Rainer Kilian

Regen am Nil


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Millionen Volt an Energie aus dem Mast und stachen Flammen sprühend in den Körper des Fremden. Wie eine Stoffpuppe wirbelte er über den Vorplatz und blieb reglos liegen.

      Kurz darauf war der Sturm so schnell vorbei, wie er gekommen war. Außer dem Toten hinterließ der Sturm eine Schneise der Verwüstung und einen pensionsreifen Museumswärter. Die Zeitungen am nächsten Tag hatten genug Material, um das Sommerloch zu füllen.

       Das Talfest

      „Beeile dich, Sohn! Der Pharao wird gleich da sein!“ Die Barke hatte am westlichen Ufer des Nils angelegt, um ihre Passagiere aussteigen zu lassen. Lediglich der halbwüchsige Junge war noch im Boot und sah fasziniert auf die Flotte der Schiffe, die den Nil hinaufsegelte. Alle Boote waren von Fackelschein erleuchtet, denn es war Neumond im zweiten Monat des Schemu, des ägyptischen Sommers. Der Schein der Fackeln spiegelte sich golden in den Fluten des Nils. Bereits am Tage war die goldene Barke des Amun aus seinem Heiligtum in Theben aufgebrochen, um in Begleitung der Götter Mut und Chons über das Netz der Kanäle zum Totentempel am Rande der Wüste zu gelangen. Jetzt war alles bereit zur Ankunft des Pharaos.

      Schon von Weitem kündigten Sistrum, Trommeln und Bläser das Nahen des Herrschers der beiden Länder mit seiner Familie und seinem Hofstaat an.

      „Senenmut, beeile dich, sonst werden wir zu spät kommen!“ Erst nachdem er ihn an die Hand nahm, gelang es dem Vater, seinen Sohn von dem Anblick zu lösen. Wie seit vielen Jahren kam Senenmut in der Nacht mit seiner Familie zum alljährlichen Talfest auf dem westlichen Nilufer, um die Toten zu ehren und mit ihnen gemeinsam zu feiern. Nach dem ägyptischen Glauben waren die Seelen der Verstorbenen in der Lage, mit ihren Familienmitgliedern zu feiern und unter ihnen zu wandeln. Aber bevor man sich der eigenen Familie widmete, wartete man gespannt auf das Erscheinen des Pharaos, der mit seinem Gefolge den Nil heraufkam. Das war der Höhepunkt im Jahreslauf von Senenmuts Familie. Die Menschen kamen von überall her, um den lebenden Horus zu sehen, denn er war direkter göttlicher Abstammung; ihn zu sehen verhieß Glück und Segen für das Jahr. Durch die Hand des Vaters geführt, bahnte sich die Familie einen Weg durch die immer dichter werdende Traube an Menschen. Wachen hatten einen Bereich am Nilufer abgesperrt, dessen Zugang den niedriger gestellten Untertanen verwehrt war. Als sie den Bereich durchschritten, trat ein Soldat mit seinem Schwert fragend auf sie zu.

      „Halt im Namen des Pharaos, Thutmosis dem Ersten! Wer seid ihr?“

      „Ich bin Ramose aus Iuni, Schreiber des Pharaos im Tempel des Amun, mit meiner Frau Hatnofer und meinen sechs Kindern.“

      „Sei willkommen, Ramose.“ Der Soldat senkte seine Waffe. Erkennendes Lächeln ließ die Spannung in seinem Gesicht weichen. „Die Götter waren dir gnädig und haben dir eine große Familie geschenkt. Deine Söhne sind groß geworden seit dem letzten Mal. Ich kenne dich aus dem Tempel. Ihr müsst euch beeilen!“ Er wies ihnen einen Platz an, von dem sie die Ankunft beobachten konnten.

      Die Barke des Pharaos hatte festgemacht. Die Musik hatte mit seinem Eintreffen an Lautstärke zugenommen, die Senenmut in den Ohren schmerzte. Die Soldaten bildeten ein Spalier für den Hofstaat, der in kostbare Gewänder gekleidet an Land kam.

      „Heil dir, Thutmosis!“, jubelte die Menge, als der Herrscher erschien. Senenmut war stumm vor Staunen, als er die Fülle an Reichtum erblickte, welche die golddurchwirkten Gewänder des Pharaos und seiner Familie ausstrahlten. Golden glänzten die Ringe und die Armreifen. Der Brustschmuck, ebenfalls aus purem Gold, warf das Licht der Fackeln zurück und war mit edlen Steinen verziert. Die Doppelkrone als Zeichen der Herrschaft über die beiden Länder trug Geier und Kobra. Der künstliche Kinnbart war ebenso das Zeichen der pharaonischen Würde und wies ihn als lebenden Horus und rechtmäßigen Herrscher aus.

      Senenmut stimmte in die Jubelrufe ein, als sich der farbenprächtige Zug mit dem Pharao an der Spitze in Bewegung setzte und Kurs auf die Gedenkstätten hielt. So strömte die Menge zu den Hügeln, jede Familie ging zu den Begräbnisstätten ihrer Vorfahren. Auf dem Weg hatte Senenmut viele Fragen an seinen Vater, die dieser wie immer geduldig beantwortete.

      „Vater, warum feiern wir das Talfest?“ Ramose freute sich insgeheim über die Wissbegier seines Sohnes.

      „Weil wir so die Erinnerung an deine Vorfahren erneuern. Ihr Ba, ihre Seelen, werden unter uns sein und mit uns feiern und so auch ihr Ka, ihre Lebenskräfte erneuern.“ Sie erklommen einen steilen Pfad am Abhang eines Berges, der sie zu einem kleinen Totentempel führte. Er war in Form eines umgekehrten „T“ angelegt, dessen Längsachse in den Fels führte. Dort stand in einer Nische eine Statue des Osiris, des Herrn der Unterwelt, mit den Gesichtszügen eines ihrer Vorfahren. Die kürzere Querachse war zu einem Raum erweitert, in dem die Familie Platz nahm, um Opferspeisen und Getränke zu sich zu nehmen. Der Raum war angenehm kühl gegen die Luft draußen im Tal, denn der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht; erst früh am Morgen kühlte sich die Luft etwas ab. Von überall her hörte man den Gesang der Menschen, die frohe Andacht hielten.

      Auch Senenmuts Familie stimmte mit in die alten Weisen ein. Räucherkerzen verbreiteten einen angenehmen Duft im Raum, der an allen Wänden kunstvoll bemalt war. Senenmut entzifferte die alten Schriften, die ihn sein Vater gelehrt hatte: „Der Gerichtshof, der die Elenden richtet, wird nicht milde gestimmt sein an dem Tag, da die Unglücklichen verurteilt werden. Schlimm ist es, wenn der Ankläger allwissend ist. Vertraue nicht auf die Länge der Jahre, sie sehen die Lebenszeit wie eine Stunde an. Nach dem Sterben bleibt der Mensch allein. Und seine Taten werden neben ihm auf einen Haufen gelegt ... Wer das Jenseits erreicht, ohne Unrecht getan zu haben, der wird sein wie Gott, frei schreitend wie die Herren der Ewigkeit.“

      „Ich bin stolz auf dich, mein Sohn“, sagte Hatnofer. „Du bist sehr geschickt im Lesen der Schrift, bald kannst du wie dein Vater als Schreiber arbeiten.“

      „Das ist wahr“, pflichtete ihr Ramose bei und erklärte die Bilder: „Anubis, der schakalköpfige Gott, führt uns nach unserem Tod vor das Totengericht. Toth, der Allwissende, wird dein Herz wiegen. Wenn du die Wahrheit sprichst, wird es leichter sein als eine Feder. So wird Osiris deinen Körper wieder mit deinem Ka und Ba vereinen. Die die Unwahrheit sprechen, werden aber von dem krokodilköpfigen Monster verschlungen werden, sie müssen den zweiten Tod sterben. Denn dann wird dein Herz schwer sein, wenn es voll Lüge ist und die Waage wird sich senken. Dann gibt es kein Entrinnen mehr, du bist für alle Zeit verloren!“ Respektvoll lauschte Senenmut den Erklärungen seines Vaters, während er jedes Detail der Bilder in sich aufnahm.

      Während der gesamten Nacht aßen und tranken sie, hielten Zwiegespräch mit ihren Ahnen und ehrten sie durch ihre Anwesenheit. „Höre, mein Sohn, mit nichts kannst du mehr Ehre erlangen, als dass du deine Vorfahren ehrst. Denn nur so können sie im Binsengefilde leben ohne Sorge und in Freuden. Wenn deine Mutter und ich einst ins Reich des Osiris eingegangen sind, wird es deine Aufgabe sein, uns zu ehren und deinen Kindern von uns zu erzählen. Behüte unser Grab vor Räubern, denn nur wenn unsere Körper unversehrt sind, wird es uns möglich sein, im Reich des Osiris zu wandeln.“

      Senenmut war stolz darauf, dass sein Vater ihn mit dieser Ehre betraute. Er schwor sich insgeheim, seine Vorfahren niemals enttäuschen zu wollen. Mit stolz geschwellter Brust stimmte er in den Gesang seiner Brüder und Schwestern ein.

      Bis zum Aufgang der Sonne tanzten und sangen sie und ehrten Amun-Re im ersten Licht des neuen Tages mit geheimnisvollen, überlieferten Ritualen. Dann zogen alle zurück in ihre Dörfer auf der rechten Nilseite. Noch lange konnte man die Musikinstrumente hören, die die Nilbarken bei ihrer Überfahrt zum Ausklang des Talfestes begleiteten. Langsam verstummten die Trommeln und Leiern, als sich die Bewohner zum Schlafen in ihre Häuser zurückzogen. Ohne das Schreien der Ibisse wäre absolute Ruhe im Niltal gewesen.

      Doch fast unmerklich konnte man ein helles Klingeln vernehmen, das irgendwie nicht hierher gehörte. In immer gleichen Abständen durchschnitt es die Stille und verzerrte das Bild des dösenden Niltals zunehmend. Immer lauter werdend, drängte es sich in den Vordergrund und ließ keinen Raum mehr im Kopf. Das Panorama bekam Risse, wie eine Glasscheibe, und zersplitterte in Tausende Einzelteile. Dann war da nur noch dieses Klingeln. Es war das Klingeln eines Telefons ...