Rainer Kilian

Regen am Nil


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      Der Regen ließ auf sich warten. Zum hundertsten Male wischte sich Ernst Wohlfarth die Glatze ab, der Schweiß tropfte ihm in die Augen. Seinen Job als Museumswärter versah er schon seit beinahe 40 Jahren. Die Klimaanlage des Frankfurter Senckenberg-Museums schuf normalerweise ein erträgliches Klima. Aber heute war der Teufel los gewesen. Die ägyptische Abteilung des Museums hatte eine Sonderausstellung eröffnet, deren Besucheransturm die Anlage kaum bewältigen konnte. Noch dazu stand die Luft seit einer Woche still in Frankfurt und das Thermometer kletterte über die 30°-Marke.

      „Isch weiß gar nit, was die all’ hier wolle!“, brummelte er vor sich hin, während er es sich auf einem Stuhl in einer Ecke bequem machte, von der er alles beobachten konnte. Die Ausstellung beinhaltete die Mumie und die Grabbeigaben des Prinzen Chaemwaset, der von dem Ägypten-Forscher Auguste Marriette entdeckt wurde. Ausgrabung war wohl das falsche Wort für die ersten Ägypten-Forscher, denn die Geduld zum Graben besaßen die Forscher damals noch nicht. Vielmehr bediente man sich einer Stange Dynamit und sammelte dann den Trümmerregen ein. In erster Linie erhoffte man sich Reichtümer und Gold, erst danach kam die Frage nach dem Woher und anderen Details aus dem Leben der Verstorbenen.

      Neuere, sorgfältigere Forschungen, brachten allerdings genauere Einzelheiten aus dem Leben des Prinzen zum Vorschein. Bei den letzten Grabungen war man auf Tontäfelchen gestoßen, die einen Schriftverkehr mit seinen Jugendfreunden darstellten. Darin beklagt er sein Leben, das er streng nach den religiösen Riten führen muss.

      „Wie sehr vermisse ich sie, die schönste ... Blume am Nil, den Duft ihres Körpers gleich den Blüten des Baumes (Mandeln?) ..., den mein Vater uns gebracht von seiner siegreichen Expedition ins Fremdland nach Osten zu des Horus (Pharao) Ruhm und Wohl. Ihre Augen sind den Sternen gleich. Die Priester des Amun-Re nahmen sie mir, weil sie niederen Standes sei. Die rituellen Waschungen sollen meinen Geist reinigen von ihrer Erinnerung. Doch was ist der fette Körper des Priesters gegen die Rundungen ihres Körpers, die Blüte des Lotos, die mir alle Freuden des Lebens schenkte. Wenn ich einst Pharao werden sollte, werde ich Sie nach Kusch (Nubien) schicken zu den Krokodilen, das gelobe ich bei Osiris und allen Göttern.“

      Diese Worte waren es, die eine antike Romeo-und-Julia-Story vermuten ließ und die Herzen der Menschen bewegte. Wenn Ernst Wohlfarth an seine Rita zu Hause dachte, fielen ihm weniger schmeichelhafte Worte ein, beim Stichwort Ägypten dachte er eher an Nilpferde. So konnte er dem Empfinden des Prinzen und seinem Seelenschmerz wenig abgewinnen. „Dumm Gewäsch!“, nannte er es. Um so mehr ärgerte es ihn, dass ganz Frankfurt wohl anderer Meinung war als er. Keine Zeitung, die nicht berichtete. In einer halben Stunde würde das Museum schließen, aber den Eingang hatte man schon vor 2 Stunden dichtgemacht. Zu viele Menschen waren daran interessiert, wer wohl die unbekannte Schönheit vom Nil war, denn genau das war nicht aus den Tafeln zu erkennen.

      So blieb viel Spielraum für die Fantasie der Besucher, die vor allem die Tafel und auch den Prinzen sehen wollten, dessen Mumie im Raum aufgebahrt war. “Räucherschinken“ war der Kommentar von Ernst Wohlfarth, der sich im Moment mehr für das Wetter interessierte. Dunkle Wolken hatten sich über Frankfurt zusammengezogen, die sich wohl in der nächsten Zeit über der Stadt entladen würden, um den lang ersehnten Regen zu bringen. Aber vorerst hatte sich nur die Schwüle ins Unerträgliche gesteigert.

      Auch aus diesem Grund hatte man den Eingang vorzeitig geschlossen, um die Menge zu zerstreuen, die vor dem schattenlosen Museumsvorplatz wartete. Manch einer hatte seinem Kreislauf in der prallen Sonne zu viel zugemutet und war zusammengeklappt, sodass die Rettungsdienste alle Hände voll zu tun hatten. Die aufziehenden Wolken hatten die Situation auch nicht viel verbessert.

      Jetzt war der Vorplatz menschenleer. Wer konnte, verzog sich in einen kühleren Raum und wartete auf Abkühlung durch das aufziehende Gewitter an diesem Spätnachmittag. Das Museum leerte sich allmählich und Wohlfarth erhob sich von seinem Stuhl, der ihm am Körper zu kleben schien. Er ging an das dahinter liegende Fenster, um nach dem Stand der Dinge zu sehen. In seinen Gedanken war er bei einem kühlen Glas Apfelwein, das seine Rita für ihn bereithalten würde, und in seinen Gedanken lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

      Schlagartig wurde er in die Realität zurückgeholt, als ein großer Blitz am Himmel zuckte und sofort darauf ein Knall die andächtige Stille zerriss, der die Scheiben des alten Gebäudes erzittern ließ. Erschrocken trat Wohlfarth einen Schritt zurück. Der Himmel öffnete seine Schleusen und brachte das ersehnte Nass. Der fallende Regen klatschte gegen die Scheiben und erzeugte eine konstante Geräuschkulisse, die nun in schneller Folge von Blitz- und Donnerschlägen unterbrochen wurde.

      „Na prima!“, dachte Wohlfarth. „Gleich zu viel des Guten, so komm isch abber nit’ trocken heim!“ Verärgert sah er durch die Scheibe und folgte den undeutlichen Konturen einiger Mutiger, denen der Sturm die Schirme aus der Hand riss und über den Platz trieb. Das Gewitter steigerte sich und sorgte dafür, dass die Autos stehen blieben, weil die Scheibenwischer das niederprasselnde Wasser nicht bewältigen konnten.

      Die Besucher hatten sich im Vorraum des Museums zusammengerottet wie eine Herde Schafe, denn die offizielle Öffnungszeit war vorbei. Keiner traute sich nach draußen, weil das Gewitter immer heftiger zu werden schien. Das Klatschen des Regens wurde nun von prasselnden Hagelkörnern übertönt, die rasch an Größe zunahmen. Das Trommeln gegen die Glasfenster wurde rasch heftiger, sodass Wohlfarth Bedenken hatte, sie würden dem Druck standhalten. Er würde wohl noch etwas auf seinen geliebten Apfelwein warten müssen, er konnte ja schließlich nicht das Häuflein Menschen im Vorraum dem Sturm zum Fraß vorwerfen.

      Ängstlich duckten sich die Frauen bei jedem Blitzschlag, aber die Männer schauten auch nicht viel mutiger nach draußen. Dort war es rabenschwarze Nacht geworden. Alle Geräusche wurden vom Jaulen des Windes und dem Trommelfeuer des Hagels geschluckt. Nur wenn ein Blitz über den Himmel zuckte, war unscharf etwas von draußen zu erkennen.

      Ein Besucher löste sich aus der Menge und nutzte die verbleibende Zeit, um noch einmal die Mumie des Chaemwaset zu betrachten. Ihn schien das tobende Inferno draußen wenig zu beeindrucken. Allen anderen wurde klar, dass ein Unwetter wie dieses seit ewigen Jahren nicht stattgefunden hatte. Ernst Wohlfarth konnte sich nicht vorstellen, dass es heute etwas Schlimmeres für ihn geben könnte als eine solche Naturgewalt, aber er sollte sich irren, und zwar gewaltig.

      „Ob es am Nil auch mal regnet?“, dachte er noch, kurz bevor das Unheil seinen Lauf nahm.

      Der Druck der Windböen auf die Scheiben und die Erschütterung durch den Hagel war zu groß geworden für das alte Fenster, an dem Wohlfarth stand. Der Rahmen gab ein ächzendes Geräusch von sich, das ihn unmittelbar zur Seite springen ließ. Bruchteile von Sekunden später barst die Scheibe. Ein Schwall Wasser, gemischt mit Hagel und Glassplittern, stürzte sich in den Raum und auf den Platz, an dem Ernst Wohlfarth gerade noch gestanden war. Zeitgleich ging die Sirene der Alarmanlage los, die Hölle brach über ihn herein. Gelähmt vor Schreck war er unfähig, sich zu bewegen.

      Mehr aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass der Besucher vor Chaemwasets Mumie diese plötzlich in der Hand hielt. Zuerst sah es so aus, als wollte er sie in Sicherheit bringen. Aber im nächsten Moment warf er sie auf den Boden, wo sie in Hunderte Stücke wie morsches Holz zerbrach. Auf den Knien riss er die verbliebenen Binden von dem Teil herunter, das zuvor den Brustkorb gebildet hatte. Dabei zerfiel dieser in noch kleinere Stücke.

      Als man Wohlfarth später vernahm, gab er zu Protokoll, dass der Besucher rief: „Oh Gott, er ist es nicht!“ Das war wohl der Moment, in dem ihm klar wurde, dass er nicht träumte.

      „Das gibt es doch nit!“, schrie er und rannte auf den Täter los. Von überall her kamen jetzt seine Kollegen gelaufen, aber er war derjenige, der dem scheinbar Irren am nächsten war. Kurz bevor er ihn greifen konnte, rutschte er auf dem hereinbrechenden Eis-Hagel aus und schlug hart auf den Boden auf. Wie im Nebel nahm er wahr, dass der Fremde über ihn hinwegsetzte und auf das zerbrochene Fenster zu lief. Er sprang auf den Stuhl von Ernst Wohlfahrt und von dort auf das Fenstersims. Gespenstisch hob sich der Umriss seines Körpers gegen das Chaos draußen ab, das kurz von einem Blitz erhellt wurde. Dann stieß er sich ab und landete auf den Steinplatten des Vorplatzes.

      Er sah die Polizisten noch, die sich durch die Alarmanlage aufgeschreckt