Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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ein Tuch lose um den Kopf gebunden. Er musste es beim Rennen festhalten, damit er es nicht unterwegs verlor. „Sie sollten sich das ansehen, in Parzelle B3 haben wir etwas gefunden!“ Pedro schrie diese Worte bereits zu ihr herüber, obwohl er noch knapp fünfzig Meter von ihr entfernt war. Pedro war Student der Archäologie, allerdings bereits im siebten Semester. Inzwischen hatte er ein erkleckliches Maß an Erfahrung auf zahlreichen Exkursionen sammeln können; zumindest genug Erfahrung, um nicht bei jedem kleinen, ausgegrabenen Splitter in helle Aufregung zu verfallen. Susanna hatte Pedro jedenfalls noch nie so aufgeregt gesehen, was an sich bereits ein Anzeichen dafür war, dass Pedro sie nicht zu einem kleinen Schwätzchen einladen wollte. Ihr Magen zog sich plötzlich fast schmerzhaft zusammen. Sollte der lang ersehnte Zeitpunkt endlich gekommen sein?

      Susanna musste sich sehr zurückhalten, um nicht ebenfalls zur Parzelle B3 zu laufen, und um wenigstens den Anschein von Würde bewahren zu können. Nur mühsam verlangsamte sie ihre Schritte, obwohl fast jede Faser in ihrem Körper vor Anspannung schmerzte. Auch in Pedros Gesicht blieb die Aufregung nicht folgenlos, rote Flecken breiteten sich quer über seine Wangen aus. Mit seinen aufgerissenen Augen und den krampfhaft zusammengebissenen Lippen wirkte er noch jünger als ohnehin schon. Er erinnerte Susanna irgendwie an einen kleinen Jungen, kurz vor der Bescherung an Weihnachten. Feine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, als er sie eilends vorantrieb.

      „Unglaublich“, murmelte er. „Unglaublich. Das müssen Sie mit eigenen Augen sehen.“

      Erst als sie die ersten Ausläufer der Grabungsparzelle erreichten, verlangsamte Pedro seinen Schritt. Mit einer hektischen Kopfbewegung nickte er sprachlos in Richtung des ausgehobenen Loches. Eine kleinere Gruppe Ausgrabungshelfer hatte sich am Fuße der Grube versammelt und versperrte ihren Blick auf die aktuelle Grabungsstelle. Wie Hühner scharrten sie sich an der Leiter zusammen und gackerten so aufgeregt untereinander, dass es Susanna schwer fiel, herauszuhören, wovon sie eigentlich redeten. Viele von ihnen waren Freiwillige oder junge Studenten, die das erste Mal aktiv an einer Ausgrabung teilnahmen. Jeder noch so kleine Fund hielt das Feuer ihrer Entdeckerlust am Brennen und wurde in der Regel so ekstatisch gefeiert wie die spektakuläre Entdeckung eines ungeöffneten, reich verzierten Grabes eines unbekannten ägyptischen Pharaos.

      Vielleicht handelte es sich auch in diesem Fall nur um einen falschen Alarm, doch Susanna würde ihnen deswegen keinen Vorwurf machen. Selbst kleine Funde hielten die Motivation der Gruppe aufrecht, insbesondere, da Susanna ihnen bewusst vorenthalten hatte, was das eigentliche Ziel ihrer Exkavation war. Ihr Grabungsteam war immer noch der Meinung, sich auf der Suche nach altrömischen Ruinen zu befinden. Susanna hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sie alle einzuweihen und mit ihnen die unfassbare Wahrheit zu teilen. Allerdings war sie sich noch nicht einmal sicher, ob sie selbst an die Dinge glaubte, nach denen sie hier suchte. Wie hätte sie einer Schar von unerfahrenen Ausgrabungshelfern überzeugend darlegen sollen, dass sie nichts Geringeres versuchten, als die Geschichte neu zu schreiben, wenn ihr selbst die Vorstellungskraft fehlte, daran zu glauben?

      Insofern war ihr die Entscheidung leicht gefallen. Je weniger von der ganzen Sache wussten, desto besser. Ein Medienrummel war das letzte, was Susanna in dieser Situation hätte gebrauchen können. Allerdings hatte sich auch noch niemand beschwert, zu wenig über das Ziel ihrer Bemühungen zu wissen. Alle verrichteten ohne zu murren zuverlässig ihren Dienst und gaben sich mit den wenigen Erklärungen, die Susanna ihnen gab, zufrieden.

      Nachdem Susanna die kleine Holzleiter hinunter geklettert war, die in die Grube führte, machte ihr die aufgeregte Meute Platz, damit sie sich selbst ein Bild von der Entdeckung machen konnte. Als erstes fielen ihr die Stufen ins Auge, die irgendwer vor langer Zeit in den blanken Stein gehauen haben musste. Die Steintreppe bohrte sich tief in den Felsen und formte zwischen den Felswänden einen beinahe beengend wirkenden Schacht. Sie folgte dem Verlauf der Stufen ein paar weitere Schritte; die angespannten Blicke der anderen brannten in ihrem Nacken.

      Nach zwei Metern endete die Treppe in einem Berg Sand, der ihr weiteres Vorkommen verhinderte. Pedro und seine Helfer hatten bereits begonnen, ihn beiseite zu schaffen, ohne jedoch ihre Arbeit zu Ende zu bringen. In der Ecke hatten sie etwas freigelegt, das Susanna aus der Entfernung noch nicht erkennen konnte. Langsam kroch sie auf allen Vieren in die lang gezogene Öffnung, die sich durch die Felswände an den Seiten der Steinstufen bildete, um einen genaueren Blick auf das werfen zu können, was offensichtlich Pedros Aufregung ausgelöst hatte. Sie brauchte keine weitere Sekunde, um zu verstehen, auf was Pedro gestoßen war. Ungläubig streckte sie ihren Finger aus, um zu erfühlen, was sie ihren Augen nicht glauben wollte. Gold. Zwar bedeckte eine leicht grünliche Patina das Edelmetall, aber die ließ sich mit einem leichten Reiben des Fingers problemlos entfernen. Mit beiden Händen begann Susanna, den Sand beiseite zu schieben. Zutage trat eine Art Scharnier, leicht golden glänzend. Das Scharnier schien von massiven Metallbolzen durchzogen zu sein, die oben und unten an einer dicken Metallplatte angebracht waren. Das Gold diente vermutlich nur der Beschichtung; ein komplettes Scharnier aus Gold wäre nicht in der Lage gewesen, eine massive Tür zu tragen. Dafür war das Edelmetall viel zu weich. Dennoch hatte Susanna mit der üppigen Goldlegierung bereits jetzt ein kleines Vermögen vor Augen, obwohl bislang nur ein kleiner Teil freigelegt worden war; vom archäologischen Wert ganz zu schweigen.

      Susanna drehte sich um und blickte Pedro ungläubig in die Augen. „Ist dir klar, was wir hier gefunden haben?“, fragte sie, überwältigt vom Augenblick. Pedros Miene blieb unbewegt, aber das Blitzen in seinen Augen verriet, dass er sehr genau wusste, was er vor sich hatte. Sie waren einer großen Sache auf der Spur. Susanna wusste, dass sie ihren Ausgrabungshelfern ab dem heutigen Tag ein paar weitere Erklärungen schuldig bleiben würde. „Meine Kenntnisse könnten mich trügen“, erwiderte Pedro mit einem verschwörerischen Grinsen, „aber wenn ich nicht falsch liege, haben wir etwas gefunden, das es eigentlich nicht geben dürfte.“

      4) Deutschland, München, 03. Juli 2007

      Jan wurde von Max durch einen Nebeneingang in die amerikanische Botschaft eingeschleust. Doch auch auf diesem Wege konnten sie nicht die strengen Sicherheitsmaßnahmen umgehen, die das Gebäude nahezu hermetisch abriegelten. Obwohl Max Anwesenheit sich durchaus günstig auf die Dauer der Sicherheitsuntersuchung auszuwirken schien, wurde Jan mit akribischer Sorgfalt von einem Mann im schwarzen Anzug abgetastet. Eine kleine Ausbuchtung auf der linken Seite seines Jacketts verriet die Anwesenheit einer Waffe; und die Haltung des Mannes zeigte den sicheren Stand eines Menschen, der in dem Umgang mit Problemen militärisch geschult war. Beim Anblick des Wachpostens konnte Jan immer noch nicht fassen, dass er tatsächlich dieser merkwürdigen Einladung gefolgt war. Seine Neugier war sicherlich in vielerlei Hinsicht eine seiner Stärken, leider öfters auch ein Fluch. Ob es sich in diesem Fall um das erste oder um das letztere handelte, vermochte Jan noch nicht zu sagen. Aber um ehrlich zu sein; er hätte es sich wahrscheinlich nie verziehen, die Einladung auszuschlagen, ohne mehr über die Hintergründe des Anrufs und die Mitteilung des Außenministers zu erfahren.

      Nachdem sie die Kontrollen passiert hatten, führte Max Jan an einer Reihe von Büros vorbei. Die Büros waren ausnahmslos in hektische Betriebsamkeit getaucht und untermalten den anhaltenden Geräuschpegel der Gespräche mit dem Klappern von Computertastaturen und dem Klingeln von Telefonen. Doch keine der anwesenden Personen nahm von Jan oder seinem Begleiter Notiz. Unbemerkt gelangten sie bis zum Ende des Korridors.

      Die Tür, auf die Max letztendlich deutete, war verschlossen. Im Gegensatz zu den anderen Räumen drang kein Laut zu ihnen auf den Flur. Wortlos geleitete er Jan in das dahinter liegende Zimmer. „Bitte warten Sie hier, Professor Seibling. Man wird sich sofort mit Ihnen beschäftigen!“, verkündete Max mit einem kurzen Nicken und zog die Tür hinter sich zu. Jan blieb allein und irritiert zurück.

      Das Zimmer war leer, abgesehen von einem großen gläsernen Würfel, in dessen Mitte sich ein Tisch und sechs Metallstühle befanden. An der Vorderseite befand sich eine große, durchsichtige Tür, die weder Griff noch Scharniere zu besitzen schien. Offensichtlich war sie nur über die Eingabe einer Ziffernfolge in ein Nummernfeld zu öffnen, das fest verschraubt am Ende eines Metallfußes vor der Tür thronte. Merkwürdig. Durch zwei große Fenster fiel Licht auf den Glaskasten und tauchte den Raum in eine Welt glitzernder Farben und Lichteffekte. Die