Kai Kistenbruegger

Die Akte Plato


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an die Grundregeln der Höflichkeit zu halten und ihr bei der Vorstellung ins Gesicht zu blicken, anstatt seine Augen über den Rest ihres sportlichen Körpers schweifen zu lassen.

      „Ich will nicht unhöflich erscheinen“, sagte sie, als sie ihre Hand zurückzog, „aber ich müsste kurz mit Dr. Patterson sprechen. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.“ Bevor Jan antworten konnte, zog sie Patterson mit einem entschuldigenden Lächeln in Jans Richtung zur Seite. Ein bezauberndes Lächeln, das es Jan sowieso schwer gemacht hätte, irgendwelche Einwände hervorzubringen.

      Also nickte er verständnisvoll und widmete sich einer intensiven Beobachtung der zahlreichen Kulturgüter, die den Eingangsbereich der Villa zierten. Unbeteiligt und scheinbar gelangweilt musterte er die schweren Ölgemälde an den Wänden, während seine anderen Sinne angespannt versuchten, dem Gespräch zu folgen, das ein paar Schritte entfernt in gedämpften Stimmen gehalten wurde.

      Nur wenige Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr. „Unglaublicher Fund“, flüsterte Pullman, während Patterson Worte wie „Durchbruch“ und „Richtige Stelle“ fallen ließ. Patterson wirkte aufgeregt wie ein kleines Kind. Den gleichen Gesichtsausdruck hatte er im Flugzeug an den Tag gelegt, als er Jan von seinen Atlantis-Visionen zu überzeugen versucht hatte.

      „Gute Nachrichten!“, verkündigte er kurz darauf in einer Lautstärke, die Jan gar nicht entgehen konnte. „Professor Seibling, kommen Sie bitte, ich denke, es ist an der Zeit, Sie in unser Projekt Plato einzuweihen.“ Er zwinkerte, als ob er einen mitreißenden Witz erzählt hätte. Er drängte Jan durch die Tür, durch die Susanna Pullman eben vor ein paar Minuten gekommen war. „Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, Ihre Fragen zu beantworten.“

      9) Portugal, Terras do Sado, 03. Juli 2007

      ‚Jetzt’ war anscheinend für Patterson ein dehnbarer Begriff. Mittlerweile waren ein paar weitere Minuten verstrichen und trotzdem war Jan nicht viel schlauer als vorher. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl herum, nur mühsam ein Seufzen unterdrückend. Für seine Verhältnisse hatte er sich lange genug zusammengerissen. In ihm brodelte brennend die Ungeduld. Ein weiterer Versuch, ihn mit Plattitüden hinzuhalten, und er würde lauthals schreiend aus dem Zimmer rennen, sich die Kleider vom Leib reißen und sich kopfüber die Klippe hinabstürzen. Das würde zwar nur bedingt helfen, aber wenigstens würde sich etwas von dem Druck abbauen, der sich seit München stetig in seiner Brust angestaut hatte und ihn beinahe zu zerreißen drohte.

      Bis es jedoch so weit war, nutzte Jan die Zeit und musterte seine Sitznachbarn. Eine durchaus illustre Runde, die Patterson in der Villa versammelt hatte. Neben Jan, Patterson und Susanna Pullman hatten sich vier weitere Personen um den runden Tisch zusammengefunden. Mit zwei der Namen, die während der kurzen Vorstellungsrunde in den Raum geworfen worden waren, konnte Jan sogar etwas anfangen.

      Zwei Plätze neben ihm saß zum Beispiel Russel Black, seines Zeichens ehemaliger Mathematikprofessor an der berühmten Harvard Universität. Es war allerdings weniger sein Wirken in diesem Bereich, das ihm einen eher zweifelhaften Ruf als Computergenie eingebracht hatte, sondern vielmehr die Hacker-Attacke, die er letztes Jahr auf den Zentralcomputer des Pentagons gestartet hatte. Zuvor hatte er jahrelang vergeblich versucht, den sturen Behördenapparat davon zu überzeugen, dass die für die USA größte Gefahr des anfangenden 21. Jahrhunderts nicht vor den einheimischen Häfen oder im Luftraum, sondern im unkontrollierbar wuchernden Internet lauerte. Eine Gefahr, der die USA bei dem rasanten, technologischen Fortschritt der letzten Jahre kaum etwas entgegen zu setzen wusste. Die Vereinigten Staaten präsentierten ihre vitalen Systeme, seien es die Computersysteme des Verteidigungsministeriums, oder die Finanztransaktionssysteme der großen Staatsbanken, nahezu ungeschützt vor Terroranschlägen aus den Tiefen des weltumspannenden Internets. Seine mahnenden Worte verhallten ungehört, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er ins angeblich unknackbare Computersystem des Pentagons eingedrungen war und das gesamte Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten vor aller Welt blamiert hatte.

      Unnötig zu erwähnen, wie die Reaktion der amerikanischen Regierung ausgefallen war. Die Verantwortlichen hatten sich über alle Maßen brüskiert gezeigt, hatten aber gleichzeitig versucht, den Vorfall vor aller Welt zu bagatellisieren. Black avancierte nahezu über Nacht offiziell zum Beauftragen für Datensicherheit in den USA. Ein genialer Marketing-Schachzug, der es nicht nur den USA ermöglichte, ihr Gesicht zu wahren, sondern Black einen lukrativen Nebenverdienst einbrachte, zusätzlich zum Bonus, nicht für mehrere Jahre in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis weggesperrt zu werden.

      Auch der Mann direkt neben Black war für Jan kein unbeschriebenes Blatt. Auch wenn es sich bei ihm, zumindest für ernsthafte Wissenschaftler, kaum um einen gepflegten Umgang handelte. Rupert Morden war – vorsichtig ausgedrückt – für eher alternative Theorien hinsichtlich der Entstehung und der Entwicklung des Menschen bekannt. Keine seiner mittlerweile zahlreichen Veröffentlichungen ignorierte das Thema Außerirdische länger als über das erste Kapitel hinaus. In seinen Werken füllten fremde Kreaturen aus dem All die unterschiedlichsten Rollen aus. In einigen seiner Bücher verkörperten sie die Urväter aller Menschen, die dereinst den Samen des Lebens auf der Erde aussäten, aus dem Millionen Jahre später der Evolutionsbaum der Menschheit entspross. Quer durch alle Publikationen bezeichnete er sie als Technologiebringer, Berater, Freunde und Verbündete, die bereits vor Jahrtausenden mit den Menschen ihr unendliches Wissen und ihre Weisheit uneigennützig geteilt hätten.

      Meistens erschienen sie in seinen Theorien als freundlich gesinnte Wesen mit überzogen väterlichen Tendenzen, weswegen seine Hypothesen in einer Welt einsamer Menschen durchaus ihre Anhänger fanden und den Verschwörungstheoretikern im Internet überaus populären Zündstoff boten.

      Die beiden anderen Personen kannte Jan allerdings nicht. Einer der beiden Männer war Jan mit dem Namen Joe Smith vorgestellt worden; ein Name, der offensichtlich so unecht war wie das überzogen freundliche Lächeln, das Patterson gelegentlich zur Schau trug. Joe Smith hatte das Gesicht und die disziplinierte Haltung eines langjährigen Angehörigen des amerikanischen Militärs. Vielleicht tat Jan der US Army damit unrecht, aber den wenigen Soldaten, die er kennen gelernt hatte, hatte er bereits aus mehreren Metern Entfernung den militärischen Drill ihrer Ausbildung ansehen können. Ihre gesamte Art karikierte das Bild eines patriotischen Soldaten, dessen Gehorsam und Loyalität feste, unerschütterliche Bestandteile seines Wesens geworden waren, als wären sie ihm bereits bei der Geburt in die Wiege gelegt worden. Wie bei Joe Smith äußerte sich das in kurz geschorenen Haaren, einem strengen Blick, der meistens starr geradeaus gerichtet war, sowie in der Angewohnheit, nur selten und meistens nur nach Aufforderung zu sprechen. Joe Smith war in einer gepflegten Unterhaltung beim Dinner mit Sicherheit so fehl am Platze, wie Jan in einem Gespräch über moderne Waffentechnologie.

      Joe Smith schien keinen hohen Rang zu bekleiden, obwohl ihn Patterson als Sicherheitsbeauftragten des Projekts vorgestellt hatte. Unter der engen Uniform zeichneten sich riesige Muskelberge ab, und sein wortkarges Wesen ließ eher auf einen Charakter schließen, der im Zweifelsfall den körperlichen Argumenten den Vorzug ließ, als Streitthemen diplomatisch und gewaltlos auszudiskutieren.

      Der letzte Unbekannte der Runde legte ein sichtlich nervöses Verhalten an den Tag. Hinter den dicken Gläsern seiner Brille huschten seine Augen aufgeregt zwischen den Anwesenden hin und her; seine Hände kneteten unablässig seine Oberschenkel, als würde er versuchen, einem akuten Muskelkrampf mit einer kräftigen Massage entgegen zu wirken. Paul Breitenscheidt machte alles in allem einen sehr ungepflegten Eindruck. Seine Haut glänzte fettig, seine Haare standen wild und zerzaust vom Kopf ab, und unter dem schmuddeligen Hemd zeichnete sich eine beachtliche Plauze ab, die sich vorwitzig über seinen sichtlich überforderten Gürtel schob. Wie Jan kam Paul aus Deutschland und war, wie Patterson ausführte, als Geologe zum Projekt hinzugezogen worden.

      Was Susanna Pullman anging, hatte Jan mit den Vermutungen, die er aus dem flüsternden Gespräch zwischen ihr und Patterson in der Vorhalle gezogen hatte, nicht allzu falsch gelegen. Susanna stellte sich Jan als Archäologin vor. Wie es ihr Outfit bereits verraten hatte, war sie gerade von einer Ausgrabungsstätte in der Nähe zurückgekehrt. Eine faszinierende Frau. Jan fiel es schwer, die Augen von ihr zu lassen. Ihre Art und Gestik wirkte nicht nur erfrischend natürlich,