Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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und bildlicher Allegorien. Jean de Craon war davon überzeugt, das nur in ihnen, aber nicht in den zahlreichen anderen Werken die sich mit den schwarzen Künsten befassten, der Schlüssel zu wahrer Macht und zu Geldmitteln ohne Ende lag. Die schwarze Kunst, so predigte ihm der alte Mann dauernd, barg eine nicht zu verleugnende Gefahr eines Tages von den eigenen Dämonen und Geistern aufgefressen zu werden.

      Seitdem Gilles sich bei Azincourt genommen hatte, was er haben wollte und den Sigillenreif an seinem rechten Handgelenk trug, vertiefte er sich trotz der ständigen Warnungen de Craons immer weiter in die schwarze Kunst. Der Großvater besaß in seiner Bibliothek nicht nur den Schlüssel Salomons –Clavicula Salomonis- der die Durchführung magischer Rituale schilderte, mit denen man Geister der Toten beschwören konnte oder Dämonen als Hilfskräfte aus dem Schattenreich rief. Er hatte auch ein eigenes Grimoarium begonnen, in dem er schon seit langem seine Erkenntnisse eintrug und all die Beschwörungsformeln, die ihm Erfolg gebracht hatten niederschrieb.

      Der Sigillenreif war ein mächtiger Schutz. Nachdem Gilles herausgefunden hatte, wie er das Amulett handhaben musste, wagte er sich inzwischen auch an das einzigartige Grimoarium von Armadel heran, das die verschiedenen Ordnungen von Geistern beschrieb, deren Namen und Siegel zeigte und Formeln, mit denen man durch die Hilfe der angerufenen Wesen Bannzauber, Schadenszauber oder Todeszauber vornehmen konnte. Doch das Böse verlangte Blut und de Craon hielt ihn oftmals zurück, denn die Bauernkinder die Gilles zusammen mit seiner kleinen Schar Getreuer ab und an in der Nähe von Champtocé einfing, um einen der Zauber von Armadel zu versuchen, wurden von ihren Eltern vermisst und es entstanden bereits Gerüchte über einen Teufel, der unter der Festung hauste.

      Gilles strich mit der Hand nachdenklich über die hauchdünnen Seiten von Abrahams Buch. Sie waren aus Baumrinde gemacht worden, denn Rinde überdauerte die Zeit besser als Pergament und fiel dem Hunger von Mäusen nur sehr selten zum Opfer. Er hatte den Fluch auf der ersten Seite der Handschrift auch gelesen und nur über ihn gelacht: Er war vielleicht kein Gelehrter und ganz sicher kein Priester oder blöder Pfaffe, aber er fühlte sich durchaus befugt, die große Arbeit um den Lapis mit allen Mitteln zu versuchen.

      „Großvater, nachdem ihr herausgefunden hattet, dass der Jud Canches dem Flamel geholfen hatte, den Text und die Allegorien zu begreifen...warum sollen wir uns da mit diesem Rittersmann aus dem Süden aufhalten? Holt doch einen anderen Jud von Spanien oder treibt einen von den Konvertierten auf, die sich noch immer überall verstecken. Die wissen sicher eher die Bildnisse zu deuten, als dieser verträumte Schöngeist, der uns die Suppenschüssel leer frisst und mit feuchten Augen und verklärtem Blick über Gott und die Vollkommenheit von Seele und Geist doziert.“

      De Craon schmunzelte. Gilles hatte nicht nur Verstand im Kopf, sondern auch Witz und eine scharfe Zunge. Dafür sah er ihm gerne seine kleinen Unvollkommenheiten und Fehler nach. Der junge Mann war inzwischen fünfzehn Jahre alt, aber Geschmack an den Weibern hatte er immer noch nicht gefunden, und das obwohl Jean ihm jede Gelegenheit dazu bot und ihm schon mehrfach gute Partien für eine Heirat vorgeführt hatte. Doch Gilles zog die Gesellschaft seiner kleinen Halunken oder die der Waffenleute von Champtocé vor und wenn es ihm nach Erleichterung war, dann holte er sich irgendeinen Bauernlümmel, den hinterher sowieso kaum einer vermisste…oder er teilte das Lager mit dem Hauptmann von Champtocé, Yves de Kerma’dhec, den er vergötterte und fast genauso innig liebte, wie ihn selbst.

      De Craon seufzte bei dem Gedanken an dieses kleine Problem kurz auf, doch dann schob er es erneut von sich. Er nahm sich wieder einmal vor Gilles in ein oder zwei Jahren endlich energisch ins Gewissen reden...und es ihm gefiel oder nicht. Eine reiche Jungfer mit gutem Namen musste her und ab ins Bett, damit der Gilles einen Erben für das Vermögen de Laval-Craon-Montmorency zeugte. Dann antwortete er dem jungen Mann gutmütig und erklärte: „Claire de Saint Germain entstammt einer Familie, die seit den Tagen des ersten Kreuzzuges Handschriften über die Ars Alchimia nach Frankreich gebracht und übersetzt haben. Er ist für Deinen Geschmack vielleicht ein wenig zu philosophisch, doch glaube mir bitte: Der Mann versteht sein Geschäft und er weiß um die geheimen Lehren und Riten der Ungläubigen. Auch Flamel muss um sie gewusst haben…durch den Juden Canches. Es heißt, dass einst unweit der Stadt Mekka, die die Sarazenen heiligen, zur Zeit ihres Propheten Muhammad ein uralter Einsiedler mit Namen Ben Chasi gelebt hat. Dieser Weissager, Zauberer und Sternedeuter hat den Propheten der Sarazenen in der geheimen Kunst der Ars Alchimia unterrichtete. Als der Unterricht zu Ende war, schenkte Ben Chasi, Muhammad eine metallene Tafel, auf der die Formeln verzeichnet waren, deren Bedeutung der Prophet eben gelernt hatte. Ben Chasi eröffnete seinem Schüler damit die wahre Herkunft des Wissens; es stammte aus dem Lande Mizraims im alten Ägypten und war von dort aus nicht nur nach Chaldäa und Persien gelangt, sondern auch nach Indien und in jene Länder, wo die Sonne aufgeht. Auch den Griechen und den Römern waren diese Geheimnisse vertraut. Die Israeliten haben sie in der babylonischen Gefangenschaft kennengelernt, wo ihr Stammvater Abraham ein Schüler des Meisters der Meister, des Dreimal Großen Hermes Trismegistus geworden war. Abraham leistete Hermes den Schwur, dieses heilige Wissen –die Israeliten nennen es Kabbala- immer nur an wenige Auserwählte weiterzugeben. Durch Abraham und seine Schüler waren die Formeln schließlich bis zu den Wüstensöhnen gelangt und Ben Chasi, der Einsiedler wünschte, dass Muhammed seinerseits dieses Erbe weiterverbreitete und wahrte. Bald darauf verstarb der Einsiedler, und der Prophet würdigte den Eid, den er dem alten Lehrer geleistet hatte: Er lehrte im engsten Kreise seiner Anhänger das Geheimnis dieser heiligen Formeln. Abu Bekr, der erste Kalif, erbte schließlich die Tafeln des Ben Chasi. So verbreitete sich das uralte Wissen um den Lapis Philosophorum und seine Erschaffung bis nach Al Andalus. Du siehst, Gilles: Die Schlüssel zu unserem Manuskript sind allen bei den Orientalen – Juden und Sarazenen! Doch keiner dieser ungläubigen Ketzer vertraut Dir einfach so sein Wissen an, ganz gleich wie schrecklich Du ihn bedrohst oder erpresst. Saint Germain dagegen kennt diese Geheimnisse dank der Verwicklung seiner Familie in die Kreuzzüge. Seine Vorfahren haben lange Zeit im Heiligen Land gelebt. Vielleicht weiß er sogar, wie man das Buch des Propheten Muhammed –den Qur’an - deuten muss, um den Schlüssel von Ben Chasi wiederzuentdecken. In Outremer existiert eine Sekte, die Ahl al Haqq, über die man erzählt, sie seien auch Hüter dieses Wissens und man kann davon ausgehen, dass Saint Germains Vorfahren mit ihnen Kontakt hatten. Ich weiß, dass die Tempelritter so eng mit den Ahl al Haqq verbunden waren, dass manche von ihnen sogar ihren eigenen Glauben verleugneten und freiwillig die Lehren der Ungläubigen annahmen. Wenn es überhaupt möglich ist, das Buch des Leviterprinzen Abraham zu entschlüsseln und das Opus Major so durchzuführen, wie Meister Flamel es getan hat, dann ist es Claire de Saint Germain mit all seinen Kenntnissen und seiner Fähigkeit die Sprachen der Ungläubigen zu lesen und zu verstehen, der uns die beste Chance in die Hände legt. Er scheint im Israelitischen genauso bewandert, wie in der Sprache der Sarazenen…. Und im Augenblick ist der Mann willig und neugierig. Einen eingefangenen Juden musst Du zur Arbeit zwingen und schlau, wie die sind versuchen sie Dich sogar dann noch zu betrügen, wenn Du ihr Leben bedrohst. Und ein Sarazene würde eher sterben, als den Mund aufzumachen...oder ein kompliziertes, schwieriges Experiment vor den Augen seiner schlimmsten Feinde durchzuführen.“

      Laval nickte de Craon zu: „Ihr habt gewiss recht, Grossvater. Er ist hier, er hat viele Erkenntnisse der Mauren und der Israeliten im Originaltext studiert und wenn wir es ihm nicht gestatten, dann kann er Champtocé niemals wieder verlassen...Benutzen wir ihn vorläufig, um zu sehen was er herausfindet. Doch daneben sollten wir nicht vergessen, das Eure Bibliothek noch andere Schlüssel enthält, mit denen es unter Umständen möglich ist, dem Geheimnis des Lapis ex Coelis auf die Spur zu kommen.“

      De Craon erhob sich von dem Lehnstuhl, in dem er gesessen hatte und ging langsam und nachdenklich im Laboratorium auf und ab. Der Athenor lag still. Die langen Wandregale, in denen ordentlich aufgereiht die Substanzen standen, sahen verwaist und unberührt aus. Er nahm ein Stück weißer Kreide in die Hand und betrachtete es nachdenklich: „Du willst also versuchen, den Geist des Alchemisten Flamel aus dem Totenreich zu locken, Gilles?“

      Der junge Mann nickte. Er würde mit seinen Halunken losreiten. Sie würden natürlich nicht im Gebiet seines Großvaters jagen, sondern durch den Wald und über die Grenze verschwinden. Dort konnte er finden, was er für den Versuch benötigte...unschuldige Kinderherzen. Für ihre Hilfe verlangten der Schattenfürst und seine Dämonen immer