Anne Robert

Vervögelt


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Ordnungssinn kam mir aber gelegen, denn Outlook zeigte mir einen Ordner „Gerhard.“ Was hatte der Mann meiner Nachbarin im Mailprogramm meiner Alma zu suchen?

      Ich klickte auf „Gerhard“ und fand einige Mails.

      Ich las jedes einzelne davon – sowohl die gesendeten, als auch die empfangenen. Ja, es gibt Leute, die legen auch die gesendeten Mails ab, was ein wahrer Glücksfall sein konnte. Da lief etwas zwischen der Mutter meiner Kinder und dem Mann meiner Nachbarin. Was es war verschloss sich mir noch, aber es war bestimmt nichts Koscheres. Ohne Grund schreibt man sich nicht täglich.

      Fassungslos las ich Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah.

       Irgendwas ging schief, gewaltig. Wir werden gefickt.

       Ich muss dringen Anne anrufen. Hoffentlich kommt sie schnell dran. Die Kinder sind doch privat versichert, da sollten sie doch zackig dran kommen.

      Meine Gedanken überschlugen sich. Die Welt, die ich kannte, drohte zu kippen, die Erdachse sich zu verschieben, die Gezeiten sich zu ändern und irgendwo quoll aus diesem Klo des Lebens eine riesige Menge Scheiße empor.

      Ich stand am Schlafzimmerfenster und hielt Ausschau nach Anne. Irgendwann – und möglichst noch in diesem Leben – musste sie doch diese scheiß verfickte Straße entlang kommen. Ich ging hin und her. Endlose Minuten, die mir wie Jahrzehnte vorkamen.

      Und da sah ich ihren schwarzen, in die Jahre gekommenen Sharan, wie er die Straße heraufgetrieben wurde. Immer eine Spur schneller, als dies andere Autos tun würden. Anne schien das Pedal durchzudrücken und das alte Gefährt den Buckel hinauf zu quälen. Sie wendete, parkte und ging zur Haustüre.

      Ich zählte langsam auf fünfundzwanzig. Das sollte selbst der kleinsten Frau reichen, die endlosen Stufen bis in das Dachgeschoss zu meistern. Ich wollte ihr unbedingt sagen, was ich entdeckt hatte – oder … besser … nicht?

      Mit dem Hörer am Ohr musste ich ungeduldig warten, bis sie nach dem vierten Tuten endlich abnahm.

      „Hallo? Ich habe das Postfach! Komm rüber! Setz Moritz vor den Fernseher! Los, zack zack.“

      Einige Minuten später klingelte es an meiner Tür und ich öffnete Anne mit pochendem Herzen.

      Sorgenfalten standen auf ihrem Gesicht und ich musste mit mir ringen, ihr diese ganze Scheiße zu offenbaren. Sollte ich? Noch hatte ich die Möglichkeit für den Rückzug. Alles supertoll und das Buch endet hier. Aber ich war selbst total perplex.

      Mein Notebook drapierte ich auf dem Esszimmertisch und die Emails von Alma hatte ich schön säuberlich in ein Wordfile kopiert und auf meinem USB-Stick gespeichert. Chronologisch.

      „Setz dich und lies.“

      Anne scrollte durch die zehn DIN-A4-Seiten Mails und las und las und las und las.

      Eine Stecknadel hätte man fallen hören können, so leise und angespannt war die Atmosphäre. Trotz ihrem starren Blick auf den Bildschirm sah ich zum ersten Mal, wie ihr Herz brach. Die Tränen liefen über ihre Wangen.

      Vielleicht war es ein Fehler?! Ich spürte das Leid, das mit dem Wühlen im Moloch aus Verrat einherging.

      Zwei Welten kollidierten, zerschmetterten in Einzelteile. Ich spürte einen Druck in mir und meine Kehle schnürte sich zu. Der Boden unter unseren Füßen bekam Risse. Bullerbü war nicht mehr Bullerbü. Das Ortsschild abgerissen. Das Leben wendete sich von innen nach außen, Astrid Lindgren meets Steven King. Ich war froh, dass mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, was noch alles auf uns zukommen würde. Diese Scheiße war nur der Anfang.

      Anne:

      Mein Telefon klingelte. Ich spürte den inneren Zwang ran zu gehen, obwohl ich schon beim Kinderarzt sein sollte und bereits Schuhe und Mantel an hatte. Vielleicht was Wichtiges? Man konnte nie wissen. Meine Absätze klackerten, als ich das Handteil des Telefons suchte.

      Am anderen Ende schnaufte Robert irgendwas von einem merkwürdigen Vorfall mit Alma. Offenbar hatte sie Geheimnisse, aber ich keinen Nerv. Moritz war krank, ich musste zum Arzt und was sollte Alma auch für Geheimnisse haben. Vielleicht hat sie Probleme und sich mit ihrer Schwester besprochen. Wäre nicht das erste Mal. Moritz hatte Fieber. Schon seit zwei Tagen und ohne Fiebersenkung konstant über 40°C.

      „Mein Moritz ist krank. Ich muss zum Kinderarzt.“

      Im Moment hatte ich wirklich keinen Kopf für seine Probleme. Und was wird Alma schon für Geheimnisse haben? Vielleicht hat sie ihrer Schwester gemailt und wollte nicht, dass Robert das las.

      Ich riet Robert, er soll nachschauen, dann würde sich alles schnell auflösen. Schließlich könne er zaubern. Wie oft schon saß ich sprachlos da, wenn seine Finger über die Tastatur glitten und irgendwas – was auch immer - machten. Ich traute ihm alles zu. Für mich war diese ganze Internetkacke ein Buch mit sieben Siegeln.

      Ich spürte durchs Telefon hindurch, wie ihm das schmeichelte. Aber jetzt musste ich los. Ich wollte wieder zurück sein, bis Ina von der Schule da war – auch wenn Robert mir Hilfe anbot.

      Ich hing das Telefon ein und schnappte Moritz. Oh Gott, der kleine Körper war überhitzt – und der letzte Ibuprofen-Saft war erst wenige Stunden her.

      „Moritz, du glühst ja.“

      Aber Moritz antwortete nur wirres Gebrabbel.

       Oh Moritz, was hast du nur?

      Schnell zog ich dem kranken Jungen seine Jacke über, gegen die eisige Kälte. Draußen lag Schnee. Selten für Anfang Dezember bei uns.

      Der Weg vom Dachgeschoss in die Tiefgarage schien mir ewig weit. Und Moritz war mit sechs Jahren auch nicht mehr unbedingt der leichteste – auch wenn er für sein Alter eher klein und zierlich war.

      Wie dringend nötig wäre eine helfende Hand. Aber Gerhard machte sich gerade Selbstständig. Von seinem alten Job war er freigestellt. Im Vorfeld meinte er, dass er sicher nicht mehr als ein oder zwei Tage die Woche etwas für den neuen Job tun könne, aber in der Realität sah es doch so aus, dass er ständig auf Achse war. Er traf sich permanent mit seinen zukünftigen Partnern, um dies und das zu besprechen.

      Ich schnürte Moritz in den Kindersitz und stieg ein. Mit den Fingern klimperte ich auf dem Lenkrad. Dieses verdammte Tiefgaragentor schien sich heute langsamer als sonst zu öffnen.

      Hoffentlich kam ich bei der Kinderärztin gleich dran.

      Die fünf Kilometer schienen mir dank meines Gasfußes recht kurz. Hoffentlich gab es keine Polizeikontrolle.

      Aber der da oben schien es gut mit mir zu meinen. Sogar einen Parkplatz fand ich unmittelbar vor der Praxis.

      Da unklar war, ob Moritz‘ Krankheit ansteckend wäre, mussten wir in einem separaten Wartezimmer Platz nehmen. Ich schaute auf die Uhr, Moritz noch immer auf meinem Arm. Die Zeit würde knapp werden. Mit der freien Hand kramte ich das iPhone raus und schrieb Gerhard eine SMS.

      „Bin beim Kinderarzt. Moritz glüht. Schaffst du es nach Hause bis Ina kommt?“

      Ich klickte auf den Sendeknopf und starrte auf mein Display – und wartete, und wartete. Keine Antwort. Er war doch sonst schnell. Nur heute nicht. Auch telefonisch war er nicht erreichbar. Und er wusste doch, wie schlecht es Moritz ging. Wieso rief er nicht an und erkundigte sich?

      Ich wurde nervös, wippte mit dem Fuß.

      Endlich rief mich die Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer.

      Die Ärztin nahm Moritz Blut ab, denn außer konstant hohem Fieber schien ihm nichts zu fehlen. Kein Husten, keine Pusteln, nicht mal Schnupfen.

      „Also Frau Johann. Einen bakteriellen Infekt kann ich ausschließen. Ein Antibiotikum