Alegra Cassano

Endora


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Bewohner von Endora versammelten sich um den Platz der Freude, sobald die Glocke des Turms geläutet wurde. Sie kamen zusammen, weil es Vorschrift war und natürlich auch aus Neugierde. Jedem, der diesen Treffen fern blieb, ohne krank oder bereits tot zu sein, drohten gewaltige Strafen, die niemand auf sich nehmen wollte, der bei Verstand war. Die Menschenmassen stauten sich mittlerweile zurück, bis an die ersten Häuser, die den Platz umgaben.

      Lando fragte sich, warum die Glocke heute geläutet worden war. Es gab keine festen Zeitabstände zwischen den Versammlungen. Immer waren wichtige Ereignisse der Grund für diese Treffen, weshalb sich jeder Einwohner bereits auf dem Weg hierher Gedanken machte, was es wohl zu verkünden gab.

      Der Ratsälteste trat in dem Moment auf sein hölzernes Podium, als Lando in der Menge Ayda und ihre Kinder entdeckte. Ayda war die Frau von Jaron, der für Lando wie ein Bruder war. Die Familien standen sich sehr nah. Lando, Jaron und Ayda waren fast gleichaltrig und schon als Kinder unzertrennlich gewesen.

      Dimetrios stellte sich an das Geländer des erhöhten Bauwerks, wobei man ihm ansah, dass er der Festigkeit dieser Konstruktion nicht traute. Seine Finger krallten sich an die verzierte Holzleiste vor ihm, als er sich vorsichtig über die Brüstung beugte, um nach unten zu spähen. Das Podium wurde nur an den Versammlungstagen herbeigeschafft, damit man den Rat, der aus drei Mitgliedern bestand, besser sehen konnte. Nun richtete Dimetrios sich zu seiner vollen, imposanten Größe auf und eröffnete die Sitzung, indem er seine Hand zum Himmel streckte. Neben seinem emporgereckten Arm wehte die gelbrote Fahne Endoras in der leichten Brise, die die Hitze heute etwas erträglicher machte. Sobald der Ratsälteste sich der Aufmerksamkeit der Bewohner sicher war, und es ruhig wurde, nahm er den Arm herunter und hielt sich erneut fest, wobei er dieses Mal bereits entspannter wirkte. Die beiden anderen Mitglieder des Rates hatten auf Stühlen zu den Seiten des Ältesten Platz genommen. Wie üblich blieben sie stummes Beiwerk und trugen nichts zur Versammlung bei. So manch ein Bürger fragte sich, warum die Zwei überhaupt dort saßen. Dimetrios alleine traf die Entscheidungen und sprach als Einziger zu den Anwesenden.

      „Bewohner Endoras! Ich heiße Euch willkommen!“, rief der Ratsälteste.

      Lando richtete seine volle Aufmerksamkeit auf ihn. Dimetrios war ein großer Mann mit lichtem Haar. Stets trug er eine Kappe, die wie eine Blase aussah, welche um seinen Kopf zu schweben schien. Die fehlende Kopfbehaarung machte ein langer, weißer Bart wett.

      „Ihr Leute hört mir zu“, sagte der Ratsherr mit einer tiefen, und trotz seines Alters noch kraftvollen Stimme.

      „Wir haben heute zwei Dinge zu verhandeln.“

      Jetzt wurde es still auf dem Platz. Sogar die Kinder wagten es nicht mehr, einen Ton von sich zu geben. Die Neugier auf das, was nun kommen würde, ließ alle verstummen.

      „Ayda tritt vor“, hörte Lando die Aufforderung und sofort schoss ihm ein Stich der Angst ins Herz. Ayda? Was hatte das zu bedeuten? Hauptsächlich wurden hier Vergehen verhandelt. Was hatte sie getan?

      Er beobachtete, wie die Frau seines besten Freundes gefolgt von ihren Kindern, dem zwölfjährigen Bale und der siebenjährigen Banja, den Platz betrat. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie vollständig in Grau gekleidet war. Das war die Farbe, die die Frauen tragen mussten, deren Männer sich nicht im Ort befanden. Ayda war oft gezwungen, sich so zu kleiden, denn Jaron war Jäger und häufig für einige Tage außerhalb der Mauern, die den Ort umgaben. Ihre Schönheit hatte Ayda sich bewahrt, auch wenn sie bereits achtundzwanzig Jahre alt war. Ihr hellbraunes Haar trug sie wie eh und je in einem dicken Zopf auf dem Rücken, nur dass sie diesen jetzt unter dem Kragen ihres Kleides versteckt hatte. Es war üblich, den Frauen nach der Geburt des ersten Kindes die Haare bis auf Schulterlänge abzuschneiden und diese Frisur dann beizubehalten. Lando fragte sich, wie Ayda darum herum gekommen war. Noch brennender interessierte ihn jedoch, warum sie in den Richtkreis gerufen wurde, einem runden Mosaik in der Mitte des Platzes.

      Während Dimetrios sprach, hielt Ayda ihre Kinder fest, jedes an einer Hand, als befürchtete sie, sie würden ihr weg genommen werden. Obwohl Bale zu alt dafür war, an der Hand seiner Mutter zu laufen, hielt er still.

      „Ayda“, begann der Ratsälteste. „Dein Mann ist fort, und der Rat hat beschlossen, dass du dir einen neuen Ernährer suchen musst.“

      Lando beobachtete, wie Ayda empört aufblickte, offensichtlich etwas entgegnen wollte, aber dann nur ungläubig den Kopf schüttelte. Ihm selbst verschlug es die Sprache, und auch die Menschen um ihn herum schienen wie erstarrt. Wie lange Jaron schon unterwegs war, konnte er nicht sagen, doch mit Sicherheit noch kein halbes Jahr und das war die Frist, die normalerweise abgewartet wurde.

      Genau das versuchte Ayda jetzt wohl vorzubringen, aber Dimetrios unterbrach sie.

      „Ruhe!“, donnerte er von oben herab. „Ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt!“

      Ayda senkte den Kopf. Als Frau stand ihr das Reden hier nicht zu, aber da kein Mann anwesend war, der für sie das Wort ergreifen konnte, hatte sie auf eine Ausnahme gehofft. Nun glühten ihre Wangen vor unterdrücktem Zorn.

      „Meldet sich jemand freiwillig als Ernährer?“, fragte Dimetrios bereits in die Runde, ohne der verstörten Frau weitere Beachtung zu schenken.

      2. Der neue Ernährer

      Landos Gedanken überschlugen sich. Jeder ledige Mann durfte sich jetzt melden. Wenn sich niemand finden sollte, würden die Kinder in den Hort kommen, damit Ayda, frei von dieser Bürde, einen neuen Mann finden konnte. Lando war ungebunden. Er könnte sich anbieten, aber er zögerte noch. Fanden sich zwei Anwärter, würde es ein Duell geben. Bei drei und mehr Bewerbern durfte die Frau selbst entscheiden, wen sie als Ernährer wollte.

      Rubion betrat den Platz und zeigte damit an, dass er sich zur Verfügung stellte. Wieder bohrte sich der Schmerz wie ein rostiger Nagel in Landos Herz. Natürlich trat Rubion vor! Er hatte schon immer für Ayda geschwärmt und versucht, sie mit seinem Reichtum zu betören, doch sie hatte sich glücklicherweise für Jaron entschieden.

      Lando knirschte mit den Zähnen, als Rubion sich bereits siegessicher im Kreis drehte und seinen Freunden zuzwinkerte. Er war anscheinend davon überzeugt, dass ihm die Frau zugesprochen wurde.

      Dimetrios sah sich abwartend um. Lando bemerkte, wie Aydas Blick flüchtig zu Rubion huschte. Die Abscheu in ihren Augen war unübersehbar. Er kannte sie so gut, dass er selbst spürte, wie sie sich in diesem Moment fühlte. Vor Verzweiflung begann brennende Säure in seiner Kehle aufzusteigen.

      Trotz des drohenden Zweikampfes, den er nie und nimmer gewinnen konnte, trat Lando vor, gerade in dem Moment, als Dimetrios die Hand heben wollte, um die Entscheidung zu besiegeln. Landos Erscheinen wurde von den Umstehenden mit lautem Gemurmel kommentiert und er hörte ein Murren aus dem Lager von Rubions Freunden. Doch nichts konnte ihn jetzt irritieren. Er konzentrierte sich auf Ayda und blendete den Rest aus, aber selbst ihr Mund blieb ungläubig offen stehen, als sie ihn ansah. Ihr Blick wanderte zu Rubion und dann wieder zu Lando zurück. Er sah deutlich die Furcht darin und vermutete, dass sie ebenfalls an den Zweikampf dachte.

      Sie schüttelte kaum merklich den Kopf in seine Richtung. Er wusste selbst, dass es Wahnsinn war, was er da tat, aber er hatte in diesem Moment nicht anders handeln können. Er konnte doch nicht kampflos die Familie seines besten Freundes dessen ärgstem Feind überlassen. Das würde Jaron ihm nie verzeihen.

      „Sonst niemand?“, fragte Dimetrios und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Für Lando stand bereits fest, dass er sich dem Duell stellen musste, und ihm war bewusst, dass er den Tag vermutlich nicht überleben würde, doch wenigstens würde er ehrenhaft sterben.

      Rubion war größer, stärker, besser ausgerüstet und, was das Wichtigste war, körperlich unversehrt. Lando dagegen war als Jugendlicher in eine Falle geraten und konnte seit dem sein rechtes Bein nicht mehr richtig benutzen, weshalb er es nachzog. Er war nicht mehr schnell und wendig. Diese körperliche Beeinträchtigung machte ihm schwer zu schaffen und sie war auch der Grund, warum er bisher keine Familie gegründet hatte. Ernähren könnte er eine Frau schon, nur war er der Meinung,