Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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Vertrag zu sich heran und musterte Jans Unterschrift kritisch. „Sie wissen, was Sie gerade unterschrieben haben?“, fragte er misstrauisch. „Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir hier nicht von einem Handyvertrag reden, den Sie innerhalb von zwei Wochen widerrufen können?“

      „Schon klar“, wiegelte Jan ab. „Ich weiß, wozu ich mich gerade verpflichtet habe.“ Er nickte Patterson auffordernd zu. „Also? Worum geht es hier?“

      „Nun gut“, murmelte Patterson zufrieden. „Ich sehe keinen Grund, Ihnen den wahren Grund unseres Treffens weiter vorzuenthalten. Kurz gesagt; Dr. Bracke hat für uns nach Atlantis gesucht.“

      „Atlantis!?“, lachte Jan irritiert auf. Mit allem hätte er gerechnet, nur nicht damit. „Atlantis!?“, wiederholte er noch einmal, als ob er damit Pattersons Aussage etwas mehr Sinn verleihen könnte. „Das ist doch Blödsinn! Atlantis ist nichts anderes als ein Hirngespinst eines griechischen Philosophen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Alissa für eine solch haarsträubende Geschichte gewinnen konnten!“

      „Dr. Bracke hat anfänglich ähnlich reagiert wie Sie.“ Patterson stand auf und machte einen Schritt auf den Ausgang zu. „Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann werde ich Ihnen zeigen, was ihre Meinung letztendlich geändert hat.“ Einladend hielt er Jan seinen ausgestreckten Arm hin. „Vertrauen Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.“

      Skeptisch musterte Jan Patterson. Bislang war das ganze Gespräch sehr merkwürdig verlaufen. Noch immer war ihm nicht klar, worum es bei der ganzen Sache überhaupt ging. Wahrscheinlich wäre es in diesem Moment schlau gewesen, einfach nach Hause zu gehen und zu vergessen, was er heute gehört hatte. Dummerweise konnte er das nicht, zumindest, solange Alissa in Gefahr schwebte. Vorausgesetzt natürlich, Patterson sagte die Wahrheit. Allerdings, was hatte er zu verlieren, nachdem er den Knebelvertrag unterschrieben hatte? Zumindest konnte er sich anhören, was Patterson zu sagen hatte. Wenn ihm seine Antworten nicht gefielen, konnte er schließlich immer noch gehen.

      „Nun gut. Allerdings müsste ich kurz in meiner Universität anrufen und mich für heute abmelden.“

      „Keine Sorge“, sagte Patterson mit einer unverschämt anmutenden Arroganz, „Ihr Einverständnis voraussetzend, haben wir uns die Freiheit genommen, die Sache bereits in die Hand zu nehmen. Ich bin sicher, Sie werden sich dazu entscheiden, unser Angebot anzunehmen. Wir werden ihre Dienste etwas länger in Anspruch nehmen müssen, deswegen sind Sie die nächsten Wochen vorsorglich krankgeschrieben.“

      6) Deutschland, München, 03. Juli 2007

      Bill lächelte zufrieden. Die Mappe enthielt alle Informationen, die er für seinen Auftrag benötigte. Bills Auftraggeber hatte sich mit der Ausarbeitung dieser kurzen Vita selbst übertroffen. Tatsächlich listete sie sogar mehr Details auf, als eigentlich für einen ersten Eindruck der Zielperson notwendig gewesen wären, ein paar Belanglosigkeiten, irrelevante private Informationen. Doch Bill wusste auch diese augenscheinlich unnützen Trivialitäten zu schätzen. Es konnte nie schaden, seinen Opponenten gut zu kennen. Das half, Überraschungen zu vermeiden.

      Bill blätterte erneut durch die Seiten. Interessanterweise hatte auch sein Auftraggeber mit seiner akribischen Vorbereitung mehr über sich verraten, als er beabsichtigt hatte. Die wenigen handschriftlich beigefügten Zeilen verrieten einen gewissenhaften, aber auch verbissenen Charakter, zielgerichtet, allerdings mit leichtem Hang zu blindwütigem Fanatismus. In seinem Job konnte sich Bill seine Auftraggeber nicht immer aussuchen, deswegen hatte er gelehrt, vorsichtig zu sein. Vertraue niemandem. Eine Regel, die ihm bisher immer gute Dienste geleistet hatte, genau wie seine oberste Direktive: Vorbereitung ist alles.

      Er widmete sich der Seite, die aufgeschlagen auf seinem Schoss lag. Inzwischen kannte er sie beinahe auswendig, wie fast alle Seiten der Mappe. Wollte Bill bei dieser Mission erfolgreich sein, durfte er sich keinen Fehler erlauben. Und dazu gehörte, sich jedes Detail gewissenhaft einzuprägen. Der Inhalt der Seite ließ sich in knappen Worten zusammenfassen.

      Dr. Jan Seibling verdiente sich sein Gehalt als Professor am Lehrstuhl für die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seine Bankauszüge zeugten von einem zwar nicht üppigen, dennoch von einem überdurchschnittlich hohen Gehalt eines Beamten, das mittlerweile auf den Bankkonten ein ausreichendes Finanzpolster geschaffen hatte. Laut Vita war er gerade 35 Jahre alt geworden, alleinstehend, Single seit etwa einem Jahr. Seine Verlobte, Dr. Alissa Bracke, hatte ihn verlassen, Gründe dafür listete die Mappe allerdings nicht auf. Seit der Trennung lebte Seibling zurückgezogen. Mit seinen Freunden und Bekannten traf er sich nur noch sporadisch am Wochenende, in der Woche blieb er meistens bis in die späten Abendstunden in der Universität. Seine Familie lebte nicht in unmittelbarer Nähe. Seine Eltern, offensichtlich ein fideles Rentnerehepaar, hatten sich auf einen Altersruhesitz in Florida zurückgezogen. Seiblings einzige Schwester arbeitete derzeit in einem Krankenhaus in England. Sie telefonierten selten, hauptsächlich zu Feiertagen.

      Bill blickte von den Unterlagen auf. Unbewusst nickte er. Keine tieferen Bindungen in der Nähe, das vereinfachte die Sache. Bill hatte bereits früh lernen müssen, dass Menschen immer im Zusammenhang ihrer sozialen Bindungen betrachtet werden mussten, sofern er in seinem Job erfolgreich sein wollte. Zielpersonen mit vielen Freunden, Verwandten oder Bekannten hatten nicht nur vielfältige Rückzugsmöglichkeiten, sondern verfügten über einen etablierten Platz in einem sozialen Gefüge. Die Größe dieses sozialen Netzwerkes hatte einen erheblichen Einfluss darauf, wie leicht oder schwer eine Zielperson zu überwachen und zu kontrollieren war. Mit zunehmender Größe wuchs die Anzahl der Variablen, die Bill zu beachten hatte. Zeugen, unerwarteter Besuch; die Wahrscheinlichkeit seiner Entdeckung stieg mit der Anzahl der Personen, die sich im Umkreis des Beobachteten aufhielten. Und Bill war Perfektionist. In seinem Job gab es keine Fehlertoleranz. Und in den seltenen Fällen, in denen ihm dennoch ein Fehler unterlaufen war, hatte er sich persönlich darum gekümmert, ihn schnellstmöglich wieder auszubügeln.

      Tatsächlich wurde sein Job, zumindest in dieser Beziehung, in den letzten Jahren immer einfacher. Gerade in den Städten vereinsamten die Menschen zusehends, verloren den Kontakt zu Nachbarn und Freunden. Ihre Freunde fanden sie im Internet, in Kontaktbörsen oder in sozialen Netzwerken. Allerdings erwiesen sich diese Beziehungen als oberflächlich. Nur selten resultierten die Online-Bekanntschaften in einer dauerhaften, tiefen Bindung, die im realen Leben Bestand hatte. Bill rümpfte angewidert die Nase, als er daran dachte. Menschen waren einfach zu manipulieren, nicht mehr eine Herde willenloser Lemminge, die jedem neuen Trend blind über die Klippe folgten. Was war nur aus der guten alten Zeit geworden, als ein Abend unter Freunden in einer Kneipe oder im Kino stattfand und nicht in einem anonymisierten, virtuellen Raum im Cyberspace?

      Doch Bill kannte die Antwort darauf.

      Ihr monotones Leben trieb die Menschen dazu, sich ein anderes Leben, ein virtuelles Leben zu suchen. Im Internet konnten sie sich selbst neu definieren, etwas aus sich machen, von dem sie ihr ganzes bedauernswertes Leben geträumt hatten. Sie konnten auf Knopfdruck erfolgreich sein, beliebt, sogar gutaussehend. Die Menschen versteckten sich hinter Bildchen und falschen Namen, auf Kosten ihres tatsächlichen Lebens, in dem sie intellektuell verarmten, ohne zu merken, dass ihre lieb gewonnene Internetpräsenz austauschbar war wie die Batterien ihrer kabellosen Computermäuse. Sobald einer der unzähligen Kontakte in diesen Netzwerken verschwand, nahm unverzüglich jemand anderes den freigewordenen Platz ein, an dem zuvor eine andere einsame Seele um Aufmerksamkeit gebuhlt hatte. Das Internet war kurzweilig, in nur Sekundenbruchteilen verschwanden die ehemaligen Gesprächspartner von dem kollektiven Bildschirm, ohne auch nur eine Spur im Gedächtnis ihrer Mitleidenden zu hinterlassen.

      Bills Blick schwenkte zu dem Farbfoto in der oberen linken Ecke der Mappe, das Jan Seibling zeigte. 1,82 Meter groß, Augenfarbe blau, Haare blond. Sportliche Figur. Leicht neidisch betrachtete Bill das Bild. Das Gesicht war in gewisser Hinsicht bemerkenswert. Obwohl Seibling mit 35 Jahren relativ jung war, wirkte sein Gesichtsausdruck erfahren und abgeklärt. Ein Gesicht, das jedem Zuhörer vermittelte: Du kannst mir vertrauen, ich verstehe dich. Dieser Mensch war nicht nur intelligent, aus seinen Augen blitzten Güte, Mitgefühl und Interesse. In den Vorlesungssälen der Universität lauerten