war eine Möglichkeit, den eigenen Reichtum zu zeigen.
Peg gewöhnte sich schnell an die Dunkelhäutigen, die William nach und nach kaufte. Anne konzentrierte sich vor allem auf Olivia. Sie half ihr beim Englischlernen, damit sie ihre Geschichte berichten konnte. Allerdings war diese nicht sonderlich erpicht darauf, die Sprache zu lernen. Deshalb verstand sie nur langsam einzelne Worte. Anne empfand Mitleid für das Mädchen, aber sie begriff ihr Verhalten nicht. Als sie verschleppt worden war, hatte sie nichts tun können. Sie war ein Kind und nach der langen Fahrt auf einem Sklavenschiff völlig ausgehungert gewesen. Doch obwohl es ihr mittlerweile körperlich besser ging, startete sie nicht einen Fluchtversuch. Sie führte jeden Befehl widerstandslos aus und ertrug alles, was man ihr antat. Seien es harsche Kritik, laute Beschimpfung oder sogar Schläge. Ihr Blick blieb immer gleich leer und unbewegt.
„Willst du nicht auch einfach fortlaufen und alles hinter dir lassen, Olivia?“, fragte Anne. Olivia erstarrte. Dann schüttelte sie panisch den Kopf. Ihr Haarband löste sich und flog in eine Ecke.
„Warum nicht?“ Olivia sah ihr direkt in die Augen.
„Ich kann nirgendwo hin.“ Anne betrachtete die junge Frau. Ihre schwarze Haut verriet überall ihre Gefangenschaft. Die Menschen würden sie versklaven, egal wo sie hinging.
Olivias Blick wechselte zur gewohnten Gleichgültigkeit. Anne sah ihr gedankenverloren zu, wie sie einen kleinen Lappen und ein großes Laken aus einer Truhe am Rand des Raumes holte. Olivia legte beides auf die Kommode neben die bereits abgestellte Schüssel. Dann machte sie einen Knicks und fragte mit starkem Akzent, ob sie noch etwas tun könnte. Anne hielt ihr das Kleid hin und befahl ihr knapp: „Vernichte es!“
Olivia suchte der Tochter ihres Herrn wortlos frische Kleidung raus. Gleich darauf verschwand sie, um den Befehl auszuführen. Als die Magd gegangen war, spülte sich Anne zuerst den Mund aus. Obwohl der Biss bereits über eine Stunde zurücklag, klebte noch immer ein widerlicher Pelz auf ihrer Zunge.
Das Wasser erinnerte sie an ihren quälenden Durst. Sie freute sich darauf, ihn beim Abendessen endlich löschen zu können, auch wenn sie dabei zwangsläufig auf ihre zornigen Eltern treffen würde. Angestrengt dachte sie darüber nach, wie sie sie besänftigen konnte.
Anne verstand Pegs Angst. Sie hatte vor wenigen Jahren ein Land verlassen müssen, weil sie dort einen Skandal ausgelöst hatte. Das wollte sie nie wieder erleben. Und es stimmte ja auch, was sie sagte: Es gehört sich für ein Mädchen nicht, allein durch die Stadt zu streifen. Aber Peg musste doch begreifen, dass Anne ihre Freiheit vermisste. Sie sehnte sich nach dem Meer und ihrer Heimat. Und sie verstand nicht, warum sie die Meinung der Nachbarn über ihr Glück stellen sollte. Sie wollte nicht ständig auf ihre kleinen Brüder aufpassen oder eine gute Hausfrau werden.
William hat seinem Neffen Adam viel mehr Freiheiten gelassen. Natürlich hatte sie als Lehrling eines Anwalts auch Pflichten erfüllen müssen. Sie sollte damals Jurist werden. Doch sie hatte selber wählen dürfen, wie sie ihr Leben ansonsten gestaltete. Sie hätte mit dem Argument, sie wolle Erfahrungen sammeln, in ihrem jetzigen Alter auf Reisen gehen können. Als Mann war es kein Problem allein auf einem Schiff anzuheuern. Im Gegenteil: Es galt sogar als Zeichen von Reichtum und Weisheit. Doch über eine Frau mit den gleichen Zielen zerrissen sich alle das Maul.
Sie trat gegen die Kommode, welche krachend an die Wand stieß. Bevor sie weitere Möbelstücke malträtieren konnte, trat Olivia ein.
„Das Essen ist fertig.“
„Kann ich mich so zeigen?“, fragte Anne sie, weil sie nicht wusste, ob ihr Gesicht noch immer schmutzig war. Als die Magd nickte, ging Anne ins Speisezimmer.
Auf dem Tisch standen Schüsseln mit Fleisch, Brot und Gemüse. Anne interessierte jedoch nur der Wasserkrug. Sie streckte ihre Hand aus, aber ein Räuspern hinderte sie am Zugreifen. Peg durchbohrte sie mit ihrem warnenden Blick, während William sie ignorierte. Schnell setzte sich Anne auf ihren Platz. Peg saß ihr gegenüber und erklärte ihren beiden Söhnen, warum sie nicht mit Messern werfen durften.
William eröffnete unterdessen das Essen, woraufhin Anne ihren Becher füllte und ihn in einem Zug austrank. Peg schaute sie missbilligend an.
„Kannst du nicht ein kleines bisschen Manieren zeigen?“
Anne presste die Lippen zusammen. Heute wollte sie keinen weiteren Streit provozieren. Deshalb entschuldigte sie sich mit einem scheinbar demütig gesenkten Kopf. In Wahrheit verbarg sie jedoch nur ihr vor Wut rot verfärbtes Gesicht.
„Gib her!“, rief Julian und riss Tim Essen aus der Hand. Während Peg die beiden bändigte, stocherte Anne auf ihrem Teller herum.
„Was ist? Hast du keinen Hunger?“
Anne glaubte, einen Funken Sorge in den Augen ihres Vaters zu sehen. Sie war sich jedoch nicht sicher, denn Williams Interesse an ihr hatte im Laufe der Jahre immer mehr abgenommen. Als sie noch in Kinsale gewohnt hatten, war sein Kind sein ganzer Stolz gewesen. Deshalb hatte er viel Zeit mit ihr verbracht, wollte sie ausbilden und gab ihr alle Freiheiten, die man sich nur wünschen kann. Selbst für einen Jungen war es ihr sehr gut gegangen. Doch diese schönen Jahre waren vorbei, seitdem er sie als Mädchen wahrnahm und richtige Söhne hatte.
Sie sehnte sich danach, ihm all dies zu sagen, aber sie wusste genau, dass er es nicht verstehen würde.
Trotz ihrer traurigen Gedanken schaffte sie es, sich ein Lächeln abzuringen und halbherzige Begeisterung vorzuheucheln.
„Doch, es ist sehr lecker.“
Dabei schnitt sie sich ein großes Stück vom Braten ab und steckte es sich in den Mund. Sie widerstand dem Drang, es auszuspucken und an diesem Abend ohne Essen ins Bett zu gehen.
„Anne, schneide Tim sein Fleisch klein! Er schafft es nicht allein.“ Sie drehte sich mit zusammengebissenen Zähnen zu ihrem Bruder und half ihm. Er grinste sie an. Sie wollte das Messer hinwerfen. Sollte sich Peg doch selbst um ihre verzogene Brut kümmern. Es war immer das Gleiche: Julian hier, Tim da. Verärgert hielt sie ihre Gabel so fest, dass diese jeden Moment hätte zerbrechen müssen. Sie konnte es einfach nicht mehr hören. Sie liebte beide, so wie jeder seine Geschwister liebte. Aber ihre Mutter vergötterte sie.
Wäre auch ihr erstes Kind ein Junge gewesen, hätte Williams Frau nie rausgefunden, dass Anne ein Mädchen war. Und dann hätte sie auch nicht weitergeforscht und von der Affaire ihres Mannes erfahren. Zwar wären Peg und William in diesem Fall bis heute unverheiratet, aber dann wäre Pegs Ansehen nicht zerstört worden. Und sie wäre noch in ihrer Heimat, bei ihrer Familie. Anne verstand die Wut ihrer Mutter nicht. Es hatte sich alles zum Guten gewendet. Hier war Peg eine angesehene und wohlhabende Frau. Letzten Endes profitierten sie und William von dem geplatzten Schwindel. Nur Anne war zum Sündenbock der wenigen negativen Seiten geworden.
Ein Freudenschrei unterbrach ihren Gedankengang. Julian färbte seine Haare mithilfe der Bratensoße dunkelbraun. Und Peg saß daneben und erzählte etwas von der beeindruckenden Kreativität ihres Sohnes. Irgendetwas läuft hier vollkommen verkehrt!, dachte Anne, sagte aber nichts. Das hätte ihr nur einen weiteren Tadel eingebracht.
Stattdessen wandte sie sich wieder ihrem Teller zu, und aß lustlos einige Bissen. Nach einer gefühlten Ewigkeit wünschte William seiner Familie eine gute Nacht.
„Du räumst mit auf!“, befahl Peg, als Anne aufstand. Trotzdem ging sie direkt in ihre Kammer. Sie schloss die Tür hinter sich, um das Gezeter ihrer Mutter auszusperren. Dann nahm sie ihre Spange aus dem Haar und die abgebrochene Ecke aus ihrer Tasche. Fluchend ärgerte sich Anne über sich selbst. Das Schmuckstück war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Sie mochte es sehr gern. Sie drehte die Haarklemme und betrachtete den Schaden von allen Seiten. Jemand, der die Klemme zum ersten Mal sah, bemerkte die fehlende Ecke nicht. Aber Peg würde selbst ein kleiner Kratzer sofort auffallen. Wenn das passierte, würde Anne eine harte Strafe erwarten. Und außerdem müsste sich William anhören, dass er Anne nicht so teure Geschenke machen dürfe. Das würde den letzten Funken Vertrautheit zwischen Anne und ihrem Vater vernichten.
Gleich morgen musste sie jemanden finden, der die Reparatur vornehmen konnte.