Alegra Cassano

Endora


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ist das letzte Geschenk von Jaron. Willst du es denn nicht?“

      Ayda sah ihn an und suchte in seinem Blick nach seinen echten Gefühlen. Sie verstand sich darauf, den Gesichtsausdruck der Leute zu deuten. Zwar war sie keine Seherin, wie ihre Großmutter es gewesen war, aber sie hatte schon ein paar Fähigkeiten, die sie von den normalen Menschen unterschieden. Bei Lando erkannte sie jetzt Trauer und Angst, aber auch Hoffnung.

      „Natürlich will ich es behalten“, sagte sie. Er kam zu ihr herum und kniete sich neben ihren Stuhl, was ihm ein wenig Probleme bereitete.

      „Darf ich mal sehen?“, fragte er.

      Ayda lachte: „Da gibt es noch nichts zu sehen“, erklärte sie, nahm aber seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.

      „Du musst noch ein paar Wochen warten, dann kannst du es strampeln fühlen“, erklärte sie und lächelte, als sie sein ehrfürchtiges Gesicht sah.

      „Steh auf, du Kindskopf!“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen strengen Ton zu geben. Lando versuchte hochzukommen, und Ayda ignorierte sein Stöhnen, als er sich an Stuhl und Tischplatte hochzog. Sie wusste, dass es ihm unangenehm war, wenn jemand ihm Hilfe anbot.

      „Wir haben noch einiges zu besprechen“, meinte Ayda und deutete auf den Stuhl, auf dem er vorher gesessen hatte. Lando nahm Platz. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, dem die Mutter einen Vortrag hält. Amüsiert lächelte er, wurde aber sofort wieder ernst, als er in Aydas sorgenvolles Gesicht sah.

      9. Hin und her gerissen

      Sie redeten lange. Ayda stellte fest, dass Lando sehr umgänglich war, genauso wie sie ihn von jeher kannte. Er forderte nichts und gab sich mit allem zufrieden. Sein Nachtlager würde er im Wohnraum vor dem Ofen aufschlagen.

      Um mit Bale zu reden, war es heute schon zu spät, aber Ayda war der Meinung, dass er das unbedingt bald tun sollte. Das Verhalten ihres Sohnes gefiel ihr überhaupt nicht. Der Ton ihrer Unterhaltung wurde bald freundschaftlich, und am Ende lachten sie sogar kurz zusammen.

      „Möchtest du, dass ich meinen Zopf abschneide?“, fragte Ayda irgendwann und wurde wieder ernst. Lando schüttelte den Kopf: „Nein. Wieso denn? Er gefällt mir.“ Ein weiterer Stein fiel Ayda vom Herzen. Sie trank ihren Becher leer. Es war schon spät.

      „Danke“, sagte sie zum Schluss. Er nickte ihr zu.

      „Ich weiß, dass das alles für dich genau so schwer ist, wie für mich, aber zusammen … bekommen wir das irgendwie hin“, sprach sie weiter.

      „Das hoffe ich“, entgegnete er. Ayda spürte, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte und blieb abwartend sitzen.

      „Möchtest du, dass ich Jaron suche?“, fragte Lando schließlich, ohne sie anzusehen.

      Ayda seufzte tief. Was sollte sie dazu sagen? Natürlich hätte sie am liebsten ja geschrien, aber das wäre spontan und unüberlegt gewesen. Ein Nein wäre ein Verrat an ihrem Mann und hätte ihren Gefühlen widersprochen. Unschlüssig sah sie Lando an, öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn aber wieder.

      Lando nickte: „Ja“, sagte er, „genauso geht es mir auch. Am liebsten würde ich einfach loslaufen und nach ihm rufen, und unsere alten Jagdgründe absuchen. Andererseits fehlt mir die Ausrüstung, und ich war seit Jahren nicht mehr mit ihm unterwegs. Ich weiß nicht, wo er jagen wollte. Wenn mir draußen etwas passiert, bist du wieder alleine, und ich denke, dass du Rubion dann nicht mehr entkommst.“ Er verstummte und sah Ayda lange an. Sie schien darüber nachzudenken, was er gesagt hatte.

      „Wenn du willst, dass ich gehe …“, setzte Lando gerade an, als sie ihn unterbrach.

      „Geh zu den Jägern“, sagte sie. „Frag jeden, der von draußen kommt. Vielleicht weiß jemand, wo Jaron hin wollte, oder es hat ihn jemand gesehen. Es wäre sinnlos, auf gut Glück loszulaufen, da stimme ich dir zu.“

      Lando nickte: „Gut. Ich werde mich umhören.“

      Das, was nicht gesagt wurde, hing noch eine Weile in der Luft, verzog sich aber dann wie Rauch, der durch einen Schornstein abzieht.

      Lando durfte eigentlich gar kein Interesse daran haben, dass Jaron zurückkam. Diese Rückkehr würde für ihn weit schlimmere Folgen haben, als nur seine neugewonnene Familie zu verlieren. Es gab Gesetzte für diesen Fall und diese waren grausam und hart.

      10. Überraschung

      Bale war früh aufgestanden. Die Sonne ging gerade erst auf, und Banja schlief noch friedlich in seinem Bett. Sie kam nachts oft zu ihm und suchte seine Wärme. Bale packte seine Anziehsachen, die über einer Stuhllehne hingen. Vorsichtig öffnete er die Tür, die etwas knarrte, aber er war schlank und konnte sich durch einen kleinen Spalt zwängen. Auf dem Flur lauschte er, hörte jedoch kein Geräusch, das darauf hinwies, dass schon jemand wach war. Gut. Bale schlich zur Treppe und sah hinunter. Er wusste, wie sehr die Stufen knarrten, doch das war kein Problem für ihn. Er schwang sich auf das Geländer und rutschte einfach hinunter, wie er es schon so oft getan hatte.

      Unten sah er sich noch einmal besorgt um, bevor er hinunterstieg. Erst kurz vor der Haustür schlüpfte er in seine Hose. Die Schuhe, die seine Mutter ihm erst vor ein paar Tagen gemacht hatte, standen draußen, und das Oberteil, in dem er geschlafen hatte, musste als Hemd herhalten.

      Bale öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Es war nicht kalt, aber nebelig. Früher hatte er die aufsteigenden, weißen Luftmassen unheimlich gefunden. Jetzt war er zwölf Jahre alt, fast erwachsen, wie er fand. Angst kannte er nicht. Die empfanden nur Schwächlinge.

      Zielstrebig ging Bale zum Schuppen, die Schuhe in der Hand. Seine Mutter bestand darauf, dass Schuhe im Haus nichts zu suchen hatten, und so dachten viele. Bales Gedanken schweiften zu Wolf ab und zu den kaputten Latschen, die der Junge getragen hatte. Eigentlich könnte Wolf sich doch einfach ein Paar Schuhe von einer der Haustüren nehmen, aber das traute er sich wohl nicht. Diebstahl wurde bestraft, und der alte Dimetrios ließ nicht jeden Dieb einfach so laufen, wie er es gestern mit Wolf getan hatte.

      Als Bale die Schuppentür aufstieß, erstarrte er.

      „Guten Morgen“, sagte Lando, der auf einem umgedrehten Eimer saß und ein Seil flocht. Bale wäre am liebsten einfach wieder gegangen, aber irgendetwas ließ ihn innehalten.

      „Gut, dass du kommst. Ich wollte sowieso mit dir reden“, fuhr Lando fort. Bale wandte sich ihm notgedrungen zu und starrte ihn an.

      „Willst du dich nicht setzen?“, fragte Lando freundlich. Der Junge schnaubte abfällig und blieb stehen, so dass der Mann zu ihm hochsehen musste. Landos Hände arbeiteten geschickt weiter, während er fragte: „Was ist los Bale? Was hast du für ein Problem mit mir?“

      Diese Offenheit verblüffte den Jungen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Holzpfosten und verschränkte die Arme vor der Brust.

      „Du kannst nicht einfach …“, fing er an und suchte nach den passenden Worten, die ihm aber nicht einfielen. Lando half ihm nicht. Da musste er schon selbst durch.

      „… nichts tun“, beendete Bale lahm den Satz.

      „Du findest, ich sollte deinen Vater suchen?“, hakte Lando ruhig nach. Bale nickte heftig: „Natürlich! Ihr seid doch Freunde. Du kannst nicht einfach seinen Platz einnehmen. Das ist nicht gerecht!“

      Lando bemerkte, wie der Junge darum kämpfte, die Fassung zu bewahren. Er war schon groß und wollte sich vor seinem neuen Ernährer keine Blöße geben. Lando versuchte aufzustehen, rutschte aber weg und fiel unsanft zurück. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Bale machte einen Schritt auf ihn zu, blieb jedoch stehen, als er Landos Gesichtsausdruck sah.

      „Dann sag mir, wo ich ihn suchen soll, Bale“, presste Lando hervor und richtete sich mit einem Ruck auf. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut und hielt die Luft an, bis das Stechen in seinem Bein nachließ. Bale beobachtete ihn besorgt.