Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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steinalter Männer und Frauen. Er begriff schnell, dass Maeliennyd Glyn Dwyr den üblichen, höfischen Vergnügungen kaum Aufmerksamkeit schenken mochte und nur ab und an dem Drängen der jüngeren Frauen nachgab, um zur Jagd zu reiten oder Zeit mit irgendwelchen vergnüglichen Spielen oder kurzweiliger Musik und Poesie zu vergeuden. Die Herzogin war eine ernste, streng wirkende Frau, die in ihrer ganzen Art stark an seinen Freund Sévran erinnerte. Sie disputierte mit den alten Männern und Frauen und war offensichtlich in den Wissenschaften genauso bewandert, wie in der Philosophie.

      Auf den weichen Seidenkissen und bequemen Lehnstühlen der Kemenate lernte Sidonius in kurzer Zeit mehr über Aristoteles, Platon oder Plinius, als in all den Vorlesungen, die er am Collegium Sorbonianum je besucht hatte. Und er machte überraschende Bekanntschaften mit naturwissenschaftlichen Werken obskurer Gelehrter aus aller Herren Länder, die er an der Universität und während seines Studiums der Theologie und der Philosophie höchstwahrscheinlich niemals anzufassen gewagt hätte. Auch verheimlichten Maeliennyd Glyn Dwyr und ihre Vertrauten ihm – dem Freund ihres jüngsten Sohnes – nicht, dass die sogenannten Ars Notoria am Hof von Cornouailles blühten.

      In der Kemenate sprach man genauso über das Auslegen von Träumen, wie auch über Formen der Magie, in denen die geheimnisvollen Kräfte der Natur eine große Rolle spielten und die der junge Benediktiner aus dem Bauch heraus, als dem Reich der Legenden entstammend abgetan hätte, wenn er nicht mit eigenen Augen den Ernst der Debattierenden beobachtet hätte. Intuitiv wusste er, das er es hier mit Angehörigen der geheimnisvollen weißen Bruderschaft von Brocéliande zu tun hatte, zu der auch Sévrans alter Lehrer Aodrén und der Herzog von Cornouailles selbst gehörten.Gewiss, alles war ein bisschen fremd und sonderbar, doch er konnte nicht behaupten, dass diese Gespräche unheimlich waren, oder ihm in irgendeiner Form Angst einflößten, denn er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie seine eigene Mutter, als er noch ein Kind gewesen war auf ähnliche Zauberkünste zurückgegriffen hatte, um seine kleinen Krankheiten und Verletzungen zu heilen, oder um dafür zu sorgen, dass der Hausgarten reiche Ernte schenkte und die Kuh immer genügend Milch gab. Und dann war da natürlich auch noch sein Freund Sévran...

      Gelegentlich erholte sich Sidonius von der herzoglichen Gastfreundschaft in Gesellschaft seiner Mutter und begleitete sie bei Besuchen von Verwandten, Freunden und Bekannten in der Stadt Concarneau und in der Umgebung. Allerdings fühlte er sich bei diesen geselligen Zusammenkünften nicht immer ganz wohl, denn diejenigen, die sich noch gut an den kleinen Fischerjungen Szenec erinnerten, behandelten ihn in seiner strengen, schwarzen Kutte mit einer verwirrenden Mischung aus Ehrfurcht und Scheu und die anderen beobachteten ihn mit neugierigen Augen, wie ein besonders exotisches und seltenes Tier. In diesen Augenblicken wurde ihm immer bewusst, wie groß die Kluft war, die die Klosterschule von Hennebont und das Collegium Sorbonianum zwischen ihm und seiner Vergangenheit aufgerissen hatte. Daran änderte auch der sichtbare Stolz seiner Mutter über seinen gesellschaftlichen Aufstieg nur wenig.

      Sidonius’ Verwunderung über seine eigene Situation am Hof von Concarneau wurde noch zusätzlich verstärkt, als Ambrosius Arzhur ihn an einem schönen Sommerabend zu einem Spaziergang in den Gärten der Ville Close einlud, alleine und unter vier Augen. Nicht einmal Chaulliac war irgendwo zu sehen und selbst der allgegenwärtige, diensteifrige Truchsess des Herzogs machte sich rar, nachdem er den jungen Mann zu seinem Herren gebracht hatte.

      Ambrosius Arzhur wählte eine gemütliche, kleine Steinbank unter einem schönen, rot blühenden Rosenbusch als den besten Ort, um seinen jungen Begleiter darüber aufzuklären, wen er mit solch großem Aufwand nach Cornouailles holen lies, um über den Diebstahl des Flamelschen Manuskript zu beratschlagen. Die Geschichte, die der Herzog erzählte, war lange, verwirrend und gelegentlich so unheimlich, dass sie fast unglaublich schien. Es war eine Reise zurück in der Zeit...weit zurück in der Zeit und in die prächtigen Gärten und auf die blutigen Schlachtfelder von Al Andalus, in den Tagen der Blüte und des Niedergangs der maurischen Herrschaft.

      Dieser geheime Bund, dem außer Ambrosius und seinem Freund Guy de Chaulliac noch neunzehn weitere Männer und Frauen angehörten, verbarg sich hinter dem Namen eines einstmals berühmten Ritterordens: Der Orden Santiago vom Schwerte. Diese Ritterschaft war von König Alfonso VIII. von Kastilien gegründet worden, um den unablässigen Pilgerstrom über den Jakobusweg nach Santiago de Compostella vor den Übergriffen maurischer Krieger und den Überfällen allgegenwärtiger Räuberbanden in der wilden Gebirgswelt von Astrurien und Kantabrien zu schützen.

      Es war eine dunkle und hoffnungslose Zeit gewesen: An allen Fronten häuften sich die Rückschläge und Niederlagen der christlichen Fürsten gegen den Islam. Der zweite Kreuzzug ins Heilige Land war gänzlich gescheitert, nachdem zuerst die deutschen Kreuzfahrer in Anatolien in einen Hinterhalt geraten und vollständig aufgerieben worden waren und dann die Franzosen direkt nach ihrer Landung von einem ähnlichen Schicksal ereilt wurden, so dass drei Jahre später nur ein jämmerlicher und demoralisierter Haufen Jerusalem erreichte. Als auch noch der Versuch Damaskus zurückzuerobern in einem gewaltigen Blutbad endete, verließen die letzten Überlebenden gedemütigt und erschüttert Outremer und überließen die dort ansässigen Christen und Ritterorden ihrem Schicksal. Als Folge griffen die Truppen von Saladin gnadenlos sämtliche verbliebenen Stützpunkte und Trutzburgen der Europäer im Heiligen Land an: Einer seiner Feldherren - Schirukh von Homs - nahm Kairo ein und besetzte ganz Ägypten. Die verzweifelten Bitten um Hilfe gegen die Sarazenen, die der Patriarch von Jerusalem, Amalrich de Nesle und der Erzbischof von Cäsarea an die europäischen Herrscher richteten, stießen nach dieser letzten Demütigung lediglich auf taube Ohren. Der misslungene, zweite Kreuzzug hatte einen riesigen Blutzoll auf Seiten der europäischen Adelsfamilien gefordert. Die Ränge ihrer Vasallen und Kriegsleute waren erbärmlich ausgedünnt. Niemand konnte oder wollte noch zu einem weiteren Kreuzzug gegen die Sarazenen aufrufen Vier Jahre später landete zwar Graf Tankred von Lecce mit einer Gruppe Gefolgsleute in Outremer und der Konflikt mit den Sarazenen flammte vor Alexandria erneut auf, doch es musste erst zur katastrophalen Niederlage von Hattin und zum Fall von Jerusalem im Jahr 1187 kommen, um endlich die Lethargie der christlichen Herrscher Europas zu durchbrechen und Phillip II. von Frankreich, Friedrich Barbarossa den Stauffer und Richard Coeur de Lion von England zusammenzubringen, um ein mehr als dreihundertfünfzigtausend Mann starkes Kreuzfahrerheer aufzustellen und über das Mittelmeer zu schicken, damit endlich Saladin Einhalt geboten werden konnte.

      Abgesehen von der Demütigung des zweiten Kreuzzuges erklärte sich das Desinteresse am Schicksal von Outremer allerdings zum Teil auch mit der Situation auf der iberischen Halbinsel: Der dortige Kampf gegen die Sarazenen war ein genauso heiliger Krieg, wie der Konflikt auf der anderen Seite des Mittelmeers, doch in diesem Fall häuften sich nicht die Niederlagen, sondern die Erfolge. Die Christen profitierten davon, dass die maurischen Fürsten untereinander ziemlich zerstritten waren und wenn es ihnen recht und billig schien, zeitweise sogar ganz schamlos mit ihren Feinden zusammenarbeiteten, nur um einem ihrer eigenen Glaubensbrüder ein Bein zu stellen.

      Hier auf der iberischen Halbinsel war es einfacher und billiger den ständigen Aufrufen irgendwelcher Päpste im fernen Rom zu folgen, die den Heiligen Krieg forderten. Man konnte sich sozusagen vor der eigenen Haustür Gottes Gnade, Sündenerlass und seiner Seele Seligkeit erkämpfen und gleichzeitig auch noch finanziell ein gutes Geschäft machen. Traditionell bestanden enge wirtschaftliche und persönliche Verbindungen zwischen den Christen und den Muselmanen und der Kampf gegen die Araber hielt die christlichen Könige nicht davon ab, Handel mit ihnen zu treiben und gleichzeitig auch noch untereinander Krieg zu führen. Nicht einmal die allerchristlichsten Heerführer, wie zum Beispiel der Baske Don Rodrigo Diaz de Bivar, den man auch „El Cid“ nannte, scheuten davor zurück aus Gründen eigener Machtpolitik oder schlichtweg um des Goldes Willen Verträge mit den Königen der Taifas abzuschließen, um zeitweilig auf Seite der Muselmanen zu kämpfen und bei dieser Gelegenheit gleich noch ein paar Privatfehden zu regeln.

      Alles in allem: Die iberische Halbinsel und die Reconquista erwiesen sich als weitaus ertragreicher und interessanter, als der mühsame und höllisch kostspielige Krieg im Heiligen Land selbst.

      Auch die Ritter von Santiago kehrten dem Camino kaum fünf Jahre nach ihrer Gründung und Bestätigung durch eine Bulle von Papst Alexander den Rücken, um sich eifrig an dem widerwärtigen Spiel um Gold und Macht