Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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zum letzten Mal tragen würde. Ein leises Lächeln umspielte seinen schmalen Mund und seine kohlrabenschwarzen Augen leuchteten. Hocherhobenen Hauptes schritt er auf den Steinkreis zu, in dem sie ihn erwarteten. Seine Schultern waren eckig und breit geworden und sein Körper war schlank und wohl bemuskelt. Trotzdem wirkte er auf den ersten Blick immer noch zierlich, wie ein Mädchen.

      Sévran überragte seinen Lehrmeister Aodrén Jaouen Kréc’h Elis bereits um einen ganzen Kopf und an die Stelle eines schwächlichen, oftmals kränkelnden Kindes war im Verlauf der letzten drei Jahre im Heiligen Wald von Brocéliande ein zäher, sehniger und sehr selbstbewusster junger Mann getreten, der niemals müde zu werden schien. Als er sich schließlich vor den versammelten Drouiz leicht verbeugte, schenkten Konogan und Hegareg ihm ein aufmunterndes Lächeln. Lediglich Tugdual versuchte ernsthaft dreinzuschauen, doch so ganz gelang ihm die Übung nicht.

      Der Sohn des Herzogs von Cornouailles spürte Zuversicht in sich aufsteigen: Unter der uralten Eiche, im Schatten und fast vor den Blicken der anderen verborgen saß Maod’ana. Sie musste sogar noch älter sein, als Aodrén. Üblicherweise bemühte die Bandrouiz sich nicht, wenn es lediglich darum ging zu entscheiden, ob einem jungen Mann das Recht zugesprochen wurde, den Titel eines Anruth zu führen, denn der Weg von Séna - der Ile de Sein- quer durch Cornouailles und Breizh war weit, gefährlich und beschwerlich. Es war eine große Ehre, der steinalten, von Sagen und Legenden umwobenen Hohepriesterin zu begegnen.

      Maod'anas schlohweißes Haar verbarg ihr Gesicht, wie ein Schleier. Sie stützte ihre faltige, wettergegerbte Rechte auf die Schulter von Berc’hed, die eines Tages an ihre Stelle treten würde, wenn die Götter beschlossen, die Bandrouiz in die weiße Welt nach Tir na ù Ban zu rufen. Hinter den beiden Frauen stand noch eine Dritte im Schatten der Eiche. Sévran konnte aus der Entfernung ihr Gesicht nicht erkennen und sie schien ihm mehr Schatten, als Wirklichkeit. Im Gegensatz zu Maod’ana und Berc’hed war sie in dunkle Gewänder gehüllt und trug ihr schwarzes, hüftlanges Haar offen. Alles hatte den Anschein, als ob man ihn heute mehr einer Formalität, als einer echten Prüfung unterziehen wollte.

      Er spürte, wie Aodrén ihm sanft die Hand auf die Schulter legte. Ohne Worte schien sein Lehrer ihm mitzuteilen, dass alles gut sein würde, am Ende dieses langen Tages. Der junge Mann blickte den Weiße Brüdern, die am Steinring im Hochwald von Brocéliande versammelt waren, um ihr Urteil über ihn zu sprechen fest in die Augen. Er brauchte sich nicht vor ihnen zu fürchten.

      Als die feinen Morgennebel zerrissen und eine strahlende Sonne durch das Blätterwerk auf die Gruppe im Steinkreis fiel, hatte Sévran bereits das Schlimmste hinter sich: Aodrén hatte ihn immer dazu antreiben müssen, sich mit den Gesetzen zu beschäftigen und ihre Geschichte auswendig zu lernen.

      Als Kind, als er sich noch gequält hatte, eine um die andere die fünf ersten Stufen der Weisheit zu erringen, da war ihm dieses Wissen verglichen mit den Abenteuern der Natur, den Geheimnissen der Gestirne, der Lehre von den Göttern und ihren Kräften und der Präzision der Mathematik immer wie schmückendes Beiwerk vorgekommen, obwohl er niemals den Zauber der Verse geleugnet hatte. Doch in diesem Augenblick, als Tugdual die Arme ausbreitete und der junge Mann im Zentrum des Steinrings auf die Knie fiel, um die Anerkennung der Drouiz für diesen Teil seiner Prüfung zu empfangen, sprach er die traditionellen Worte voller Stolz.

      „ Ich weiß, warum die Erle purpurfarben ist,

      warum der Hänfling grün ist,

      warum die Zweige rot sind,

      warum eine Frau nie zur Ruhe kommt,

      warum die Nacht hereinbricht...

      Ich weiß,

      dass der Fuß des weißen Schwanzes schwarz ist,

      ich weiß, dass die spitze Lanze vier Kanten hat,

      ich weiß, dass das Geschlecht der Himmel

      niemals untergehen wird,

      aber ihr Endzweck ist mir unbekannt.

      Ich kenne die Fährten der Eber und der Hirsche,

      ich weiß, welch unendliche Macht

      in den Gezeiten des Meeres schlummert,

      aber niemand weiß, warum das Herz der Sonne rot ist.“

      Tugdual bedeutete Konogan, dessen Fähigkeiten in der Medizin und den Wissenschaften über die Natur die aller anderen Drouiz im heiligen Wald von Brocéliande übertraf, das der Prüfling nun ihm gehörte.

      Sévran warf einen Blick zu Aodrén hinüber, der inzwischen im Kreis der anderen Weisen saß. Er bemerkte, wie lebhaft und aufgeregt sein Lehrer war. Der alte Mann reckte sich, um jede Einzelheit der Prüfung mitzubekommen, die Konogan vorbereitet hatte und seine Augen glitzerten. Aodrén hatte vor endlos langer Zeit einmal selbst hier in diesem Steinring gestanden, um als Drouiz Meur über einen jüngeren Konogan zu urteilen, bevor er schließlich endgültig den heiligen Wald von Brocéliande verlassen hatte, um nur noch den Herzögen von Cornouailles zu dienen.

      „Der Ollamh erscheint mir heute um Vieles nervöser, als sein Schüler“, schmunzelte Konogan, bevor er Sévran die erste Frage in lateinischer Sprache stellte. „An ergo alia, melior et mollior, reperta? Et quae illa, Sevran ?“, beendete Konogan schließlich seine eigenen kurzen Ausführungen über verschiedene Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern. „Existiert also etwas anderes, etwas Besseres und Angenehmeres? Und was ist es?“

      Der junge Mann bemühte sich so ernst, wie nur möglich dreinzuschauen, als er dem Drouiz antwortete. Konogan hätte ihn zur Astronomie, zur Mathematik, zur Geographie oder zur exakten Berechnung der Zeit ausfragen können. Natürlich hätte Sévran ihn auch in diesen Wissenschaften zufriedengestellt, doch der Drouiz hatte in Anwesenheit der Bandrouiz und der beiden Töchter von Séna ganz offensichtlich mit Absicht die Medizin und die Pflanzenkunde gewählt. Als Schüler von Aodrén war es beinahe selbstverständlich, das Sévran hier glänzen konnte. Aodrén hatte seine Kunst auf weiten Reisen erweitert und vertieft. Er war in seinen jungen Jahren sogar an der berühmten Akademie von Salerno gewesen, die der römische Kaiser Friedrich II. von Hohenstauffen dort im Jahre 1224 gegründet hatte und auch an der maurischen Schule von Cordoba in Al Andalus. Er hatte die Welt bereist: Ägypten, das Land am Nil, Persien und sogar das ferne und geheimnisvolle Indien…obwohl er über diese Zeit seines Lebens niemals zu ihnen sprach.

      Aodrén hatte von diesen weiten und abenteuerlichen Reisen Abschriften zahlreicher wunderbarer Werke mitgebracht, die er gemeinsam mit Sévran las, wenn er ihm Unterricht in der arabischen und der jüdischen Sprache erteilte. Avincenna - Abu Sina, der Vater der maurischen Heilkunst gehörte genauso zu Sévrans Lektüre, wie Djabir Ibn Haijan, der mit seinem Werk um die islamische Alchemie den bedeutenden Einfluss der Gestirne auf den Körper und die Gesundheit des Menschen erklärt hatte. Der junge Mann räusperte sich. Sein jugendlicher Wissensdurst hatte ihn auch dazu verleitet Ibn Masarra und Ibn Arabi zu lesen und in den Kopien der Tabula Smaragdina und der Ghajat al-Hakim herumzuschnüffeln, die Aodrén mitgebracht hatte, doch diese etwas anrüchigeren Dinge wollte er seinen Prüfern vorerst ersparen.

      „Schon bei den Griechen spielten Schlaf- und Schmerzmittel eine herausragende Rolle“, erläuterte er selbstsicher, „so nennt Gaius Plinius der Ältere in seinem Werk Naturalis Historia unter anderem den Mandragora-Wein und unterscheidet das Einsatzgebiet: soll Schlaf erzeugt werden, reicht allein schon das Einatmen des Weins; für eine betäubende Wirkung wird der Wein als Trank verabreicht. Als Mittel um nur eine bestimmte Stelle des menschlichen Körpers zu betäuben, gibt Plinius den sogenannten Stein von Memphis an, eine Paste aus Marmorstaub und Essig, welche auf die Haut aufgestrichen diese unempfindlich gegen Schmerzen macht, sowie die Asche von Krokodilshaut.“

      Konogan nickte zufrieden. Auch Maod’ana und Berc’hed schienen von seinen Ausführungen angetan. Über dem runzeligen, verwitterten Gesicht der Bandrouiz lag ein katzengleiches, zufriedenes Lächeln und ihre von tiefen Falten umgebenen smaragdgrünen Augen glitzerten fröhlich, während Berc’hed ihr irgendetwas ins Ohr flüsterte und dabei mit einem spitzen, dünnen Finger etwas ungezogen direkt auf ihn deutete. Sévran fasste Mut. Er hatte selbst schon