Juliett L. Carpenter

Die Wächter der Insel


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einen Schluck von ihrem Chardonnay. Es war schon das zweite Glas. Lindy wollte nicht schon wieder auf die Uhr sehen, und im Grunde wusste sie auch genau, wie spät es war: immer noch halb neun, oder höchstens ein paar Minuten später.

      Fünf Minuten gebe ich ihm noch, und keine Sekunde mehr, dachte Lindy. Es war entwürdigend, so lange sitzengelassen zu werden, und sie spürte, wie sich in ihrem Magen ein Knoten Wut ballte. Wie immer. Alles wie früher. Er war noch nie pünktlich gewesen, eigentlich hätte sie erst eine halbe Stunde später kommen müssen! Sie begann, ihm auf ihrem Smartphone eine Nachricht zu schreiben, doch in diesem Moment sah sie ihn schon durch die Tür fegen und mit einem der Kellner sprechen. Ihr Körper spannte sich. Sie beobachtete, wie er mit suchenden Blicken das Restaurant durchquerte. Gleich musste er sie an ihrem Ecktisch bemerken. Sein Blick richtete sich auf sie – und glitt ohne Reaktion über sie hinweg.

      "He, Mister Cameron, brauchen Sie eine neue Brille?" rief Lindy halb amüsiert, halb beleidigt hinter ihm her, sah ihn stutzen und zurückkommen. Erst als sie seine Verblüffung bemerkte, fiel ihr ein, dass sie sich ziemlich verändert hatte in den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Als sie zusammengelebt hatten, waren sie noch Studenten auf dem Weg zu einem MBA-Abschluss gewesen ... seither hatte Lindy die Jeans gegen Rock und Blazer eingetauscht, ihre langen dunklen Haare hatte sie sich kurz und weizenblond stylen lassen, und die Brille war im Müll gelandet, als sie sich schließlich doch noch an die Kontaktlinsen gewöhnt hatte.

      Robin ließ sich auf den Platz ihr gegenüber sinken. Er grinste über das ganze Gesicht. "Ich hab dich nicht erkannt. Meine Güte."

      "Das hab ich gemerkt." Lindy konnte nicht anders – sie musste zurückgrinsen. Robin sah fast so aus wie früher, er hatte noch immer den schmalen, sehnigen Körper eines Langstreckenläufers und dieses breite Grinsen, das von einem Ohr zum anderen zu reichen schien. Seine grünbraunen Augen leuchteten.

      "Hatten wir nicht acht Uhr ausgemacht?" fragte Lindy.

      "Doch. Vor Sydney war Stau. Kannst du mir nochmal verzeihen?"

      "Na gut. Ausnahmsweise."

      Mühe gegeben hat er sich ja nicht gerade mit seiner Aufmachung, stellte Lindy etwas enttäuscht fest. Er trug verwaschene Jeans und ein helles Hemd, das schon bessere Tage erlebt hatte. Seine glatten rotbraunen Haare hatten lange keinen Friseur mehr gesehen und sein Gesicht sah dank der Sonnenbrille witzig aus, zur Hälfte tief gebräunt und um die Augen fast weiss.

      "Du siehst aus, als kämst du gerade von einer Expedition zurück."

      Er erwiderte ihren kritischen Blick unbeeindruckt. "Darf ich annehmen, dass das nicht als Kompliment gemeint war?"

      "Ich verstehe nur nicht, wie du auf diesem Flugplatz in dieser grässlichen Kleinstadt leben kannst, das ist alles."

      Im selben Moment, als Lindy das sagte, wünschte sie schon, sie könne die Worte zurückholen, während sie noch in der Luft schwebten. Doch sie hatten schon ihr Ziel getroffen. Das breite Grinsen verschwand, und das hatte sie nicht gewollt – oder doch?

      "Das haben wir alles schon vor drei Jahren ausdiskutiert", sagte Robin kühl. "Meinst du nicht, dass wir die Sache auf sich beruhen lassen könnten? Ich bin glücklich damit, anderen Leuten das Fliegen beizubringen, und du bist glücklich damit, Marketingstrategien für neue Seifenmarken zu planen, wenn ich´s am Telefon richtig verstanden habe. Ende."

      Verlegen nahm Lindy einen Schluck aus ihrem Glas. "Tut mir leid. Ich glaube, ich bin schon ein bisschen beschwipst. Weil ich mit dem Essen auf dich warten wollte, habe ich seit acht Uhr schon drei Gläser Wein getrunken."

      "Das kann ich leider nicht mehr aufholen. Mein Schicksal sind heute Saft oder Wasser", sagte Robin etwas besänftigt und versuchte die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. "Ne lange Strecke steht an. Verdammt lang – nach Neuseeland. Ich überführe Peter Brooks' Cessna, er hat sie an einen Club in Auckland verkauft."

      Sie versteifte sich unmerklich, als er den Flug erwähnte, und natürlich entging ihm das nicht.

      "Jetzt sag nicht, dass du immer noch nicht darüber hinweg bist", sagte Robin und seufzte. "Das mit deinem Vater ist schon so lange her."

      "So etwas vergisst man nicht", sagte Lindy und wünschte, sie könnte sich in diesem verdammten Restaurant eine Lucky Strike anzünden. Aber sie hatte keine Lust darauf, rausgeworfen zu werden. "Der Anblick, wie sie ihn aus dem Flugzeugwrack gezogen haben ... sei froh, dass du sowas nie erlebt hast. Wieso überführt dieser Kerl sein Flugzeug nicht selbst?"

      Robin grinste. "Peter? Er ist ein so schlechter Pilot, dass er Neuseeland vermutlich verfehlen und den ganzen Weg nach Südamerika weiterfliegen würde. Aber ich sag dir was – ich ruf dich an, wenn ich ankomme. Dann weißt du, dass ich sicher und gemütlich in Auckland hocke. Meinst du, das hilft?"

      "Ja, doch, das klingt gar nicht schlecht."

      Sie griffen gleichzeitig nach der Speisekarte, und ihre Finger berührten sich. Beide zuckten zusammen. Verwirrt begann Lindy in der Karte zu blättern und spürte zu ihrem Ärger, wie sie rot wurde. Sie hoffte, dass man es im weichen Kerzenlicht nicht sah.

      "Nur damit du es weißt, du bist eingeladen", hörte sie Robin sagen.

      "Bist du sicher? Deine schottischen Vorfahren würden sich im Grab herumdrehen, wenn sie wüssten, wie du mit deinem Geld um dich wirfst."

      "Sollen die sich doch drehen, so oft sie wollen. Abgesehen davon brauchst du nicht zu denken, dass ich als Fluglehrer einen Hungerlohn verdiene. Keine Sorge. Ist zwar nicht berühmt, aber immerhin. Ich kann´s mir leisten."

      "Das wollte ich damit nicht sagen." Lindy fragte sich niedergeschlagen, wie lange es wohl dauern würde, bis wieder einmal die verbalen Stahlpfeile flogen. Nicht sehr lange, wenn es so weiterging. Sie entschied sich, das Thema zu wechseln. "Mein Gott, ich war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Champs Elysées. Vielleicht hätten wir ins Blue Flamingo gehen sollten, das ist eher mein Revier. "

      Er zog die Augenbrauen hoch. "Da drin kommt man sich doch nur vor wie in einer Hochglanzillustrierten. Außerdem hat das Champs Elysées viel besseres Essen."

      Lindy spürte, wie Erinnerungen in ihr hochstiegen. "Erinnerst du dich, damals, hier haben wir gefeiert, als ich meine Zwischenprüfung bestanden habe ... puh, ist das lange her ..."

      "Natürlich weiß ich das noch", sagte ihr Ex-Freund. Er betrachtete mit Vergnügen das riesige Steak, das ihm gerade serviert wurde. So wie sie ihn kannte, hatte er in den letzten Wochen von Sardinen aus der Dose und seinen scheußlichen Schinken-Marmelade-Sandwiches gelebt. "Du hattest diese witzige Bluse mit den Koalas an. Der Ausschnitt war ganz schön tief. Sogar der Kellner hat geglotzt."

      Lindy lachte. "In der Firma könnte ich die nicht anziehen. Einer meiner Kollegen, Tom heisst der Mistkerl, versucht jetzt schon ständig, mich anzugrapschen. Ich werd´s ihm schon noch abgewöhnen."

      Sie lächelten sich an. Robins Augen schienen ständig die Farbe zu wechseln, je nachdem, in welcher Stimmung er war. Jetzt waren sie grün, ein helles, durchscheinendes Grün. Wahrscheinlich lag es doch nur am Licht. Er trägt noch dieselbe Brille wie damals, stellte Lindy fest.

      "Na, dann erzähl mal", meinte er. "Bist du schon im Hafen der Ehe gelandet? Womöglich hast du schon drei schreiende Bälger daheim? Rück raus."

      "Nein, ich lebe nur mit meinem Freund zusammen", erzählte Lindy, während sie ihre Crevettes mit den Fingern zerlegte und in die Sauce tunkte. "Mit Anthony. Aber ich glaube nicht, dass ich mal heiraten werde. Und du?"

      "In dieser Richtung nichts Neues jenseits der blauen Berge."

      Sie fragte sich, ob er eine Freundin hatte. Sehr wahrscheinlich. Aber er schien nicht vorzuhaben, sie zu erwähnen. "Du hast Angst, deine Unabhängigkeit zu verlieren, Cameron, stimmt´s?"

      Robin nippte an seinem Orangensaft. "Ja, das wird´s wohl sein. Klingt ganz schön banal, was? Aber ich will weiterhin immer das tun können, was ich wirklich will. Ohne Kompromisse."

      "Das heißt, wenn du keine Lust mehr hast, in Tocumwal zu arbeiten, dann bist