Alegra Cassano

Endora


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und bereits ein wenig erleichtert wandte Ayda sich dem nächsten Mann zu, und ließ Rubion mit einem ungläubigen Ausdruck auf seinem Gesicht einfach stehen.

      Kahn sah ihr gutmütig entgegen. Noch einmal erwog sie die Möglichkeit, ihn zu erwählen, doch ihr Herz konnte sich nicht dazu durchringen, auch wenn ihr Verstand ihr dazu riet. Er war fremd, aber vielleicht war das gerade gut?

      „Auch euer Angebot ehrt mich, und ich danke euch sehr“, sagte Ayda zu dem großen Mann, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte sie geradeaus auf seinen mächtigen Brustkorb. Sie sagte nicht direkt nein, aber es war jedem klar, dass sie ihm absagte.

      Nun drehte sie sich schnell zum Letzten in der Runde: „Ich nehme dein Angebot an, Lando. Du bist mir am vertrautesten und ich bin sicher, dass du ehrliche Absichten hast. Du weißt, wie sehr ich Jaron liebe, denn du liebst ihn selbst, wie man einen Bruder liebt. Deshalb möchte ich, dass du als Ernährer für mich und die Kinder sorgst.“

      Lando ahnte, wie schwer Ayda diese Wahl fiel. Er nahm ihre Hand und lächelte ihr aufmunternd zu. Ayda fühlte sich ein wenig besser, jetzt wo sie sich entschieden hatte. Sie traten zusammen vor Dimetrios, um sein Urteil zu hören. Rubions Blick sprach Bände, als er dem Paar hasserfüllt nachstarrte. Doch noch gab er sich nicht geschlagen. Mit großen Schritten trat er vor den Ratsältesten: „Ich verlange, dass Ihr als oberster Ratsherr die Entscheidung trefft“, forderte er mit fester Stimme.

      „Ayda ist dazu momentan nicht in der Lage. Die Verkündung kam zu plötzlich. Ich bin sicher, wenn sie mehr Zeit hat nachzudenken wird ihre Wahl anders ausfallen.“

      Lando hielt Aydas Hand ganz fest. Er spürte, wie sie zitterte. Es war noch nicht überstanden. Dimetrios sah ihn nun direkt an.

      „Was sagst du dazu?“

      Landos Stimme war ganz ruhig, als er entgegnete: „Das Gesetz ist eindeutig. Ayda hat sich entschieden. Ich kann sie und ihre Kinder ernähren und werde es mit Freude tun. Ich weiß nicht, was es daran zu zweifeln gibt.“

      Auf dem Platz war es vollkommen still. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Wartenden, denn sogar der Wind hielt den Atem an. Alle Leute warteten gespannt auf Rubions Reaktion, und diese kam prompt. Er war kein Mann, der lange über seine Worte nachdachte.

      „Wie will der Krüppel denn eine Frau und zwei Kinder ernähren?“, fragte er gehässig. Ayda hörte, wie Lando scharf die Luft einsog. Sie wollte nicht, dass er auf diese Provokation einging, deshalb drückte nun sie seine Hand ganz fest und sagte schnell: „Dimetrios, ich bin nicht froh darüber, mir einen neuen Ernährer suchen zu müssen, aber meine Wahl ist gefallen. Ich will Lando.“

      Der Ratsherr verkniff mürrisch den Mund, nickte aber. Er starrte eine Weile nachdenklich auf die Menschenmenge herab. Mit einem letzten Blick auf Rubion schwenkte er dann endlich die Fahne von Endora, um anzuzeigen, dass das Urteil gefällt war.

      „Lando ist hiermit als Ernährer für Ayda und ihre Kinder anerkannt“, bestätigte er für alle hörbar.

      Rubion schnaufte wie ein wütender Barbatus, sagte aber nichts mehr und trat mit hochrotem Kopf zurück. Auch Kahn verließ den Richtkreis und als Dimetrios die Fahne senkte und in die Halterung steckte, zogen sich auch Ayda, Lando und die Kinder zurück. Sie durften in den Ring der Zuschauer treten, mussten aber warten, bis der zweite Punkt für den heutigen Tag verhandelt worden war.

      Landos Knie zitterten immer noch und er schaffte es kaum, sich zu konzentrieren. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum. Dass es nicht zum Duell gekommen war, war seine Rettung, aber er konnte noch nicht absehen, wie sehr sein Leben sich nun verändern würde. Lando ließ Aydas Hand nach einer Weile mit Bedauern los, aber Bale sah ihn weiterhin finster an. Mit dem Jungen musste er später in Ruhe reden, um ihm klar zu machen, dass er seinen Vater nicht ersetzen, sondern nur helfen wollte.

      4. Wolf

      Bales Aufmerksamkeit richtete sich auf jemand anderen, der in den Richtkreis gerufen wurde. Der Junge war groß, schmächtig und unglaublich dreckig. Bale wusste, dass er älter war, als er selbst, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre. Dimetrios erklärte, die Bäckerin bezichtige den Jungen, der Wolf hieß, des Diebstahls. Er solle einen Laib Brot aus der Backstube gestohlen haben. So wie Wolf aussah, traute ihm jeder sofort diesen Raub zu, aber die wenigsten verurteilten ihn dafür, denn viele Leute kannten die Geschichte des Jungen.

      „Was hast du dazu zu sagen, Wolf?“, fragte Dimetrios in einem neutralen Ton. Er als Ratsältester und Richter durfte keine Partei ergreifen, auch wenn ihm das manchmal schwer fiel. Der Junge stand mit gesenktem Kopf da. Er trug zerlumpte Kleidung, die stellenweise nur noch von dünnen Fäden zusammengehalten wurde. Seine weichen Lederschuhe waren aufgeplatzt. Vorne schauten die Zehen und an den Seiten die nackte Haut hervor. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch an seinen Füßen Halt fanden.

      „Ich habe das Brot genommen. Es tut mir sehr leid“, brachte Wolf halblaut hervor. Seine Stimme klang viel zu jung, wie die eines Kindes. Eine Frau kämpfte sich durch die Umstehenden nach vorne.

      „Bestraft ihn nicht! Ich werde das Brot bezahlen!“, rief sie, noch bevor sie den Platz erreichte. Wolf sah nicht zu ihr hin. Er bewegte sich überhaupt nicht, so als wäre er zu einer Steinfigur geworden.

      „Ich bezahle das Brot“, wiederholte die Frau, als sie bei Dimetrios angekommen war. Nun trat auch die Bäckerin vor: „Er muss bestraft werden. Er soll endlich verstehen, dass er nicht stehlen darf“, forderte sie mit herrischer Stimme. Ihr kleiner, dicker Körper bebte vor Anstrengung.

      „Mein Mann wird ihn bestrafen, sobald er zurück ist“, versicherte die andere Frau eilig. Dimetrios war überrascht und zugleich gefiel ihm nicht, dass er heute ständig von Weibern angesprochen wurde. Der Bäckerin als Anklägerin stand das gerade noch zu, aber jetzt mischte sich noch eine Frau ein, und schon herrschte das Chaos. Dimetrios wusste, dass Wolf keine Familie hatte. Eigentlich gehörte er in den Hort, aber von dort riss er ständig aus, und irgendwann hatten sie es aufgegeben, ihn zurückzubringen. Solange er keinen Ärger machte, wurde er im Ort geduldet.

      „Wie stehst du zu dem Jungen?“, fragte er deshalb neugierig. Da der Mann dieser Frau nicht anwesend zu sein schien, musste er ihr wohl oder übel das Wort erteilen.

      „Er arbeitet für uns“, gab sie ohne Zögern an. „Wenn Ihr ihn bestraft, dann bitte so, dass er seine Arbeit noch verrichten kann.“

      Wolf stand die ganze Zeit mit gesenktem Kopf da und zeigte keine Regung, so als ginge ihn das alles nichts an.

      „Warum hast du das Brot gestohlen?“, fragte Dimetrios.

      „Ich hatte Hunger“, gab Wolf leise zurück.

      „Bekommst du bei deiner Arbeit nichts zu essen?“, hakte der Richter nach. Wolf zögerte. Er warf einen scheuen Blick auf die Frau, die angeboten hatte, seine Schulden zu bezahlen.

      „Manchmal“, entgegnete er dann ausweichend.

      „Bekommst du etwas Anderes als Entlohnung?“, wollte Dimetrios wissen. Wolf schüttelte zögernd den gesenkten Kopf, doch dann fiel ihm noch etwas ein: „Ich darf im Schuppen schlafen“, sagte er, und für einen kurzen Moment huschte Freude über sein dreckverschmiertes Gesicht. Doch dann schien er sich wieder bewusst zu werden, welchen Verbrechens er hier angeklagt war und ließ mutlos den Kopf hängen. Dimetrios verlor allmählich das Interesse an dieser Geschichte, was daran liegen konnte, dass ihm selbst der Magen knurrte.

      „Bezahle der Bäckerin das Brot und sorge dafür, dass er nicht mehr stiehlt. Noch einmal kommt er mir nicht so glimpflich davon“, schloss Dimetrios den Fall ab und schwenkte die Fahne Endoras. Damit war die Versammlung beendet und die Menschen entlassen. Zögernd löste sich der Pulk auf. Überall wurde getuschelt, wobei Wolfs Fall nebensächlich war. Ayda und Lando sorgten für Aufregung und die Leute stellten sich Fragen.

      Warum hatte Ayda sich so schnell einen neuen Ernährer suchen müssen? War Jaron tot oder würde er zurückkehren? Was würde passieren, wenn der Todgeglaubte hier erschien und seine