Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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war zeitlich begrenzt. Letztendlich mussten sie die Zeit gut einteilen, um das millionenschwere Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Schließlich war das Hauptziel dieser Mondlandung nicht ihr Vergnügen, sondern vielmehr wissenschaftliche Experimente, die ihnen einen Eindruck über die Geschichte und den Ursprung des Erdtrabanten vermitteln sollten.

      Es war wirklich unglaublich, wie leicht Jack das Laufen fiel, trotz des schweren Anzugs. Er machte ein paar übermütige Sprünge. Gene und das Mondauto waren ein kleines Stück zurückgeblieben. Jack lief zum Rande des Kraters. Hinter ihm breitete sich das Meer der Heiterkeit aus, ein großer Krater, der jetzt wahrscheinlich schon älter war, als die Menschheit es jemals werden würde.

      Mit einem Seufzer, der aus dem tiefsten Inneren seiner Seele hervorzudringen schien, wollte Jack sich gerade umdrehen und zum Mondauto zurückkehren, als etwas seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Eine optische Täuschung? Jack war sich nicht sicher, aber irgendetwas hatte das stete Licht, das sich konstant über die Mondoberfläche ausbreitete, seltsam gebrochen. Langsam näherte er sich der Stelle und bückte sich. Doch es handelte sich wiederum um Sand, allerdings mit einer merkwürdig glasartigen Struktur. Vielleicht von Interesse. Jack zog einen seiner Probenbehälter aus der Halterung und verschloss ein paar Proben luftdicht für eine spätere Untersuchung.

      „Hast du was entdeckt?“, fragte Gene über Funk. Doch Jack hörte nicht mehr hin. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick vom Rande des Kraters in die darunter liegende Tiefebene. In einem unendlich kurzen Augenblick verlor er sich völlig in dem Anblick, der sich ihm eröffnete. Wie erstarrt blieb er am Rande des Kraters stehen, unfähig sich zu rühren, oder einen weiteren klaren Gedanken zu fassen. Genes besorgte Stimme verlor sich in dem lauten Rauschen unzähliger Stimmen in seinem Verstand, die verzweifelt nach einer Erklärung für das suchten, was seine Augen zu sehen glaubten.

      „Jack? Alles in Ordnung?“

      „Jack?“

      Es dauerte eine Weile, bis Gene unbeholfen bis zu ihm herangehüpft war.

      „Hey, Kumpel, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Gene schwer atmend, als er Jack eine Hand auf die Schulter legte.

      Statt zu antworten, deutete Jack wortlos den Abhang des Kraters hinunter. In diesem Moment erschien es ihm, als wären ihm sämtliche Worte abhandengekommen. Keine Sprache der Welt hätte ausgereicht, das zu beschreiben, was Jack in diesem Moment fühlte. Also blieb er einfach regungslos stehen und ließ den Anblick für sich selbst sprechen. Jack konnte über Funk hören, wie Gene scharf einatmete. „Was zum Teufel ist das?“, stammelte er. Seine Hand rutschte Jack von der Schulter und blieb kraftlos an seiner Seite hängen.

      Sie standen lange nebeneinander, ohne ein Wort zu sagen. Zwei Männer, die sich verzweifelt bemühten, das Gesehene mit ihrem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen. Erst als über Funk zum wiederholten Male der Status angefordert wurde, räusperte sich Gene, in dem schwachen Versuch, sich selbst wieder zur Besinnung rufen. Seine Stimme klang verloren und schwach, als er leise flüsterte: „Leute, das werdet ihr nicht glauben!“

      2) Deutschland, München, 03. Juli 2007

      Ein lautes Klingeln ließ Jan aus dem Schlaf hochschrecken. Instinktiv suchte seine Hand nach dem Wecker auf dem kleinen Nachtisch neben dem Bett. Erst nach einigen Sekunden und einigen vergeblichen Versuchen, das nervige Klingeln mit wiederholten Anschlägen auf den Wecker zu beenden, realisierte sein noch völlig übermüdetes Gehirn, dass das störende Geräusch von seinem Telefon stammte. Nur mühsam öffnete er ein verschlafenes Auge. 6:25 zeigte das blinkende Display seines Radioweckers. In fünf Minuten hätte er sowieso aufstehen müssen, aber jede einzelne Minute Schlaf war Jan so früh am Morgen heilig wie einem Gottesgläubigen der Gang zur Kirche.

      Schlecht gelaunt und einige unverständliche Worte brummelnd, schlurfte Jan in Richtung Telefon. Bildete er sich das nur ein, oder hatte das Klingeln eine geradezu nervige Dringlichkeit angenommen?

      „Ja?“, krächzte Jan unfreundlich in den Telefonhörer. Um diese Uhrzeit konnte er nicht den Ehrgeiz aufbringen, auch nur annäherungsweise wie ein zivilisiertes Lebewesen zu klingen.

      „Professor Seibling!?“, parierte eine Jan unbekannte Stimme fragend. Nun ja, eigentlich ähnelte der Tonfall eher einer Feststellung als einer Frage.

      „Wer spricht denn da?“, fragte Jan irritiert und unterdrückte nur mühsam ein Gähnen.

      „Ich freue mich, Sie zu Hause anzutreffen“, fuhr die Stimme unbeirrt fort. „Wir haben einen Auftrag für Sie! Wir würden Sie gerne treffen, um Weiteres zu besprechen. In etwa einer Stunde wird Sie ein Fahrer abholen. Bitte halten Sie sich bereit.“

      Eine kurze Pause, dann ergänzte die Stimme mit an Arroganz grenzender Selbstsicherheit: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass das Telefon nicht das geeignete Medium ist, über mein Anliegen im Detail zu sprechen. Sie werden alles Notwendige von meinem Fahrer erfahren. Ich weiß, Sie kennen mich nicht, aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie dieses Treffen nicht bereuen werden.“

      Der Mann am Telefon wirkte nicht so, als würde er Einwände erwarten. Etwas verunsichert durch diese Haltung und immer noch etwas gereizt von der frühen Störung, wollte Jan zu einer unfreundlichen Erwiderung ansetzen, aber das Tuten in der Leitung deutete darauf hin, dass die unbekannte Person auf der anderen Seite bereits aufgelegt hatte. Ohne seine Antwort abzuwarten.

      Perplex kratzte sich Jan am Kopf. Wenn der Unbekannte glaubte, er würde auf einen so billigen Scherz hereinfallen, dann hatte er nicht mit der frühmorgendlichen Pfiffigkeit von Dr. Jan Seibling gerechnet. An jedem anderen Tag hätte er es sich nicht nehmen lassen, mitzuspielen, aber heute hatte er partout keine Zeit für solche Sperenzchen. Bereits um neun Uhr hatte er die nächste Vorlesung. Als Professor wollte er seine Studenten nicht warten lassen. Immerhin erwartete Jan im Gegenzug auch von seinen Studenten Pünktlichkeit; was er sie in regelmäßigen Abständen auch spüren ließ. Er zuckte mit den Schultern, den Anruf hatte er in diesem Moment bereits vergessen.

      So langsam setzte auch sein klarer Verstand ein und ließ die dunklen Träume der Nacht im neuen Licht des beginnenden Morgens erscheinen. Er hatte wieder von Alissa geträumt, wie so oft in den letzten Monaten. Ihr Gesicht verblasste bereits in den schummrigen Nebeln eines durch die Realität verdrängten Traumes; den bitteren Geschmack der Demütigung konnte er allerdings immer noch auf seiner Zunge schmecken. Der Traum war immer der Gleiche: Sie schien zu schweben, direkt vor ihm in der Luft. Er war unfähig, sie zu berühren oder einzuholen. Ihr Gesichtsausdruck verriet Mitleid und ihr Lächeln war spöttisch, als sie wie so viele Nächte zuvor die Worte sprach, die seine Welt zerrüttet hatten: „Es ist vorbei.“ Er rannte hinter ihr her, versuchte, sie in seinem Leben zu halten. Mit jedem Schritt spürte er, wie die Verzweiflung ihm die Kehle abschnürte, während ihre höhnischen Worte in seinen Ohren widerhallten und die Demütigung sein Herz vergiftete. Meistens wachte er auf, wenn ihr Bild am Horizont seines Traumes verschwamm und er erschöpft auf die Steine sank, die sein schlafender Verstand ihm in den Weg gelegt hatte.

      Mit einem resignierten Kopfschütteln brachte Jan sich in die Wirklichkeit zurück und verdrängte die Verzweiflung der Nacht, erneut. Zum Glück hatte er seine Arbeit, die ihm gerade in der letzten Zeit viel Halt gegeben hatte. Seine Berufung zum Inhaber für den Lehrstuhl für die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik war eine große Ehre, vor allem, weil Jan mit seinen 35 Jahren außergewöhnlich jung für einen solchen Titel war. Jan hatte sein Leben lang hart auf dieses Ziel hingearbeitet, und seine Hingabe an seinen Beruf war es auch, die ihm seine hervorragende Reputation eingebracht hatte. Zugegebenermaßen hatte er allerdings auch viel Freude daran, zu unterrichten und zu forschen, und seine Vorlesungen hielt er, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, immer noch selbst.

      Mit der Hand an seinen Bartstoppeln und einem Seufzer auf den Lippen machte sich Jan auf den Weg ins Badezimmer.

      Erst als es schellte, fiel ihm der Anruf wieder ein. Fassungslos starrte er in Richtung Eingangstür, als würde er allein durch pure Willensanstrengung jenen ungebetenen Gast, der impertinent auf der anderen Seite der Tür seine Klingel traktierte, zum Verschwinden bringen können.