A. C. Risi

PID - Tödliches Erbe


Скачать книгу

vor sich selbst.

      Doch die Gasse wollte nicht enden - im Gegenteil, die stuckverzierten Fassaden aus Sandstein rückten nur noch enger zusammen, bis sie sich über seinem Kopf zu berühren schienen. Niemand war da, der ihn fliehen sah. Auch nicht sein Bemühen, dem unbestimmten Grauen zu entkommen, und so stolperte er weiter. Längst hatten lebenserhaltende, tief verwurzelte Instinkte die Führung über Körper und Geist übernommen, gleich einem Tier, das gejagt und in die Enge getrieben wird.

      Kaum noch in der Lage, sich länger auf den Beinen zu halten, stierte er blicklos nach vorne. Verwundert registrierte er, wie nahe er dem Ende der Gasse auf einmal war. Zaghafte Zuversicht glomm in ihm auf, schwoll rasch weiter an und trieb die hoffnungsvollsten Blüten aus. Den Fokus nur noch auf das dieses eine Ziel gerichtet, redete er sich ein, wenn er nur lange genug darauf starrte, könnte er auch dieses letzte, kurze Stück unbeschadet überwinden.

      Er wollte leben.

      Er würde leben.

      Anselmo Di Giuglio, ehemaliger Biologe und liebender Ehemann, mobilisierte seine letzten Reserven, sammelte sie dort, wo er sie am nötigsten brauchte, dort, wo Hoffnung entsteht – in seinem Kopf. Eine freudige Welle der Erregung durchströmte ihn, doch sein malträtierter Körper spielte nicht mehr länger mit, er war schon zu erschöpft. Tränen des Zorns und der Verzweiflung rannen ihm über die erhitzten Wangen und ein weibisches Schluchzen entrang sich seiner zugeschnürten Kehle. Er hasste sich, hasste sich dafür, dass er seinen Körper in den letzten Jahren so vernachlässigt hatte. Mehr wankend als gehend kam er schliesslich kaum mehr vom Fleck, während er die leichtfüssigen Schritte seines Verfolgers im Nacken zu hören glaubte. Wie ein Jäger, lauernd und nahezu lautlos, folgte er ihm in gleichbleibendem Abstand.

      Gelächter drang in die Gasse. Fröhliche Stimmen von Menschen in ausgelassener Gesellschaft auf ihrer nächtlichen Tour durch die glitzernde Welt der Discos und Bars.

      Di Giuglio riskierte einen Blick über die Schulter. Vor Überraschung stolperte er über seine eigenen Füsse und wäre beinahe gestürzt. Nicht was er sah, liess ihn zusammenzucken - vielmehr das, was er nicht sah. Aus der dunklen Gasse in seinem Rücken starrte ihm nur gähnende Leere entgegen. Da war niemand. Niemand, der hinter ihm her war.

      Freudige Erleichterung durchzuckte sein Herz.

      Der Schlag traf den alten Mann mit voller Wucht. Das Schlagholz knallte so hart und ungestüm gegen seine Brust, dass jeder, der das wollte, und jeder, der das nicht wollte, das brechende Brustbein durch die Kleidung hindurch laut knacken hören konnte. Der heimtückisch geführte Hieb katapultierte die sterblichen Überreste des Biologen rücklings auf das nasse Kopfsteinpflaster. Der Hinterkopf krachte dabei so unglücklich auf die schartige Kante des nass glänzenden Bordsteins, dass der Schädel mit einem schmatzenden Geräusch unter der faltigen Haut zersprang wie die Schale einer überreifen Melone. Er war tot, noch ehe sein Geist realisierte, dass dies nicht das Ende seiner Flucht, sondern das brutale Ende seines Lebens war.

      Der Jäger liess den Baseballschläger achtlos zu Boden fallen, wo er laut scheppernd gegen die schmutzige Häuserwand rollte. Ohne Zeit zu verlieren, fasste er den Toten unter den Armen und schleifte ihn weg vom schummrig beleuchteten Pflaster in die düsteren Schatten der langen Häuserreihe. Er handelte kalt und schnell. Es hatte ihn keiner allzu grossen Mühe bedurft, dem Biologen zwischen den Häuserzeilen hindurch und über einen Hinterhof zuvorzukommen. Der Mann war alt und schwach gewesen, nur ein bemitleidenswert fettes Schwein, das durch ihn endlich seiner gerechten Strafe zugeführt worden war. Der Forscher war so elend gestorben wie einst die Ratten in seinem Labor; gejagt durch ein Labyrinth der Angst, an dessen Ende statt der erhofften Freiheit nur der Tod auf sie wartete.

      Fast hatte es ihm ein wenig leidgetan, zuzuschlagen, als der Alte so ahnungslos auf ihn zugestolpert kam. Kurz hatte er den aufblühenden Hoffnungsschimmer und ein aufatmendes Lächeln wahrgenommen, ehe das Schlagholz den ausgepumpten Körper zu Fall gebracht und das Licht für immer aus den alten Augen gewischt hatte.

      Er schleifte die Leiche tiefer in den dunklen Schatten eines Hauseingangs. Zeit für ausschweifende Gedanken fehlte, dieses Vergnügen behielt er sich für später vor, wenn alles andere erledigt war. Er drapierte den Toten auf die oberste der ausgetretenen Steinstufen, die zum Eingang eines verschämten Dessousgeschäfts gehörten.

      Der Ort hätte dem Alten gefallen.

      Ein zynisches Grinsen erschien auf den blassen Lippen. Mit einem letzten prüfenden Blick zurück auf die eingesunkene Gestalt strich er sich den Schlips glatt, ein Ruck mit den Schultern und sein massgeschneiderter Anzug sass wieder perfekt. Der Alte hatte ihn doch noch ganz schön gefordert, aber nun war er tot. Ratten-tot.

      Massvollen Schrittes ging er vorbei an den Menschen, die sich der tote Forscher so sehnlichst herbeigewünscht hatte - als er dazu noch in der Lage gewesen war.

      1

      Nebelschwaden zogen über das Tal. Das rhythmische Geräusch der stampfenden Hufe im Sandviereck untermalte die überwältigende Stille der frühen Morgenstunde. Unterbrochen durch den vorbeitrabenden Leib des Pferdes konnte man schemenhaft die schlanke Gestalt im Zentrum des Platzes erkennen, die der Stute mit kaum sichtbaren Gesten, gelegentlichen Schnalzlauten und kurzen Pfiffen Richtung und Tempo vorgab. Das halblange braune Haar fiel ihr glatt auf die sonnengebräunte, gut geformte Schulterpartie. Das schwarze Top betonte eine schmale Taille und wohlgeformte Brüste. Die langen, schlanken Beine steckten in verwaschenen Bluejeans und Cowboystiefeln.

      Emma fühlte sich überraschend gut. Trotz der Träume.

      Sie beugte ihren Oberkörper etwas vor. Im Schein der allmählich aufgehenden Sonne glitzerten Staubkörner auf ihren schweissbedeckten, sehnigen Armen. Das Pferd spürte den kompromisslosen Blick ihrer grünen Katzenaugen auf seiner Hinterhand, vollführte eine fliessende Wendung und trabte gehorsam auf sie zu. Kleine Wolken aus Dampf entwichen den geblähten Nüstern und ein kräftiges Abschnauben übersprühte Emmas Gesicht mit hauchzarter Nässe. Sachte strich sie dem Tier mit der Hand über die Augen.

      Für einen kurzen Moment verharrte sie in dieser Position und gab dem Equiden damit Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen. Mit geübter Hand löste sie den kurzen Strick vom Gürtel, schlang ihn dem Tier um den muskulösen Hals und schnalzte leise mit der Zunge. Das Pferd folgte ihr ohne zu zögern. Gehorsam blieb es neben ihr am Eingang zur Koppel stehen. Mit einem prüfenden Blick zum Himmel entliess sie den Schimmel in die Freiheit. Die Koppel erstreckte sich unter dunklen, mächtigen Regenwolken, die die Sonne verdecken würden.

      Früher oder später.

      Emma versuchte sie zu ignorieren. Sie erinnerten sie an diese Träume. Quälend, Nacht für Nacht.

      Ein letzter Blick zurück, es war Zeit zu gehen.

      Widerstrebend riss sie sich los. Jeder Meter zwischen ihr und dem Tier hiess, das kostbare Stück neu erworbener Gelassenheit zu verlieren. Einmal mehr.

      Sie ging zum Parkplatz. Ihr vormals geschmeidiger Gang wich nun eiligen, steiferen Schritten. Noch im Gehen schob sie sich die dunkle Brille vor die Augen, zeitgleich erlosch das Leuchten auf ihrem Gesicht mit den ebenmässigen Zügen. Der Glanz ihrer Augen aus der normalen Zeit. Vor den Träumen. Die mit dem Tod der Adoptiveltern begannen.

      Sie wollte nicht gehen, aber sie hatte keine Wahl. Gerade heute war sie auf das Wohlwollen ihrer Partner angewiesen, sich zu verspäten wäre unverzeihlich.

      Sie klemmte sich hinter das Steuer ihres BMWs und startete den Motor. Die kräftigen Finger schlossen sich so eng um das glatte Leder am Lenkrad, dass sie die Schwielen an den Handinnenseiten spürte, letztes, aber immer fühlbares Zeichen ihrer Verbindung zu dem Tier. Ein leises Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. Bei dem Gedanken an die verblüfften Gesichter der Menschen, denen sie zur Begrüssung die Hand reichte, grinste sie. Niemand hatte sie je darauf angesprochen.

      Sie steuerte den Wagen auf die Strasse hinaus und beschleunigte rasant. Das anschwellende aggressive Fauchen des hochtourigen Motors färbte fast sofort auf sie ab.

      Ungeduld.

      Statt