Alegra Cassano

Endora


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Lando drehte sich überrascht um, genau wie Ayda und Rubion. Der junge Dell war auf den Platz getreten. Er war gerade erst sechzehn Jahre alt geworden.

      „Was willst du?“, knurrte Dimetrios ungehalten.

      „Ich melde mich als Ernährer“, erklärte der Junge tapfer. Wieder raunte die Menge und einige Leute lachten.

      „Dell, das ist unmöglich. Du bist noch nicht so weit“, erklärte Dimetrios mit kaum verhaltenem Ärger in der Stimme. Er war Dells Onkel und konnte so einen Unsinn nicht billigen. Sein Bruder würde ihn auf ewig verfluchen, wenn er Dells Meldung zuließ.

      Dimetrios wollte diese Sache jetzt schnell beenden, bevor noch jemand auf die Idee kam einzugreifen. Er hatte keinen Zweifel am Ausgang des anstehenden Zweikampfes, und obwohl es schade um Lando war, war dieser doch selbst Schuld. Warum musste er sich auch freiwillig melden? Schon immer hatte es Ärger wegen seiner Sippe gegeben! Dimetrios wollte sich jetzt nicht weiter darüber aufregen und endlich zum zweiten Punkt der Tagesordnung übergehen.

      „Geh zurück, Dell!“, befahl er scharf. Der Junge blieb unsicher stehen.

      „Steht denn irgendwo geschrieben, wie alt der Ernährer sein muss?“, wagte er zu fragen.

      Lando bewunderte den Mut des Jungen. Es war jedoch abzusehen, dass seine Meldung nicht zugelassen wurde. Suchend ließ Lando seinen Blick über die Menschen schweifen, die ihm am nächsten standen. Alles Fremde. Die meisten kannte er zwar vom Sehen, aber hier war niemand, der ihm helfen konnte. Er hatte Dells Absicht durchschaut. Wenn sich ein dritter Mann melden würde, wäre der Zweikampf nicht mehr nötig und Ayda könnte selbst entscheiden.

      „Dell, du kannst keine Familie ernähren“, sagte Dimetrios jetzt noch einen Ton schärfer und winkte seinen Neffen vom Platz. Der Junge bemerkte, wie zwei Wachleute sich in seine Richtung bewegten, und trat deshalb zögernd den Rückzug an.

      Lando atmete tief durch. Die Luft schien ihm stickiger als zuvor und ihm war, als würde er den Staub des Platzes auf der Zunge schmecken. Zusammen mit den rumorenden Säften in seinem Inneren, entstand ein Gemisch, von dem ihm übel wurde, doch er war bemüht, sich davon nichts anmerken zu lassen. Eine Schwäche reichte wirklich. Ihm war bewusst, dass der Ratsälteste nun so schnell wie möglich seine Entscheidung verkünden würde. Dimetrios war nicht gerade für seine Geduld bekannt.

      Lando spürte, wie Rubion ihn kalt musterte, vermied es aber seinen Nebenbuhler direkt anzusehen. Wenn der Unfall nicht gewesen wäre, hätte er vielleicht eine Chance gegen ihn gehabt, aber so … Nein, er hatte seinen Tod besiegelt, als er in den Kreis getreten war. Nun gab es kein Zurück mehr und alles, was er tun konnte, war in Würde zu unterliegen. Sein Verstand suchte noch nach einem Ausweg, denn geistig war er Rubion schon immer überlegen gewesen, aber im Grunde seines Herzens wusste er, dass es keine Möglichkeit gab, seinem Schicksal zu entrinnen. Für Ayda und die Kinder tat es ihm besonders Leid, denn dann hatten sie niemanden mehr, der ihnen beistand. Mehr als er jetzt tat, konnte er für sie leider nicht tun.

      Die Menge wurde erneut unruhig, als sich aus den hinteren Reihen ein Mann nach vorne drängte. Er war sehr groß und so breit wie zwei normal gebaute Männer. Lando erkannte ihn sofort. Es war der Holzfäller Kahn, den er aus den Wäldern kannte. Er hatte ihm vor Jahren in einer Notlage geholfen.

      Lando war zufällig in der Nähe gewesen, als er die Hilfeschreie des Mannes hörte. Khan hatte sich, ohne es zu wissen, einen Baum zum Fällen ausgesucht, der einem Arakus als Unterschlupf diente. Durch den Krach, den die Axtschläge verursachten, war das Tier aus seinem Erdloch, unterhalb des Baumes geschossen und hatte sich in die Wade des Mannes verbissen. Khan konnte es zwar mit seiner schweren Axt erschlagen, aber er schaffte es nicht, die Zähne, die wie Widerhaken in seinem Fleisch steckten, herausziehen. Lando half ihm bei dieser sehr blutigen Angelegenheit. Arakusbisse entzündeten sich häufig, denn die Tiere waren Aasfresser. Khan hatte einige Tage zwischen Leben und Tod in der Wildnis verbracht, während Lando mit allen Heilkräutern, die ihm zur Verfügung standen, versuchte, für Linderung zu sorgen. Er hatte sich aufopferungsvoll um den Kranken gekümmert, hatte ihm Wasser gebracht, Nahrung besorgt und ihm Mut zugesprochen. Für Lando war das selbstverständlich. Erst als es dem Holzfäller wieder gut ging, trennten sich ihre Wege.

      „Wie kann ich das je gut machen?“, hatte Khan zum Abschied gefragt und Lando antwortete: „Du brauchst nichts gut zu machen, aber wer weiß, vielleicht bist du einmal in der Nähe, wenn ich Hilfe nötig habe.“

      Nun stiegen Lando beinahe Tränen in die Augen, als er den Riesen sah, der sich durch die Menge schob, vorsichtig aber stetig, so als hätte er Angst, jemanden zu zerquetschen, aber als befürchte er auch, zu spät zu kommen.

      „Ich melde mich“, sagte er mit seiner tiefen Bassstimme und zwinkerte Lando zu. Rubion knurrte ungehalten. Er war sich seiner Sache schon so sicher gewesen, wie Lando seinem Untergang.

      „Nun denn“, sagte Dimetrios wenig begeistert.

      „Dann hast du wohl die Wahl Ayda.“

      3. Die Wahl

      Ayda war noch benommen. Sie fühlte sich, wie in einem Traum, so als würde dies alles nicht wirklich geschehen. Sie meinte, neben sich zu stehen und sich selbst zu betrachten, wie sie grübelnd da stand.

      Warum wurde sie bereits jetzt dazu gezwungen, sich einen neuen Mann zu suchen? Jaron war doch noch nicht einmal zwei Monate fort! Hatte ihn jemand gefunden? War er tot? Vor Angst krampfte sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, dann wurde ihr jedoch bewusst, dass das nicht sein konnte. Wäre ihr Mann gefunden worden, hätte man ihn zurück nach Endora gebracht, damit alle die Möglichkeit hätten, ihn zu sehen und sich zu verabschieden. Außerdem wäre ihr die Todesnachricht vor der Zusammenkunft mitgeteilt worden, damit sie sich in Schwarz hätte kleiden können und nicht in dem Grau, das den Frauen vorbehalten war, die auf die Rückkehr ihrer Männer warteten.

      Warum also?

      Dimetrios trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das hölzerne Geländer, während er von oben auf die Frau herab starrte. Ayda dämmerte schließlich, dass sie leider nicht träumte und dass sie sich bald entscheiden musste, sonst würde der Rat das für sie tun. Banja klammerte sich an ihren Rock, als sie sich zu den drei Anwärtern umwandte, die nebeneinander aufgereiht auf ihre Entscheidung warteten.

      Da war Rubion, den sie seit ihrer Kindheit kannte. Er hatte ihr schon damals Angst eingejagt, aber es hatte auch eine Zeit gegeben, in der sie ihn anders kennen gelernt hatte.

      Ihre Mutter arbeitete früher in dem Haushalt von Rubions Familie, und zwar in der Küche. Sie nahm ihre kleine Tochter manchmal mit, damit diese aushalf. Natürlich hätte Rubion sich niemals in die Küche verirrt, aber der Zufall wollte es, dass Ayda in den Garten geschickt wurde, um Kräuter zu holen. Dieser Garten befand sich dicht an der Stadtmauer, allerdings auf der Seite, die in das offene Gelände führte. Rubions Haus besaß als einziges im Ort einen Zugang durch die Mauer ins Ödland.

      Ayda hatte Angst. Die vielen Geschichten über wilde Tiere und verschollene Jäger hatten sie das Gebiet außerhalb der Mauer fürchten gelehrt. Als sie damals vor dem Tor innehielt und nicht wusste, was sie tun sollte, war Rubion aufgetaucht. Er war etwas älter als sie und damals sehr feist, mit auffällig runden Wangen, was zu seinem Stand gehörte. Wenn sich jemand gutes Essen leisten konnte, sollte das auch jeder sehen. Ayda kannte nur die Jungen aus ihrer Nachbarschaft, und die waren dünn wie Bohnenstangen.

      Rubion machte ihr Angst, weil er anders war, und das spürte sie sofort.

      Wahrscheinlich war er von ihrem Anblick genauso irritiert, denn er blieb stehen, musterte sie ausgiebig und wusste nicht so recht etwas mit ihr anzufangen. Schließlich klagte sie ihm ihr Leid und gab sogar zu, sich zu fürchten in den Garten zu gehen. Rubion übernahm das für sie, was ihn zu ihrem Helden machte und wofür sie ihm sehr dankbar war. Als sie die Kräuter entgegen nahm, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dass diese Geste einen bleibenden Eindruck bei dem Jungen hinterlassen würde, ahnte sie damals noch nicht. So wie er heute vor ihr stand, hatte er nichts mehr mit dem Kind von einst gemeinsam, zumindest nicht äußerlich.