Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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Jan sich näher mit der merkwürdigen Apparatur am Zugang zum Glaswürfel beschäftigen konnte, betraten zwei weitere Personen den Raum. Den linken Mann erkannte er sofort: Der deutsche Außenminister, Ferdinand Bauer, zeigte sich wie bei allen öffentlichen Auftritten in einem grauen, eng geschnittenen Anzug, der immer eine Nummer zu klein zu sein schien. Sein graues Haar hielt er nur mit ausreichend Gel in Form.

      Der andere Mann hingegen war Jan unbekannt. Er trug einen schwarzen Anzug mit Krawatte und erzeugte auf den ersten Blick den Eindruck, als ob Begriffe wie Humor und Freundlichkeit nicht zu seinem Sprachschatz gehören würden. Als er die ersten, durch einen starken amerikanischen Akzent getragenen Worte an Jan richtete, verstärkte sich dieser Eindruck sogar noch. Jedes seiner Worte betonte er in einer eher getragenen und ernst anmutenden Art und Weise, als würde er jeden Satz sorgsam abwägen, bevor er ihn aussprach. Seine Augen musterten Jan kritisch. Jan fühlte sich schlagartig an die erste Stunde mit seiner strengen Mathematiklehrerin in der 7. Klasse erinnert, in der er sich wie jetzt einer abschätzigen, fordernden und kalten Begutachtung hatte stellen müssen. Dieser Blick deckte die eigenen Unzulänglichkeiten schonungslos auf und ließ jeden nackt und schutzlos zurück.

      „Guten Tag, Professor Seibling. Ich bin sicher, Sie warten bereits auf eine Erklärung, für diese...“, er machte eine gespielt schwammige Bewegung mit der linken Hand, als ob er nach dem richtigen Wort suchen würde, „ ...sagen wir, Zusammenkunft. Mein Name ist Dr. Patterson, Dr. Brian Patterson.“

      Er reichte Jan die Hand und zeigte mit der anderen auf den deutschen Außenminister. „Herr Bauer war so freundlich, uns bei der Kontaktaufnahme zu unterstützen.“ Jan schüttelte auch Ferdinand Bauer die Hand, doch auch aus Bauers Gesichtsausdruck wurde er nicht schlau. Der Außenminister wirkte ebenso fehl am Platze wie Jan sich fühlte.

      „Bitte folgen Sie mir in unseren Kubus, damit wir ungestört besprechen können, warum Sie eigentlich hier sind.“

      Mit einem kurzen Schritt trat Patterson zum Ziffernblock und gab mit einer geübten Handbewegung eine Nummer ein, worauf sich die Glastür mit einem leisen Zischen öffnete. Auf den Stühlen im Inneren des Würfels saß es sich hart und unbequem. Erst in diesem Moment dämmerte es Jan, dass dieser Würfel keinem anderen Zweck diente, als Gespräche nach außen abzuschirmen; ein Verhörzimmer, das Unterhaltungen absolute Diskretion garantierte. Allein die Wände maßen mehrere Zentimeter im Durchmesser, und bis auf das spärliche Mobiliar gab es keine Möglichkeiten, Wanzen oder ähnliche Abhöreinrichtungen versteckt anzubringen. Die dicke, durchsichtige Tür stellte den einzigen Zugang zum Kubus dar. Seitdem sie verschlossen war, war auch der geschäftig wirkende Geräuschpegel vom Flur verstummt. Eine unangenehme Stille erfüllte den beängstigend eng wirkenden Raum. Verunsichert rutschte Jan auf dem harten Stuhl nach hinten. Wenn er nichts mehr von dem geschäftigen Treiben im Gang vor diesem Zimmer hören konnte, würde ihn auch keiner mehr hören. Kein Laut würde nach außen dringen. Kein Mucks, kein Schrei.

      Jan lächelte verlegen, als ihm bewusst wurde, wie albern diese Sorge war. Vor ihm saß kein anderer als der deutsche Außenminister, ein ranghohes Regierungsmitglied eines demokratischen, zivilisierten Staates. So merkwürdig diese ganze Situation auch anmuten mochte, ihm drohte mit Sicherheit keine Gefahr. Jan zwang sich, Patterson und Bauer in die Augen zu blicken und sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen.

      „Sie sitzen wegen Ihrer Beziehung zu Dr. Alissa Bracke hier“, kam Patterson ohne Umschweife zur Sache, nachdem er ein paar Sekunden quälende Stille hatte verstreichen lassen. Jan musste sich verkneifen, bei der Erwähnung des Namens scharf einzuatmen. Dennoch konnte er nicht vermeiden, dass er sichtlich zusammenzuckte.

      „Alissa?“, formten seine Lippen lautlos. Es ging um seine Alissa? Als hätte Patterson auf einen Knopf gedrückt, der die selbst errichteten Sperren seiner Erinnerung lösten, stürmten Bilder und Gedanken wie eine Flutwelle auf ihn ein: Der Augenblick, als er Alissa das letzte Mal gesehen hatte. Ihre dunklen Augen, die ihn forschend, fast durchdringend ansahen, als sie die verhängnisvollen Worte sprach: „Jan, ich denke, die Sache mit uns hat keinen Sinn mehr. Unsere Ziele im Leben sind einfach zu unterschiedlich.“ Er erinnerte sich an den Schmerz, die Fassungslosigkeit und seine Tränen. Viele Tränen. Dunkel tauchten die Bilder seiner Flucht durch die Kneipen Münchens vor seinem inneren Auge auf. Als er am nächsten Tag nach Hause gekommen war, war Alissa bereits ausgezogen. Das war mittlerweile ein Jahr her und schmerzte dennoch wie am ersten Tag. Seit jenem letzten Gespräch hatte er Alissa weder gesehen, noch etwas von ihr gehört. Nach neun gemeinsamen Jahren hatte sie ihn fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.

      Im Bruchteil einer Sekunde eroberte der Schmerz wieder die Oberhand über sein Denken. Der Schmerz, den er in den letzten Monaten nur mühsam unter Kontrolle gehalten hatte und der jede einsame Nacht sein geplagtes Herz quälte. „Was ist mit Alissa?“, presste er nur unter Anstrengung zwischen seinen Zähnen hervor, überwältigt von der Intensität der Erinnerungen, mit irritiertem Blick auf Patterson. Es war jedoch Bauer, der antwortete: „Dr. Bracke wird vermisst.“

      5) Deutschland, München, 03. Juli 2007

      „Wie, vermisst?“ Jan fühlte sich wie in einem schlechten Film mit absurder Handlung. Nur hätte er in diesem Fall die Fernbedienung nehmen und auf einen anderen Kanal schalten können, anstatt sich einer Situation stellen zu müssen, die keinerlei Regeln zu folgen schien. „Ich meine, was soll das heißen?“, fügte er nervös stammelnd hinzu. Er fühlte sich, als müsste er sich vor Gericht einer Anklage stellen, deren Wortlaut ihm nicht bekannt war. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Alissa und ich leben schon seit fast einem Jahr getrennt. Seitdem habe ich nichts von ihr gesehen oder gehört.“

      Er atmete tief ein, um seiner aufschäumenden Emotionen Herr zu werden. Obwohl viel Zeit verstrichen war, hatte Patterson ihn an einem wunden Punkt getroffen. Seine wenigen Worte hatten ausgereicht, um Jan in ein Gefühlschaos zu stürzen, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Angst, Sorge, Verärgerung, Trauer; ein Potpourri der Emotionen schlug schlagartig wie eine Flutwelle über seinem überforderten Verstand zusammen. „Was erwarten Sie von mir?“, flüsterte er überwältigt, bevor er verstummte. Ein schwaches Lächeln sollte Selbstvertrauen ausstrahlen, verkümmerte jedoch in einer verzerrten Maske.

      In Pattersons durchdringendem Blick blitzte kaum verhohlene Missbilligung auf, als würde er in Jan lesen können wie in einem seichten Liebesroman; ein Blick, der Jans mühselig errichtete Fassade durchdrang und direkt bis zum Grunde seiner verletzten Seele vorstieß.

      „Nun, die Frage ist sicherlich berechtigt. Uns ist natürlich bekannt, dass Sie und Dr. Bracke schon lange nicht mehr partnerschaftlich liiert sind.“

      „Allerdings waren Sie mit Dr. Bracke mehr als neun Jahre zusammen, wenn unsere Informationen richtig sind“, mischte sich überraschend Bauer in das Gespräch ein. „Darum liegt die Vermutung nahe, dass Sie zumindest ansatzweise in Dr. Brackes Forschungsgebiet bewandert sind.“

      „Moment, Moment!“ Jan hob abwehrend die Hände. Das Gefühl, von seinen Gastgebern wie von einem Schwerlasttransport überrollt zu werden, wurde beinahe unerträglich. Jan behagte es nicht, derart in die Enge getrieben zu werden, insbesondere, wenn er noch nicht einmal genau wusste, worum es eigentlich ging. Von den anfänglich widersprüchlichen Gefühlen, die in seinem Innersten um Vorherrschaft kämpften, schlug sich eine Emotion zur Oberfläche durch: Verärgerung. Verärgerung darüber, dieser Einladung gefolgt zu sein. Verärgerung über die Art und Weise, wie die beiden Herren ihn vorführten, ohne ihm auch nur den Ansatz einer Erklärung zu liefern. Verärgerung darüber, vor Fremden seine rückblickend mehr als schmerzhafte Beziehung zu Alissa offenlegen zu müssen.

      „Ich frage Sie noch einmal: Was erwarten Sie von mir? Sie rufen mich frühmorgens an, zerren mich hierher, ohne mir irgendwelche Informationen über den Grund Ihrer Einladung zu geben, und besitzen anschließend noch die Unverfrorenheit, mit mir über mein Privatleben diskutieren zu wollen!? Es tut mir leid, meine Herren, aber so kommen wir nicht auf einen grünen Zweig. Sie haben zwei Möglichkeiten: Sie sagen mir, was sie tatsächlich von mir wollen, oder wir gehen getrennte Wege.“

      Er machte Anstalten, vom Tisch aufzustehen, aber Patterson gab ihm