Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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dem Charme ihres Dozenten erlagen.

      Allerdings war körperliche Attraktivität keine Eigenschaft, die Bill in seinem Beruf besonders dienlich gewesen wäre. Gerade sein eher durchschnittliches Erscheinungsbild ermöglichte es ihm, nahezu unbemerkt in Menschenmassen unterzutauchen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil und in seinem Beruf absolut überlebenswichtig. Tatsächlich gefiel Bill diese Rolle, sie hatte es ihm mehr als einmal ermöglicht, unentdeckt aufzutauchen und ebenso wieder zu verschwinden. Er war mit einem Gesicht gesegnet, an dem die Blicke anderer Menschen abglitten, weil sie nichts Interessantes daran zu entdecken vermochten, keine Ecken und Kanten fanden, an denen der Blick heften bleiben konnte. Sie sahen ihn an und hatten ihn zwei Schritte weiter bereits wieder vergessen, als hätten sie ihn nie gesehen, oder als würde er nicht existieren. Ein anonymes Gesicht in einer Masse von anonymen Gesichtern.

      Bill klappte die Mappe zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Gebäudekomplex der amerikanischen Botschaft.

      Er parkte mit seinem schwarzen Audi etwas entfernt an der nächsten Straßenecke, dicht genug, um alles zu sehen, weit genug entfernt, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Was nicht immer einfach war. Seit dem 11. September 2001 reagierten gerade amerikanische Sicherheitsleute überempfindlich auf Fahrzeuge und Personen, die sich allzu auffällig bewegten oder, wie in seinem Fall, nicht bewegten. Im Moment hatte Bill seinen Posten jedoch gut gewählt; er hatte beinahe freie Sicht auf die Ausfahrten der amerikanischen Botschaft, während er in der Masse parkender Autos von den Wachleuten kaum auszumachen war. Und sollte tatsächlich jemand auf die Idee kommen, ihn zu fragen, was er hier trieb, hatte er direkt die passende Geschichte parat: Falls erforderlich, würde er sich als geduldiger Ehemann ausgeben, der auf seine arme kranke Frau wartete, während sie sich beim Arzt etwas gegen ihr schlimmes Rheuma verschreiben ließ.

      Bill lächelte unbewusst. Menschen glaubten alles, solange es mit der richtigen Überzeugung und einem netten Lächeln vorgetragen wurde. Außerdem prangte tatsächlich auf der gegenüberliegenden Seite das Praxisschild eines Orthopäden. Es schadete nie, wenn Tarnungen zusätzlich durch ein paar glaubwürdige Elemente angereichert wurden.

      Doch in diesem Fall sollte es nicht erforderlich werden, die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte testen zu müssen. Just in diesem Moment öffnete sich das Sicherheitstor der Tiefgarage an der Seite des Botschaftsgebäudes, um eine schwarze Limousine durchzulassen. Bill griff nach seinem Fernglas, das er griffbereit unter dem Beifahrersitz deponiert hatte. Die Limousine war mehrere hundert Meter entfernt, aber der Feldstecher verriet die Insassen des Fahrzeugs mit unbestechlicher Präzision. Jan Seibling saß im Fond, zusammen mit Brian Patterson. Wie vorhergesagt. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Bills Lippen, als er den Motor seines Wagens startete. Das Spiel hatte begonnen.

      7) Über dem europäischen Festland, 03. Juli 2007

      Das sanfte Rütteln des Flugzeuges schläferte Jan langsam aber sicher ein. Nur mit Mühe konnte er seine Augen offen halten, auch wenn die ganze Situation eigentlich zu aufregend war, um an Schlaf zu denken. Die bequemen Ledersitze halfen auch nicht unbedingt dabei, seine Müdigkeit zu überwinden. Die kleine zweistrahligen Privatmaschine mit amerikanischer Kennzeichnung hatte bereits am Flughafen auf Patterson und ihn gewartet. Patterson und er teilten sich die schmale Kabine lediglich mit der Besatzung, die sich allerdings vornehm hinter einem beigen Vorhang versteckt hielt, zumindest seitdem er der Stewardess zum zweiten Mal freundlich aber bestimmt mitgeteilt hatte, dass er auch ohne weitere Getränke diesen Flug mit Sicherheit überleben würde. Das verschaffte ihm etwas Zeit, die letzten Stunden Revue passieren zu lassen. Jan hegte allerdings wenig Hoffnung, ohne weitere Informationen etwas Licht in die trübe Brühe bringen zu können, in der er gerade erfolglos fischte.

      Rational ließ sich seine gegenwärtige Situation sowieso kaum erklären. Hätte jemand anderes an seiner Stelle ihm diese Geschichte erzählt; es würde ihm sehr schwer fallen, auch nur ein einziges Wort davon zu glauben. Innerhalb eines halben Tages hatte er es geschafft, sein an sich beschauliches Leben in ein turbulentes Abenteuer zu verwandeln. Er saß in einem Flugzeug mit unbekanntem Ziel, mit einem Mann, den er nicht kannte und, wie ihm in diesem Moment erst bewusst wurde, nur mit den Dingen, die er am Leibe trug. Keine Kleidung zum Wechseln, keine Zahnbürste, Rasierer oder andere Dingen des täglichen Bedarfs hatte er in der Kürze der Zeit mitnehmen können. Er hatte sich blind einem undurchsichtigen Mann anvertraut, der zwei Sitzreihen vor ihm mit schwermütiger Miene mit dem Bordtelefon telefonierte und ihm seit ihrem Abflug keinerlei Beachtung mehr geschenkt hatte.

      So sehr es Jan auch interessierte, dem Gespräch konnte er nicht folgen. Sein Englisch war zwar ausgezeichnet, doch das Dröhnen der Düsentriebwerke machte es beinahe unmöglich, mehr als ein paar Wortfetzen aufzuschnappen. Patterson führte offensichtlich mehrere Gespräche, in denen hauptsächlich er selbst sprach; seine Anweisungen erfolgten in kurzen und knappen Befehlen. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich energisch durch die dünnen Haare, eine unbewusste Geste, die scheinbar seiner Ungeduld zuzuschreiben war. Auf Jan wirkte er wie ein Feldwebel, der seine Armee auf dem Schlachtfeld einen Kampf ausfechten ließ, der sich kaum noch gewinnen ließ. Insgesamt hinterließ Patterson einen eher fahrigen Eindruck und erschien nicht annähernd so siegessicher, wie Jan ihn in der amerikanischen Botschaft kennengelernt hatte.

      Je länger Jan Patterson bei seinen Telefonaten zuschaute, umso mehr verstärkte sich sein Verdacht, Patterson hätte ihm nicht die Wahrheit erzählt. Die Rolle als NASA-Wissenschaftler jedenfalls kaufte er ihm nicht mehr ab, dafür schien Patterson zu viel Einfluss zu besitzen. Selbst der deutsche Außenminister reagierte Patterson gegenüber unterwürfig wie ein junger Welpe, anstatt wie ein auf dem internationalen Parkett erfahrener Diplomat zu agieren. Jan bezweifelte allerdings auch, dass Bauer mehr als eine kleine Rolle in der ganzen Sache spielte. Vermutlich hatte Patterson nur eine repräsentative Gestalt innerhalb der deutschen Politiklandschaft benötigt, um im Hintergrund seine Fäden ziehen zu können, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen. Bauer schien nichts anderes zu sein als ein – Nomen est Omen – kleiner Bauer auf dem Schachbrett von Pattersons Machtspielchen.

      Jan hatte nur noch kurz die Gelegenheit erhalten, mit Bauer ein paar Worte zu wechseln. Bevor er in der amerikanischen Botschaft zurückgeblieben war, hatte er Jan beiseite gezogen und eine etwas längere Litanei über die diplomatischen Beziehungen zu den USA abgelassen – das derzeitige Verhältnis angespannt durch die Haltung der deutschen Bundesregierung zum Irakkrieg in 2003, Blablabla, die Wichtigkeit der deutschen Kooperation in Fällen wie diesen und was für eine unglaubliche Gelegenheit sich Jan darbot, seinem Vaterland, Deutschland, einen Dienst zu erweisen.

      Jan lächelte müde, als er an den ernsten Blick zurückdachte, mit dem Bauer ihn bei seinem minutenlangen Monolog unablässig bedacht hatte. Patriotismus in allen Ehren, aber Appelle an Jans Nationalstolz verpufften zumindest in diesem Fall ungehört. Als mündiger, intelligenter Bürger bildete sich Jan aus Prinzip sein eigenes Urteil, bevor er Stellung bezog, unabhängig davon, was die deutsche Regierung ihn glauben lassen wollte. Und, wie Patterson bereits festgestellt hatte, glänzte Bauer allenfalls mit Unwissenheit, viel Substanzielles hatte er jedenfalls nicht beizutragen gewusst. Vermutlich plagte ihn nur die Sorge um seinen politischen Posten, der naturgemäß stark von den Beziehungen zu der einzig verbliebenen Supermacht der Welt abhing. Patterson – und nicht Bauer - blieb der Schlüssel zu der ganzen Sache, davon war Jan überzeugt. Somit blieb er die einzige Person, die ihm die ersehnten Antworten liefern konnte.

      Nach einer Weile gab er seine Bemühungen auf, etwas von Pattersons Gesprächen verstehen zu wollen, und schaute mit müden Augen aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf ein Meer strahlend weißer Wolken, die ihm die Sicht auf den Boden versperrten. Jan konnte noch nicht einmal sagen, in welche Richtung sie flogen. Was das Ziel oder die Dauer ihrer Reise anging, so tappte er völlig im Dunkeln. Patterson war nicht besonders gesprächig gewesen, weder auf der Fahrt zum Flughafen, noch während des Fluges. Jan hatte es letztendlich aufgegeben, nachzufragen.

      Er wandte seinen Blick erst vom blendenden Weiß der Wolken ab, als er Patterson aus den Augenwinkeln aufstehen sah. Patterson setzte sich auf den Platz vor ihm und drehte sich halb um, den Arm lose über der Lehne baumelnd. In dieser Haltung wirkte er merkwürdigerweise wie ein Teenager, der gemeinsam mit einem guten Freund ein