"Ich war damals sieben", erzähle ich und verdrehe die Augen.
"Du hattest mit sieben schon das Bedürfnis Schulutensilien aus Läden zu stehlen? Was warst du denn für ein fanatischer Streber?"
"Hey! Einen Laptop hatte ich damals noch nicht und ich wollte nicht mit Bleistiften schreiben. Ich mochte schon damals das Kratzen der Spitze auf dem Papier, als ich das erste Mal mit einem Füller meines Vaters geschrieben habe."
"Klingt nach einer aufregenden Kindheit."
Ich seufze und lehne meinen Kopf an den Rand des Bootes und schließe die Augen. "Ich wusste eben schon von klein auf, was ich will."
Die Sonne wird immer kleiner und die Temperatur fängt an zu sinken.
Aiden lehnt sich jetzt auch zurück. "Was haben denn deine Freunde dazu gesagt?"
Ich zucke mit den Schultern. "Ich hatte nie wirklich Freunde."
"Du meinst"- Aiden richtet sich wieder auf und sieht mich ernst an - "du hast schon von klein auf jegliche Freundschaften abgeblockt?"
Ich öffne meine Augen und sage: "Ich musste nichts abblocken, was mir nicht angeboten wurde."
"Du willst mir doch nicht erzählen, dass du absolut keine Freunde hattest, bevor du aufs College gekommen bist."
"Ich hatte Scar, sie ist meine beste Freundin."
"Und dein Freund in der zehnten Klasse, von dem du damals in der Bar erzählt hast? Was war mit ihm?"
"Er war nur eine gezwungene Erfahrung. Scar hatte damals ständig wechselnde Freunde und ich hab mich quasi dazu genötigt gefühlt, auch endlich einen zu haben. Aber eigentlich konnte ich ihn nie ausstehen. Er war ein Arsch."
"Wieso?"
"Er hat ...", sage ich unsicher. "Ach, ist doch egal." Ich richte mich auf und reibe mir über die Arme, um mich aufzuwärmen.
"Was hat er?"
Ich wische mir unsicher über die Stirn. Wieso ist er so neugierig? Und wieso denke ich tatsächlich darüber nach, mit ihm über solch intime Erfahrungen zu sprechen? Er hat irgendetwas an sich haben, das mich offenherziger macht. Normal ist das definitiv nicht. Schließlich seufze ich ergeben. "Er fand es immer total bescheuert, dass ich geschrieben habe und hat sich ständig über mich lustig gemacht, wenn er bei mir zuhause war und die vollgeschrieben Blöcke und meine Bücher gesehen hat. Er hat immer gesagt, dass so etwas nur Loser ohne Freunde machen. Loser, die sich ihre eigenen Freunde erschaffen müssen, um nicht allein zu sein." Meine Stimme ist leise. Es ist das erste Mal, dass ich das jemandem erzähle. Und erst jetzt fällt mir auf, wie sehr mich das eigentlich verletzt hat. Ich atme einmal tief. "Ich hab mir das fünf Monate angehört. Bis ... nun ja, bis er mit mir geschlafen hat." Vor Aiden ist mir das unheimlich unangenehm und ich fühle mich wie eine Schlampe. "Er meinte, dass ich erst einen richtigen Freund habe, wenn ich mit ihm schlafe und dann hab ich es einfach getan. Vorher hab ich mir total die Kante gegeben." Ich lache bitter, versunken in diesen schrecklichen Erinnerungen. "Er hat überall rumerzählt, wie ich nackt aussehe und ich - ich zitiere - 'Unter ihm gejammert habe, wie eine Jungfrau'. Er wusste nicht, dass ich Jungfrau war, es war mir immer unangenehm, weil er schon so viel Erfahrung hatte und ich ... naja, keine. Daraufhin habe ich mich endlich von ihm getrennt."
Aiden sieht mich mitleidig an. Es ist das erste Mal, dass ich so einen Gesichtsausdruck bei ihm sehe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn mag oder nicht. Ich will, dass er mich anlächelt und nicht, dass er mich besorgt anblickt. Er merkt, dass ich friere, zieht eine Decke aus einem Kasten und legt sie um uns beide. "Und dann? War alles wieder gut?", fragt er leise.
Ich starre auf meine Hände und schüttle mit dem Kopf. "Zwei Tage später hat er bei uns geklingelt, als ich nicht Zuhause war. Mein Vater wusste nicht, dass wir nicht mehr zusammen waren und hat ihn in mein Zimmer gelassen, damit er auf mich warten konnte. Das Resultat war, dass er alle meine Blöcke und Bücher mitgenommen hat und sie in seinem Garten verbrannt hat."
Aiden reißt entsetzt seine Augen auf und atmet erschrocken die Luft ein.
"Er hat mir nichts gelassen. Kein einziges Stück Papier. Von der ersten bis zur zehnten Klasse, es war alles weg." Meine Stimme bricht ab und erst jetzt merke ich, dass mir eine Träne über die Wange rinnt. Ich hätte niemals gedacht, dass mich die ganze Sache so verletzlich macht. Nachdem ich mich von ihm getrennt habe, habe ich mich nicht mehr damit befasst, sondern habe einfach weiter gemacht.
"Oh Gott", lache ich und wische mir die Träne schnell von der Wange. "Ich sitze hier und weine wie ein Idiot, tut mir leid."
"Du weinst nicht wie ein Idiot", sagt Aiden leise und sieht mir in die Augen. "Das macht dich nur viel lebendiger."
Die Sonne ist mittlerweile komplett untergangen und der Himmel wird immer dunkler. Man hört nichts, außer das Fließen des Wassers.
Ich sehe in Aidens Augen und verliere mich fast in ihnen. Dieses unglaubliche grün. Ich sehe auf seine Lippen. Ich würde ihn unheimlich gerne Küssen. O, wie unheimlich gerne ich ihn küssen würde und erfahren würde, wonach er schmeckt und wie sich seine vollen rosa Lippen auf meinen anfühlen. Ich fühle mich Aiden gerade unglaublich nah und das ist im Moment alles was zählt. Ich habe keine Ahnung, ob sein Herz schwarz oder blau ist und ich weiß auch nicht ob er nachts süße Träume oder Alpträume hat. Wahrscheinlich werde ich nie herausfinden, worüber er schreibt und an was er denkt, wenn er lächelt. Aber wenn ich sein Lächeln sehe, in all meinen durcheinander geratenen Gedanken, weiß ich eine Sache über ihn: Ich mag ihn. Ja, ich mag ihn.
Und da muss ich an meinen Dad denken. Und an Scar und Aby. Sie alle sind traurige Menschen, weil sie ständig verlassen werden. Ich will nicht einer von ihnen sein.
"Ich habe gerade solche Angst", flüstere ich zu Aiden.
"Wovor hast du Angst?", fragt er mich leise.
Dass ich mich in dich verliebe.
Ich wende mich von seinem Blick ab und sehe auf das Wasser. "Ich will nicht weinen müssen, weil ich verletzt werde. Ich will nicht wie Aby enden oder all die verlassenen Frauen aus den Büchern, die dachten, sie tun das Richtige … Ich will nicht verletzt werden. Davor habe ich am meisten Angst", hauche ich bedrückt.
"Raven", flüstert er und ich sehe ihn wieder an. In seinem Blick spiegeln sich so viele Emotionen, dass ich nicht einmal bestimmen könnte, welche es sind. "Ich werde dich nicht verletzen."
"Woher weiß ich das?"
Aiden atmet einmal tief ein und streichelt sanft meine Wange. "Das weißt du nicht, aber du musst versuchen mir zu vertrauen."
Ich will ihn küssen. Ich will ihn so sehr küssen. Aber ich weiß nun mal nicht, was passieren würde, wenn wir uns küssen. Die Situation danach wäre komisch und das möchte ich nicht. Ich will noch mehr von Aiden kennenlernen. Ich will ihn besser kennenlernen.
"Ich vertraue dir." Meine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen.
Aiden lächelt leicht und streicht mit dem Daumen über meine Unterlippe.
Mein Herz scheint jede Sekunde zu explodieren und meine Kopfhaut fängt an zu kribbeln. Schon mit dieser kleinen Berührung macht er ein Wrack aus mir.
"Wir sollten uns nicht küssen", sagt Aiden und sieht auf meine Lippen. Sofort sticht etwas in meiner Brust. Er will mich nicht küssen? Er nimmt seine Hand zurück und sieht lächelnd auf das Wasser. "Du bist mehr wert, als irgendein Kuss auf einem See." Wie meint er das? Hat er etwa schon einige Mädchen hier auf diesem See geküsst? Bei der Vorstellung, wie er ein anderes Mädchen küsst, dreht sich sofort mein Magen um. Ich bin total verwirrt und beobachte, wie er aufsteht und den Schlüssel des Bootes dreht. "Wir sollten wieder zurück. Es wird langsam dunkel."
"Okay", sage ich leise. Ich lasse mich in dem Sitz nach hinten fallen und versuche mir meine Enttäuschung nicht ansehen zu lassen. Findet er mich nicht attraktiv?
Aiden startet den Motor und fährt los.
Der Wind ist so