Ich frage mich, was Aiden gerade denkt. Er hätte mich eben einfach küssen können und wahrscheinlich hätte ich nicht einmal etwas dagegen gemacht. Aber er hat es nicht getan. Er hat es einfach nicht getan. Ist das etwas Gutes oder Schlechtes? 'Du bist mehr wert, als irgendein Kuss auf einem See', das ist doch eigentlich nichts Schlechtes. Oder?
Aiden und ich haben bis zum Weg in sein Auto kein Wort mehr gesprochen und das macht mich ein wenig nervös.
"Ich will nicht, dass es jetzt so komisch ist", murmle ich, während Aiden gerade auf die Bundesstraße biegt.
Ich spüre seinen Blick auf mir. "Dann lass es uns nicht komisch werden."
Schnell überlege ich. "Glaubst du, dass Abys Herz diesmal schlimmer gebrochen ist als sonst? Ich meine, sie hat wirklich viel geweint", sage ich, um ein Gesprächsthema zu finden.
"Nein. Es war dieses Mal sogar noch recht ertragbar. Es gibt Tage, an denen sie zu mir nach Hause gestürmt ist und Sachen kaputt gemacht hat."
"Ernsthaft?"
"Ja", lacht er. "Aber keine wichtigen Dinge. Nur ein paar Kissen zerrupft, Papier zerrissen. Aber das, was sie eben mit ihrer Kraft kaputt machen kann."
"Hast du deine eigene Wohnung?" Das frage ich mich schon die ganze Zeit.
"Ja, ich wohne nur ungefähr fünfzehn Minuten vom Campus entfernt."
"Du hast es gut. Ich wünschte manchmal, ich hätte auch meine eigene Wohnung. Aby schnarcht immer höllisch und jetzt, wo sie die Nächte nicht mehr bei ihrem Lover verbringt, kann ich mir das noch öfter anhören."
"Du musst ihr im Schlaf etwas vorsingen, dann hört sie auf."
Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache laut. "Was?" Ich stelle mir jegliche Szenarien vor, wie er das vor rausgefunden hat. Wie er nachts an Abys Bett steht und ihr etwas mit seiner rauchigen Stimme vorsingt.
"Ja, wirklich", lacht Aiden. "Das hab ich herausgefunden, als sie bei mir geschlafen hat."
Autsch. Sofort sticht wieder was in meinem Herzen. Hatten Aby und Aiden mal was miteinander? Oder waren sie gar zusammen? Sie sind beide attraktiv. Zusammen passen, würden sie auf jeden Fall. Ich überspiele meine Gedanken und meine: "Okay, ich werde es ausprobieren. Da hab ich aber noch eine wichtige Frage."
"Schieß los."
"Wie alt bist du eigentlich?"
Aiden lacht leise. "Zwanzig. Ich werde am 1. Februar einundzwanzig. Du?"
"Ich werde im September neunzehn."
Aiden nickt und ich sehe den Campus. Sofort wünsche ich mir, ich könnte noch länger bei Aiden bleiben. "Da sind wir", sagt er und parkt auf dem Parkplatz.
Ich schnalle mich ab und streiche mir nervös die Haare hinter die Ohren. "Aiden, ich ... ähm, ich will nur noch mal kurz danke sagen."
Aiden neigt seinen Kopf leicht und sieht mich fragend an. "Wofür?"
"Dass du mir zugehört hast, denke ich ... Ich habe darüber noch nie geredet. So offen."
"Kein Problem, Raven. Zuhören ist ein Nebeneffekt von 'So etwas'."
Ich lächle zurück und öffne die Tür. "Gute Nacht."
"Schlaf gut."
Kapitel 13
Ich kann immer noch nicht begreifen, was sich gerade zwischen Aiden und mir abgespielt hat. Wir saßen auf einem Boot, haben der Sonne beim Untergehen zugesehen. Ich habe mich ihm ein wenig offenbart, habe sogar geweint! Und dann saßen wir da, umschlungen in einer warmen Decke. Eigentlich wäre das in jedem kitschigen Roman der perfekte Moment für den ersten Kuss gewesen, aber Aiden hat es nicht getan. Er hat nicht versucht mich zu küssen. Ich denke, das ist gut.
Ich muss an Aidens Vater denken und wie Susan geguckt hat, als sie Aiden von ihm erzählt hat. Irgendetwas scheint sie zu bedrücken. Ich würde es gerne wissen, aber nicht aus Neugier, sondern einfach, um etwas von Aiden zu wissen, was vielleicht nicht jeder von ihm weiß und was mir mehr über ihn verrät.
Aber ich habe - allein heute - noch einiges mehr von Aiden kennengelernt. Ich habe sogar seinen Vater kennengelernt, der total nett ist.
Ich betrete leise mein Zimmer und hoffe, dass Aby schon schläft. Es stellt sich dann aber schnell heraus, dass mein Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist, denn sie liegt auf ihrem Bett und schreibt etwas an ihrem Laptop. Sie hat eine Brille auf der Nase und ihre dunklen Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden. So habe ich sie ja noch nie gesehen.
"Junges Fräulein", sagt sie ernst und zieht ihre Brille ab als sie mich erblickt. "Wir haben halb zehn. Kann man dich etwa nie mit einem Kerl in ein Auto stecken ohne, dass du einfach für Stunden verschwindest?"
"Aby, bitte nicht." Ich stöhne und lasse mich müde auf mein Bett fallen.
Sie grinst mich breit an, schiebt ihren Laptop vom Schoß und setzt sich an die Bettkante. "Erzähl mir sofort, was ihr getrieben habt."
Ich ziehe meine Augenbraue hoch und sehe sie erstaunt an. "Deine Laune scheint sich ja in den letzten Stunden ganz schön gebessert zu haben."
Sie zuckt mit den Schultern. "Ich hab gemerkt, dass es sich nicht lohnt ihm hinterher zu heulen. Neben einem Professor hab ich mich eh immer total dumm gefühlt."
"Okay." Ich gehe zu meinem Schrank, um meine Schlafsachen rauszuholen.
"Also? Jetzt erzähl schon!"
Ich ziehe ein Shirt von meinem Dad aus dem Schrank und schmeiße es auf mein Bett. "Wir waren nur noch kurz am See." Ich ziehe mir mein T-Shirt über den Kopf.
"Am Silverlake?"
"Ja."
"Und habt ihr euch geküsst?", sagt sie aufgebracht und wippt auf ihrem Bett herum.
Ich fühle mich so als würde ein Teenager vor mir sitzen.
"Nein, haben wir nicht. Ich sagte doch, dass da nichts läuft." Ich lege mich erschöpft ins Bett.
Aby verschränkt die Arme und zieht eine Augenbraue hoch. "Rave, langsam wird die Ausrede lahm."
Soll ich ihr wirklich davon erzählen? Ich meine, Aby hat mir auch sofort von Cam erzählt und sie ist wirklich offen mir gegenüber. Vielleicht kann ich durch sie noch mehr über Aiden erfahren, immerhin kennen sie sich schon lange.
"Wir waren halt am See...“, erzähle ich und starre an die Decke. "Wir haben geredet. Aber wir haben uns nicht geküsst."
"Geredet? Worüber?"
"Nur belangloses Zeug", gähne ich. Aby muss nicht wissen, was ich ihm über meinen Ex-Freund erzählt habe. Noch einmal möchte ich das nicht erzählen müssen.
"Aber du stehst auf ihn."
Ich verschlucke mich an meiner Spucke und krächze dann: "Ich mag ihn."
"Er mag dich auch."
Mein inneres Ich macht einen Flick Flack mit dreifacher Schraube.
"Hat er das gesagt?"
"Nein, aber ich kann es sehen. Ich bin Schriftsteller, ich hab ein Händchen für Gefühle."
"Okay." Mein Grinsen spricht wahrscheinlich Bände.
"Also gute Nacht, Rave", gähnt Aby und dreht sich um. "Und träum nicht zu viel von braunen Locken."
Ich verdrehe die Augen und schlafe ein.
-
Mein Wecker klingelt um sieben Uhr dreißig und ich rolle mich - noch viel zu müde - aus dem Bett. Aby steht schon angezogen vor ihrem Spiegel, schminkt sich und wünscht mir einen guten Morgen.
Nachdem ich mich geduscht, umgezogen und geschminkt habe, bin ich auch schon auf dem Weg zu meinem ersten Kurs - kreatives Schreiben. Sofort