Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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Jahre bereits zu Zeiten des 2. Weltkrieges lange verstrichen gewesen sein mussten. Das gesamte Gelände erweckte den Eindruck einer alten Geisterstadt, die bereits vor Jahren von ihren Besitzern dem langsamen, stetigen Verfall unter der heißen Sonne überlassen worden war.

      Dieser Flughafen stand ohne Zweifel für Leute bereit, die Anonymität zu schätzen wussten und ungesehen hier landen oder von hier fliehen wollten – wo immer ‚hier’ auch war. Jan konnte nur Vermutungen anstellen; anhand der Flugzeit und der Hitze befanden sie sich wahrscheinlich irgendwo in einem Land im Süden Europas. Portugal oder Spanien vielleicht, aber im Moment konnte Jan lediglich raten.

      Patterson ging ein paar Schritte vor ihm. Er hatte sich direkt nach der Landung an sein Mobiltelefon gehängt und telefonierte mit gedämpfter Stimme; von Zeit zu Zeit fuchtelte er dabei energisch mit seiner freien Hand. Neben Jan lief ein junger Mann, der sie direkt am Flugzeug in Empfang genommen hatte. Er dirigierte Jan, höflich aber bestimmt, in Richtung einer schwarzen Limousine, die etwas abseits von der Landepiste mit laufendem Motor auf sie wartete. Weder Patterson noch der junge Mann hielten es scheinbar für nötig, irgendetwas zu sagen. Allerdings lag es Jan mittlerweile fern, sich deswegen zu beschweren. Sein Wunsch nach Erklärungen hatte einer Art kurioser Neugier Platz gemacht, die ihn seine Umgebung mit dem unschuldigen Interesse eines kleinen Kindes beobachten ließ. Im Grunde hatte er auch keine andere Wahl, als sich seinem Schicksal zu fügen. Mit seiner Unterschrift unter dem Geheimhaltungsvertrag hatte er sich auf Verdeih und Verderb Patterson ausgeliefert. Informationen würde er erst erhalten, wenn Patterson es für richtig hielt.

      Wortlos deutete der junge Mann auf den Fond der Limousine. Im Wagen saßen zwei weitere Männer, denen trotz der gepflegten schwarzen Anzüge die Aura gewaltbereiter Kampfmaschinen anhaftete, kaum zu ignorieren wie der würzige Geruch eines alten Käses. Patterson nahm wortlos neben Jan im großzügigen Fondbereich der Limousine Platz. Er klopfte kurz gegen die verdunkelte Scheibe, die den Fahrerraum von dem edlen Interieur des Fahrgastraums abtrennte. Beinahe im gleichen Moment heulte der Motor auf und der Wagen setzte sich sanft in Bewegung. Der junge Mann blieb auf dem Flughafen zurück und blickte der Limousine eine Zeitlang nach, bis er im Flimmern der Luft langsam verblasste.

      Die Limousine war auf typisch amerikanische Art auf gefühlte Minusgrade heruntergekühlt. Ein steter Strom eiskalter Luft aus den Düsen der Klimaanlage ließ Jan frösteln. Für ein paar Minuten versuchte er, durch das Fenster irgendetwas zu erkennen, das ihm einen Anhaltspunkt auf seinen derzeitigen Aufenthaltsort liefern konnte, gab seine Bemühungen jedoch alsbald auf. Sie fuhren fernab öffentlicher und belebter Straßen. Die Landschaft zeigte eintönig nichts anderes als weitflächige, nur karg bewachsene Ebenen und roten Staub. Obwohl Patterson zwischenzeitlich sein Handy zurück in seine Anzugtasche geschoben hatte, blickte er tief in Gedanken versunken aus dem Seitenfenster, ohne Jan Beachtung zu schenken. Auch die beiden Begleiter machten keine Anstalten, etwas zu sagen, sondern musterten Jan lediglich mit einem starren, emotionslosen Blick, der ihn vermutlich einschüchtern sollte. Jan vermochte nicht zu sagen, welchen Effekt dieser Blick auf eventuelle Attentäter tatsächlich hatte, aber bei ihm verfehlte er seine Wirkung nicht. Unter den prüfenden Augen der beiden Muskelberge wagte er es kaum noch, sich zu bewegen, geschweige denn irgendeinen Laut von sich zu geben. Langsam übermannte ihn die Müdigkeit und legte sich wie Blei über seine erschöpften Augenlider.

      Pattersons Stimme riss Jan nach einiger Zeit ruppig aus dem Schlaf. „Wir sind da“, sagte er mit einem leicht verärgert klingenden Tonfall.

      Mit vom Schlaf getrübten Augen musterte Jan die Gegend. Sie waren an einer befestigten Anlage angekommen, umzäunt, mit zwei schwer bewaffneten Wachposten am Eingang, die neben einer rot-weiß lackierten Schranke den scheinbar einzigen Zugang ins Innere der Befestigung versperrten.

      Die Anlage blieb das einzige Anzeichen von Zivilisation, so weit Jans Blick reichte. Hinter dem Stacheldrahtzaun konnte Jan ein paar kleinere Gebäude erkennen; flache, grüne Militärbaracken, die scheinbar in großer Eile provisorisch zusammengezimmert worden waren. Hinter den Wellblechhütten schimmerte das Meer in einem stechenden Blau durch die sandige, von der Hitze flimmernden Luft und schuf einen merkwürdigen Kontrast zwischen der malerischer Ruhe eines endlosen Ozeans und dem geschäftigen Treiben der zahlreichen Soldaten, die zwischen den Baracken im zackigen Schritt patrouillierten.

      Der Wachposten winkte den Wagen durch, sobald er einen kurzen Blick auf Patterson geworfen hatte. Sie folgten dem Weg bis zu einer großen weißen Villa, die vom Tor aus dem Blick verborgen gewesen war. Das Haus schmiegte sich in weißer, strahlender Pracht an den Rand einer lang gezogenen, hohen Klippe. Unzählige Terrassen entwuchsen dem weißen Mauerwerk und streckten sich trotzig dem Meer entgegen, wirkten aber trotz ihrer Größe unglaublich filigran, als würden sie den Gesetzen der Schwerkraft selbst trotzen. Eine weiße Mauer entsprang links und rechts der imposanten Villa und versperrte den Zugang zur Klippe. Die Mauer umrundete die Villa von beiden Seiten in einem großzügigen Oval und traf sich in der Mitte vor dem Gebäude an einem großen, schmiedeeisernen Tor, dessen elegant geformten Flügel einladend offen standen und die Limousine auf einen gepflasterten Platz vor dem Eingang zur Villa führten.

      Ursprünglich dürfte das Gebäude ein imposantes Feriendomizil gewesen sein, diente heute aber eindeutig nicht mehr als Rückzugsmöglichkeit fernab dem Trubel der Zivilisation. Ganz im Gegenteil, Ruhe ließ sich an dieser Stelle nicht mehr finden. Im Inneren der runden Fläche, die durch die Mauer gebildet wurde, herrschte ein reges Treiben vor. Wohin Jan auch blickte, fiel sein Blick auf die schwarzen Uniformen unzähliger Soldaten.

      Die Limousine setzte Patterson und Jan direkt vor der Treppe zum Eingang ab und verschwand anschließend mit den beiden Leibwächtern hinter dem Haus.

      Eine schwere Doppeltür versperrte ihnen den Zutritt zum Gebäude. Jan konnte weder Türgriff noch Schlüsselloch entdecken. Patterson verschaffte ihnen Eintritt, indem er eine Karte durch einen Kartenleser am Eingang schob und eine kurze Nummernfolge in die Tastatur tippte.

      Die geräuschvolle Hektik vor der Villa verstummte nahezu im selben Augenblick, als Jan die ersten Schritte in die imposante Eingangshalle machte. Eine angenehme Kühle umfing ihn und ließ die Hitze des Tages hinter der schweren Tür zurück. Beeindruckt ließ Jan seinen Blick über die opulente Ausstattung der Villa schweifen. Bereits der gekachelte Boden und der schwere Kronleuchter an der Decke erzählten Geschichten von alter Pracht und protzigem Reichtum. Sie wurden nur noch von den zahlreichen Ölgemälden und schweren Wandteppichen überboten, die beinahe verschwenderisch jeden freien Platz an den Wänden belegten. Der Stuck an der hohen Decke und an den wenigen freien Stellen der Seitenwände wurde von grazilen Verzierungen aus feinem Blattgold überdeckt. Die Ornamente waren in einem solchen Überfluss angebracht, dass es fast in den Augen schmerzte, sie anzuschauen.

      „Das Haus diente noch vor zehn Jahren einem hochrangigen Politiker als Urlaubsanwesen“, erklärte Patterson unvermittelt, „aber für unsere Zwecke ist es aufgrund seiner Abgeschiedenheit wesentlich geeigneter. Die nächste größere Stadt ist etwa 18 Meilen entfernt. In diese Gegend verirrt sich nur selten ein Mensch. Das macht es für uns einfacher, den Komplex zu bewachen und uns vor neugierigen Blicken zu schützen.“

      Jan kam nicht mehr dazu, nachzuhaken, was Patterson in dieser Villa vor dem neugierigen Blick der Öffentlichkeit zu schützen gedachte. Bevor er zu seiner Frage ansetzen konnte, betrat eine Frau durch eine große, hölzerne Flügeltür den Vorraum der Villa. Patterson machte mit ausgebreiteten Armen einen schnellen Schritt auf sie zu und setzte ein diplomatisches Lächeln auf: „Dr. Pullman, welche Freude, Sie hier so zeitig anzutreffen.“ Er machte eine kurze Bewegung, die anscheinend eine leichte Verbeugung andeuten sollte und gab Jan gleichzeitig ein Handzeichen, näher zu treten. „Darf ich Ihnen Dr. Jan Seibling vorstellen?“

      Jan gab der Frau vor ihm die Hand, als sie sagte: „Angenehm, Susanna Pullman.“ Sie hatte einen leichten englischen Akzent, antwortete aber überraschenderweise in Deutsch. Ihre dunklen Augen lachten ihn dabei an, als würden sie einen alten Freund begrüßen. Ihr schmales Gesicht wurde durch eine wilde, schwarze Mähne eingerahmt. Sie trug eine kurze, beige Hose und eine Bluse, die sie unter ihrer Brust verknotet hatte, was Jan sofort ins Auge fiel. Ihre sonnengebräunte Haut war von Staub verschmiert. Alles in allem wirkte sie in der gediegenen Atmosphäre der Villa so fehl am Platze, wie Jan sich