Ann-Kathrin Speckmann

Beginn eines Piratenlebens


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welches sie vorher unter einem nahen Strauch platziert hatte. Anne wollte nach ihrem Handtuch greifen. Leider lag es zu Hause in ihrem Schrank. Sie hatte es so eilig gehabt, von ihrer Mutter wegzukommen, dass sie nicht daran gedacht hatte.

      Grinsend gab Betty ihr Laken weiter. Sie nahm sich stattdessen ihr Kleid und schlüpfte schnell in den feinen Stoff.

      „Gegen sämtliche Regeln verstößt du, während du dich nebenbei mit Seemännern prügelst. Aber alleine baden kannst du nicht!“ Anne lachte und freute sich über den unbefangenen Moment.

      Immer noch kichernd kamen sie etwas später beim Haus der Familie Cormac an und verabschiedeten sich voneinander.

      „Sehen wir uns morgen?“, fragte Betty zum Abschied.

      „Ich muss zum Hafen. Ich habe meine Spange gestern kaputtgemacht und hoffe dort jemanden zu finden, der sie mir repariert.“ Verdammt! Wieder hatte sie sich verplappert. Geheimnisse sollte man vor einem solch geschwätzigen Mädchen wie Betty besser geheim halten. „Erzähl das niemanden! Meine Mutter soll es nicht erfahren!“

      „Du willst schon wieder abhauen?“, entsetzt starrte Betty ihre ältere Freundin an, als wollte sie ihr mit dem Blick sagen: Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden? Aber so etwas würde sie niemals laut aussprechen.

      „Nicht, wenn es nicht sein muss. Vielleicht fällt mir auch irgendeine Ausrede ein.“

      „Anne, das…! Ich …“, stotterte das ängstliche Mädchen, als wäre sie es, die die Strafe dafür bekommen würde.

      „Verpetz mich nicht!“, verlangte Anne, während sie zu ihrer Haustür ging. „Bis dann!“

      Betty sah sie aus großen Augen an, bevor sie sich abwandte und zu ihrem Elternhaus lief.

      Anne konnte über ihre Freundin nur den Kopf schütteln. Sie war wohl das einzige Mädchen in der ganzen Stadt, das sich jederzeit an alle Regeln hielt und nie irgendwelchen Ärger machte. Natürlich war auch keines der anderen Mädchen so wie Anne. Aber Bettys Ängstlichkeit war schwer zu übertreffen.

      Immer noch grinsend ging Anne durch die bereits offene Tür und begrüßte mit falschem Lächeln ihre Mutter. Sie spielte im Eingangsbereich mit ihren Söhnen. Anscheinend hatten die drei die Zeit ohne Anne genossen.

      „Es freut mich, dass du rechtzeitig zurück bist. Hilf Olivia beim Tischdecken. Dann können wir gleich zu Abend essen.“

      Mit geballten Fäusten lief Anne in die Küche. Kaum war sie zu Hause, bekam sie Arbeiten aufgetragen. Immerhin hatte Peg den Befehl in nette Worte gekleidet. Aber das lag vermutlich nur daran, dass William in der Nähe war. Vor ihm wusste sich seine Frau meistens zu benehmen.

      In der Küche angekommen gesellte Anne sich zu Olivia, die schon angefangen hatte. Die Arbeit ging zu zweit schnell von der Hand. Trotzdem ärgerte es Anne, mit der Sklavin das Essen vorbereiten zu müssen, während Peg mit den Kindern spielte. Mit einem Knall landete das letzte Holzbrett auf dem Tisch. Keine Sekunde zu früh, denn kurz darauf kam ihre Mutter in den Raum. Tim zog Pegs rechte Hand mit aller Kraft nach draußen, während Julian am liebsten schon am Essen wäre. Anne grinste innerlich. Das hatte Peg davon, dass sie die beiden verwöhnte. „Los, nimm mir Julian ab“, fauchte Peg und vergaß dabei ihre aufgesetzte Freundlichkeit. Anne griff das Kind und setzte es kurzerhand auf einen Stuhl.

      „Jetzt pass doch auf! Willst du ihm den Arm brechen?“

      Sie verdrehte die Augen. Während Peg noch damit beschäftigt war, Tim die Vorzüge von einem Abendessen aufzuzählen, kam William rein. Er begutachtete seine Söhne. Stolz blieb sein Blick an Julian hängen, der gerade Messer und Gabel in die Hände nahm. Dann glitt er weiter zu Tim. Ein kurzes Lächeln erschien auf Williams Gesicht, bevor er Anne anschaute. Abschätzig musterte er ihr zerknittertes Kleid und die zerzausten Haare, die Anne nach dem Bad nur halbherzig hochgesteckt hatte. Ohne Gruß nahm er am Tischende Platz. Enttäuscht setzte Anne sich ebenfalls. Plötzlich brannten ihre Augen. Heimlich wischte sie eine Träne weg. Sie wusste nicht einmal, warum sie frustriert war. Was hatte sie denn erwartet? Sie war einfach nicht die Tochter, die sich ein Vater wünschte. Als Sohn war sie vielleicht toll gewesen, aber als Mädchen versagte sie auf ganzer Linie.

      William eröffnete das Essen. Anne hob den Becher, um eine weitere Träne dahinter zu verbergen. Sei nicht albern! Sie wusste schon lange, was ihre Eltern dachten. Was sie davon hielten, eine solche Außenseiterin als Tochter zu haben. Und dennoch verletzte sie das Verhalten von Peg und William jeden Tag aufs Neue. Sie kaute lustlos auf einem Brotstück und stocherte im Essen herum.

      „Ich habe beschlossen, dass du dich Morgen mit Michel triffst“, kündigte ihr Vater an. „Natürlich werden Betty und Olivia euch begleiten.“

      Anne erstarrte. Die Gabel mit einem Stück Fleisch auf der Spitze blieb auf halben Weg zum Mund in der Luft hängen. Das konnte er nicht ernst meinen!

      „Wieso soll ich mich mit Michel treffen?“, brachte sie langsam heraus und ließ dabei das Besteck wieder auf den Teller sinken.

      „Du wirst ihn noch in diesem Jahr heiraten.“

      Er meinte es also ernst. Er wollte sie einfach verheiraten. Michel war früher ihr Freund gewesen. Wie konnte er ihr das antun? Und wieso stellte ihr Vater sie vor vollendete Tatsachen? Bisher hatte er sie genug respektiert, um sie bei Entscheidungen, die sie betrafen, nach ihrer Meinung zu fragen.

      „Vater, Michel ist mein … Ich meine, er ist nicht der Richtige“, protestierte sie schwach. Es war nicht sehr hilfreich, aber irgendwas musste sie sagen. Doch in ihrem Schock fiel ihr keine Antwort ein. Im Augenwinkel sah sie ihre Mutter lautlos triumphieren und die Brüder lachen.

      „Du wirst ihn heiraten!“, bestimmte William mit lauter Stimme. Seine Hand ballte sich auf dem Tisch zur Faust.

      „Meinst du nicht, dass ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden habe?“, rief sie wütend.

      „Sprich gefälligst respektvoll mit deinem Vater“, warf Peg ein. Anne ignorierte sie.

      „Du kannst mich nicht einfach so verloben!“

      „Doch das kann ich. Anders bekommt man dich ja nicht zur Ruhe.“

      Anne sprang auf.

      „Ich werde nicht heiraten! Nicht Michel!“, schrie sie.

      „Sprich, wie es sich gehört, oder hüte deine Zunge!“, befahl Peg. Anne hörte in ihren Ohren das Blut rauschen. Sie taumelte kurz, stützte ihren Körper an der Wand ab, um nicht zu fallen. Ihr wurde heiß. Ab jetzt wollte sie sich nicht länger beherrschen lassen. Sie suchte nach Worten, um sie ihren Eltern entgegenzuschreien. Doch bevor sie auch nur eine weitere Silbe herausbrachte, ging William an ihr vorbei. Peg baute sich vor ihr auf.

      „Du wirst dich Morgen in aller Form mit ihm treffen. Und in der Zeit werden wir mit seiner Familie den Termin für die Hochzeit festsetzen“, erklärte Peg. Daraufhin lehnte sich Anne das kleine Stück zu ihr vor und flüsterte: „Wenn du mich loswirst, sorge ich dafür, dass du mich niemals vergisst.“

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