten das Meer Korallen und Muscheln zu einem grobkörnigen Sand zermahlen und im Innenbogen des Buchstabens abgelagert. Zwischen Strand und Riff breitete sich eine Lagune mit ruhigerem Wasser aus. Schatten unter der Oberfläche verrieten, dass sich einige Fischschwärme hierher zurückgezogen hatten, um vor Raubfischen sicher zu sein.

      Tropisches Buschwerk, niedrige Bäume und einige wenige Palmen bedeckte die kleine Insel. Ihre makellose Küste verriet kein Anzeichen menschlicher Besiedelung.

      Als Robin allmählich zu sich kam, spürte er das Brennen der Sonne und einen unerträglichen, pochenden Schmerz in seiner linken Seite und seinem Arm. Langsam, mit Mühe, drehte er den Kopf, damit er besser atmen konnte. Sein ganzer Körper fühlte sich zerschlagen an. Er glaubte nicht, dass er sich bewegen konnte, und versuchte es erst gar nicht. Doch dann durchdrang eine Stimme den Nebel in seinem Gehirn, und mit einiger Anstrengung schaffte es Robin, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Seine Augen brannten vom Salzwasser. Die Landschaft hatte unscharfe Konturen – seine Brille war verschwunden.

      Das erste, was er sah, war eine hübsche, kaum bekleidete Frau, die ihn von der Baumgrenze aus anschrie.

      "Geh weg! Lass uns in Ruhe! Wir wollen dich hier nicht!"

      Muss ein besonders seltsamer Traum sein, dachte Robin und schloss die Augen wieder, ließ sich treiben. Sein Bewusstsein verebbte.

      Eine männliche Stimme mischte sich in das Schreien der Frau.

      "Was geht hier vor, Suzanne? Oh, was zum Teufel ..."

      "Geh nicht hin! Bitte! Wir gehen einfach weg und vergessen das alles, dann wird uns nichts mehr hier stören!"

      "Du musst wahnsinnig sein! Er könnte noch leben. Schnell, wir müssen ihn auf den Strand hinaufbringen."

      Das Geräusch von Schritten, die auf ihn zukamen. Dann drehte ihn jemand um, fühlte seinen Puls an der Schlagader. Entschlossene Hände zogen ihn aus der Reichweite des Wassers, schleiften ihn auf trockenen Sand.

      "Ganz schwacher Puls. Er atmet noch. Ich wünschte, ich hätte mehr Ahnung von Erster Hilfe."

      "O mein Gott!"

      "Los, hilf mir. Ich kann doch nicht alles allein machen! Hol eine Decke und eine Flasche Whisky aus dem Lager. Mach schnell!"

      In diesem Moment öffnete Robin die Augen erneut und begann zu husten. Verschwommen sah er zwei erschrockene Gesichter über sich.

      "Wie fühlen Sie sich? Was ist passiert? Ist Ihr Schiff gekentert?"

      Doch Robin konnte nicht antworten, er wurde von einem neuen Hustenanfall gepackt, würgte und spuckte Wasser.

      "Beeil dich, Suzanne! Hol doch endlich die Decke! – Wer sind Sie?"

      Robin versuchte zu sprechen, schaffte es aber nicht. Sein Mund und seine Kehle fühlten sich ausgedörrt an, und ein widerlicher Salzgeschmack lag auf seiner Zunge. Der Mann betrachtete ihn besorgt, gab die Befragung vorläufig auf und wartete auf seine Frau, die anscheinend seinen Anweisungen gefolgt und zum Lager gerannt war.

      Eine Dreiviertelstunde später lag Robin in einen Schlafsack gewickelt im Schatten eines roten Zeltes. Auf einer Leine vom Zelt zu einem Baum trockneten seine Jeans und das T-Shirt mit dem Logo des Segelflugzentrums von Tocumwal. Er war bei Bewusstsein, aber noch immer völlig erschöpft. Obwohl das Thermometer bestimmt achtundzwanzig Grad anzeigte, fröstelte er – der Schock wirkte noch in ihm nach, und die fast zwanzig Stunden im Wasser hatten ihn ausgekühlt. Er wusste, dass sein Blutdruck furchtbar niedrig und er vielleicht innerlich verletzt war, aber es war ihm gleichgültig. Wichtig war nur der feste Boden, auf dem er lag.

      Die blonde Frau saß in zwei Metern Entfernung auf einem Campingstuhl. Sie beobachtete, wie ihr Mann Robin dazu zu bewegen versuchte, einen Schluck Whisky zu trinken. Die scharfe Flüssigkeit verscheuchte Robins Benommenheit, und allmählich begannen auch die Schmerztabletten zu wirken.

      "Es tut höllisch weh, wenn ich atme", murmelte er.

      "Woran könnte das liegen, Sue? Schliesslich bist du eine Arzttochter!"

      "Könnte auf ein paar gebrochene Rippen hinweisen", sagte die Frau widerwillig. "Seine anderen Verletzungen scheinen nicht so schlimm zu sein."

      "Wie schön", sagte Robin schwach. Geschafft. Er hatte es geschafft. Für viel mehr als für diesen Gedanken schien in seinem Kopf kaum Platz zu sein.

      "Haben Sie ... zufällig meine Brille irgendwo gefunden?"

      "Leider nein. Ich hoffe, Sie können auch ohne sie auskommen, Mister ..."

      "Robin Cameron. Ja, ich glaub schon."

      "Wir sind John und Suzanne Fraser ... Ich vermute, wir sollten Sie mal verarzten. Bringen wir's hinter uns."

      John tastete vorsichtig Robins linken Arm und Brustkorb ab. Als er die Rippen erreichte, konnte Robin ein Stöhnen nicht unterdrücken.

      "Ganz eindeutig gebrochen", sagte John. "Der Arm scheint zum Glück nur angeknackst. Sie gehören in ein Krankenhaus."

      "Hier im Umkreis wird es damit wohl schlecht bestellt sein ..."

      "Stimmt. Wir sind hier allein."

      Noch konnte Robin nicht ganz glauben, was er hörte. "Sie meinen – nur Sie zwei? Haben Sie denn eine Möglichkeit, um Hilfe zu rufen? Zum Beispiel Funkkontakt mit Australien?"

      "Nein. Wir wollten so etwas nicht."

      "Sie wollten so etwas nicht?" wiederholte Robin entgeistert. Er versuchte, sich auf einen Ellenbogen zu stützen, ließ sich aber schon bald wieder zurücksinken.

      "Nicht anstrengen", befahl John.

      Während der vierschrötige grauhaarige Mann in einem Verbandskasten kramte,