Eike Stern

Der Tod des Houke Nowa


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weiter Ferne. Alles stand zum Abend wieder auf Messers Schneide, denn der gesunde Menschenverstand sagte ihm, er würde nicht jedes Mal besser abschneiden als alle anderen beim Wurf nach der Linie. Sie verzogen sich zunächst zu Larban, an den gewohnten schattigen Fleck unter der Heckflosse, am Ruder, da Sanherib noch auf sich warten ließ. Archaz wich seinem Blick aus, dachte Houke, und fand es schwer, mannhaft aufzutreten. Wenigstens hatte in ihrer Abwesenheit niemand Hand an die Truhe gelegt, wie er sich sogleich vergewisserte. Die Seidentücher lagen noch unberührt und gefaltet unter dem Bärenfell, ebenso die Kette, die er Semiris schenken wollte, wenn sie irgendwann einmal allein wären. Plötzlich ertönte wehmütiger Gesang aus dem Bauch der Bireme, und es war unverkennbar Kirsas eigenartige Stimme. Semiris rang um Atem. Es bedeutete das langersehnte Lebenszeichen, auf das sie heimlich gelauert hatte.

      „Das ist sie“, hauchte sie und stieß Houke triumphierend den Finger an die Brust. „Ich sags doch, sie lebt.“

      Die Augen geschlossen lauschte Houke bewegt, da erstickte Kirsas Stimme. Ein klägliches Aufheulen wurde laut und verebbte wimmernd. Beengt stöhnte Houke auf, und ihm zitterten die Hände, als er sich leicht verspätet wie alle am Blutstrich einfand. Semiris schmiegte sich vor der hämisch gaffenen Menge schutzsuchend an ihn, aber diesmal hatte er Pech: Sanherib gewann Semiris für die nächsten fünf Tage und Nächte und erschien umgehend unter der Heckflosse, um seinen Gewinn abzuholen.

      Houke zog durch die Zähne tief Atem ein, denn er wusste: Er und kein anderer musste einschreiten. „Sanherib“, sprach er den Assyrer beherzt an. „Ich biete dir die Truhe samt Inhalt, falls du sie mir lässt, bis wir wieder hier zusammenkommen.“

      Es war ihm spontan über die Zunge gerutscht, doch der grimmige Mann im Schuppenhemd kratzte sich die Adlernase und willigte ein. „Viel Spaß, aber danach macht sie für mich die Beine breit.“

      Houke hätte ihn anspucken mögen, doch so dumm wäre er vielleicht mal gewesen, er war es nicht mehr. „Fünf Tage haben wir gewonnen“, erlöste er Semiris und berichtete von dem kleinen Handel, von dem Sanherib den anderen kaum jemals etwas verraten würde.

      An den abweisen Gesichtern und der Art, wie er bei allem, was er sagte, kurz abgefertigt wurde und vor allem an Archaz‘ Verhalten erkannte er, es musste zu einer Absprache unter der Mannschaft gekommen sein, zumal man ihn geschlossen wie einen Unwerten behandelte. Es erschwerte das Leben, unter diesen Umständen sich selber treu zu bleiben. Er fragte sich ernsthaft, wo Kirsa blieb, selbst wenn Sanherib sie verprügelt haben mochte, und schaute beunruhigt in den Sonnenuntergang. Semiris nickte ihm zu. Auch ihre Gedanken drehten sich einzig um die Freundin. „Warum“, fragte sie sich resignierend, „springen wir nicht einfach ins Wasser und schwimmen zum Fischerdorf hinüber?“

      Houke blies schnaufend die Schweißperlen von dem Bart, den er sich neuerdings auf der Oberlippe wachsen ließ. „Möglich, dass Kirsa das auch erwog.“ Er wies ihr an einer übersonnten Sandkerbe im Schilfstrich zahlreiche knorrige Erhöhungen im Wasser, und zwischen jeder einzelnen funkelten kleine, wachsame Augen. „Die Krokodile würden sich freuen“, sagte er tonlos

      „Nein, sie lebt noch“, warf sie ihm gereizt zu.

      Sein Mund zuckte und verzog sich erbittert, und er überwand sich ehrlich zu sein. „Warum hat keiner nach ihr gefragt, vorhin am Blutstrich?“, entgegnete er vorsichtig.

      Nicht lange, und sie fragte ihn erneut: „Und wenn wir jetzt springen? Du weißt, du hast mir etwas versprochen. In ein oder zwei Tagen wären wir zurück zu der Siedlung von eben. Von dort könnten wir uns leicht zur Küste durchschlagen. Es gibt Lastkähne und Ochsengespanne. Zur Not gehe ich zu Fuß.“

      „Das ist Sumpfland hier, das Revier der Krokodile und Nilpferde, aber wir werden auch wieder in bewohnte Gebiete kommen. Ich habe Bedun von Abydos reden hören. Gegen Nachmittag sind wir da, meinte er zum Sarden.“

      „Verstehe mich nicht falsch“, eröffnete ihm Semiris. „Ich sage dir, ich springe dort ins Hafenbecken und versuche abzuhauen.“

      In ihren dunklen Augen war wieder ein Hoffnungsschimmer. „Und? Kommst du mit?“

      Nur eines ließ ihn zögern: Auch Decgalor hatte er etwas versprochen. Er hatte sich vorgenommen, ihm zu helfen, und er erwog dieses Ehrenwort in Abydos zu halten.

      Semiris weckte ihn aus seinen Überlegungen. „Weißt du, ich war mein Leben lang eine Sklavin. Als kleines Mädchen habe ich das nicht einmal besonders schlimm gefunden. Erst als ich mich körperlich zur Frau entwickelte, begriff ich, worin das Leid der Sklavinnen wirklich besteht. Dabei hatte ich mit einem Tattergreis wie Nikia noch Glück. Ich musste ihm zu Willen sein – sicherlich, aber er achtete mich doch. Und was sich kürzlich auf diesem Schiff abgespielt hat, flößt mir Angst ein. Dieser verlotterten Meute ist alles zuzutrauen und ich möchte nicht durchmachen, was Kirsa mit Sanherib widerfuhr. Eher sterbe ich. Wo ist Kirsa? Ich weiß, sie lässt mich nicht alleine fliehen.“

      Es vermittelte Houke das unbestimmte Gefühl, ob er mitkam war für sie eher unerheblich. „Wir müssen mit allem rechnen“, versuchte er sie auf das Schlimmstmögliche einzustimmen.

      „Was meinst du?“ Semiris Gesichtsfarbe wurde fahl.

      „Ganz einfach, ich frage mich, warum Sanherib zwar wieder bei den anderen mitmischt, aber kein Sterbenswörtchen über sie oder ihren Verbleib verliert? Hiram findet es nicht der Rede Wert und schweigt sich mir gegenüber aus. Außerdem kränkt es mich, von dir zu hören, du würdest auch ohne mich die Flucht wagen.“

      Es ärgerte Houke sogar mehr als er zugab, und Semiris sah es ihm an.

      „Woher sprichst du ihre Sprache?“, fragte er zerknirscht.

      „Sie gelangte über eine der Karawanenstraßen in unsere Welt und wir wohnten zwei Jahre unter dem selben Dach“, lautete ihre plausible Antwort. „Nikia ersteigerte sie am gleichen Tag wie mich, und zwar als Gespielin für seine halbwüchsige Tochter. Diese verzogene Göre fand schnell heraus, dass Kirsa ihr ausschließliches Eigentum war. Es machte ihr Spaß, konnte sie ihrem Eigentum am Haar ziehen oder mit ihren scharfen Nägeln ins Bein kneifen. Den größten Spaß bereitete es ihr, sich rittlings auf ihrem Nacken tragen zu lassen. Sie ist ein dickliches Kind, und Kirsa musste dann auf den Wegen rund um die Blumenbeete herumwandern, immer wieder rundherum. Blieb sie stehen, brüllte ihre Herrin das ganze Haus zusammen. Es war für keinen im Schlafhaus ein Geheimnis, dass sie in einem unserer stattlichsten Sklaven, der aber eher ein wenig beschränkt war, einen Verehrer hatte, und der fuhr dazwischen, als die böse Blage sie wieder einmal quälte. Man kreuzigte ihn dafür, ein Kind angefallen zu haben, und Kirsa hielt seitdem unsere Latrine sauber.“

      Gegen Nachmittag fand sich wider Erwarten Archaz noch einmal am Heck ein, aber er enttäuschte sie. „Bedun, du und ich“, weihte er Houke ein, „sollen uns mit der Wache für den Gefangenen ablösen.“

      „Du bist jetzt dran?“, fragte Houke. „Dann lass uns tauschen.“

      So kehrte er nach sechs Stunden zurück zu der von früher vertrauten Kammer. Als er dem Atlanter ihre Fluchtpläne verriet, wurde der hellhörig.

      „Ich habe nachgedacht über deinen Rat. Ich denke, ich werde mich einsichtig zeigen und für eine Weile der Bruderschaft beitreten. Aber jetzt noch nicht. Erst will ich diesen Unterschlupf für Räuber und Beutelschneider gesehen haben. Wo ich war, dahin finde ich zurück. Mein Strafgericht wird über diesen Ort kommen, so wahr ich die Macht dazu habe. Die Hand soll mir verdorren, sollte mir von den Leuten dieses Schiffes einer entwischen.“

      „Warum willst du dich so lange von Brot und Wasser ernähren?“, fragte Houke erstaunt. „Du könntest leben wie ein König, wenn du ihnen sagst, du willst ein Schwertfischer werden.“

      „Ich will mehr sehen, dessen ich sie anklagen kann“, gab ihm der Atlanter im Flüsterton zu verstehen. „Und keiner wird mir hinterher nachsagen, ich hätte selber mit Leib und Seele bei ihren Kaperfahrten mitgewirkt.“

      Entgegen dem Gerücht legten sie nicht in Abydos an, und in Theben auch nicht. Beim nächsten Mannschaftstreffen am Mast gewann der Sarde. Houke opferte den Siegelring des Hebräers und sein gesamtes Silber, damit