Rainer Kilian

Regen am Nil


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von weit her aus tiefem, dunklem Raum. Ich konnte es nicht einsortieren, woher es kam, und ich wollte es auch nicht wissen. Ich wollte nur meine Ruhe. Aber es ließ sich nicht abschütteln. Ein durchdringender Ton, der sich ins Bewusstsein sägte, dröhnte in meinem Schädel. Mein Wecker klang nicht so, es musste etwas anderes sein, was mich in diese Welt zurückholte. Erst als sich der Anrufbeantworter einschaltete, konnte ich das Folterinstrument identifizieren, das mich so quälte. Noch blind mit geschlossenen Augen tastete ich nach dem Quälgeist auf meinen Nachttisch und nahm den Hörer ans Ohr.

      „Menzl, hallo?“ „Erwachet, edler Ramses, ein neues Jahr hat begonnen. Kleopatra wartet auf Euch. Nehmt eure stählernen Flügel und begebt euch auf die Reise zu ihr!“

      „Guten Morgen, Johannes!“

      „Guten Morgen, Felix! Hast du mich sofort erkannt?“

      „Ich weiß nicht, wer sonst noch morgens um sieben Uhr so einen Blödsinn erzählen kann. Dafür braucht man kein Abitur!“

      „Schönen Dank auch.“ Das war die Retourkutsche für den frühen Weckruf gewesen, den nur Insider verstanden. Mein Freund Johannes hatte vorgehabt zu studieren, aber dafür fehlte ihm das Abitur. Er hatte auch Ansätze gemacht, im zweiten Anlauf seinen höheren Schulabschluss zu machen, aber aus Angst vor der Prüfung hatte er diesen Traum nie in die Tat umgesetzt. Zugetraut hätte ich es ihm auf jeden Fall, auf den Kopf gefallen war er nicht. Statt dessen war ein exzellenter Allround-Handwerker mit eigener Firma aus ihm geworden. Seine Arbeiten konnten sich sehen lassen. Also kein Grund, sich in überfüllten Universitäten zu quälen und am Ende mit Diplom, aber ohne Job da zu stehen.

      Aber wir kannten unsere wunden Punkte gegenseitig sehr genau, es war eine Art Sport für uns geworden, den Finger auf die Wunde zu legen, ohne uns aber tatsächlich wehzutun. Im Gegenzug kannte jeder aber auch die Geheimnisse des anderen.

      „Du hast heute Nacht wieder geträumt, oder?“, fragte er besorgt.

      „Wenn das Telefon nicht geklingelt hätte, vielleicht sogar mal bis zum Happy End ...“, lenkte ich ab.

      „Wenn es eines wird.“

      „Mach mir nur Mut. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Aber woher weißt du, dass ich geträumt habe?“ Er erstaunte mich immer wieder mit seinen treffsicheren Diagnosen.

      „Dafür brauche ICH kein Abitur. Du warst gestern Abend auf deiner Geburtstagsparty nur körperlich anwesend. Als Gabriele dich um Milch für den Kaffee gebeten hat, hast du ihr Ketchup gebracht.“

      Jetzt musste ich doch lachen. „Ich hoffe, sie hat ihn nicht getrunken?“

      „Meine Frau ist zwar blond, aber sie hat sich vor lauter Kummer um deinen Geisteszustand die Milch selbst geholt. Wann geht denn dein Flieger?“

      „Erst heute Abend um sechs. Wie gesagt, wenn das Telefon nicht geklingelt hätte, wäre noch Zeit gewesen zum Ausschlafen ...“

      „Mein lieber Felix, die Botschaft ist angekommen. Aber wie du weißt, bin ich viel beschäftigter Handwerker und habe Aufträge zu erfüllen. Also dachte ich, ich wünsch dir noch mal vorher schönen Urlaub.“ Irgendetwas war faul an der Sache, das konnte ich riechen. Schönen Urlaub konnte er mir auch gestern Abend wünschen.

      „Johannes, rufst du vom Handy an?“

      „Richtig erraten.“

      „Und wo bist du jetzt?“

      „Auf dem Marktplatz in Geisenheim. Ich sitze auf den Stufen des Domes und schau zu so einem alten Trödelladen gegenüber.“

      „Ich habe so was vermutet. Also komm schon rüber.“

      Er hatte die ganze Zeit vor meinem Haus gesessen und erst mal die Stimmung geprüft! Ich schob mich aus dem Bett und zog mir schnell Jeans und Pullover an, bevor ich die Treppe ins Erdgeschoss herunter schlurfte. So ganz wach war ich noch nicht, mein Traum ging mir noch immer durch den Kopf. Ich schloss die Tür zu meinem Geschäft auf und ließ Johannes herein, der nach unserem Begrüßungshandschlag zielstrebig den Weg in die Küche nahm, um Kaffee aufzusetzen. Ich vergewisserte mich, dass ich die Tür wieder verschlossen hatte, und folgte ihm.

      „Du sahst echt nicht gut aus gestern“, eröffnete er sein Gespräch.

      „Danke für das Kompliment. Ich bin halt wieder ein Jahr älter geworden.“

      „Aber mit 35 Jahren sollte man schon die Realität von der Fantasie auseinanderhalten können. Und da, glaube ich, hast du ein paar Probleme.“

      Wie gesagt, wir kannten unsere Geheimnisse und er war einer der wenigen, die von meinen Träumen wussten.

      „Jo, ich weiß nicht, wie ich es dir noch sagen soll. Es ist nicht nur ein Traum. Es sind wie längst vergessene Erinnerungen. Wenn ich davon träume, ist es so, als erlebe ich es nochmals. Und die Träume sind für sich recht seltsam und scheinen manchmal sinnlos. Aber sie haben angefangen, sich wie ein Puzzle zusammenzufügen.“

      Er runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen nach oben. „Deshalb bin ich noch mal hergekommen. Ich mach mir wirklich Sorgen um dich. Als du mir das erste Mal erzählt hast, dass du Träume hast, habe ich gedacht, dass du irgendein Zeug rauchst, das dir den Verstand vernebelt. Aber ich denke langsam, dass du dir einen anderen Beruf suchen solltest. Vielleicht dampft der alte Trödel irgendwas aus, das dir den Schädel verdreht.“

      Seine recht direkte Art, Dinge auszudrücken, war für Außenstehende ungewohnt und konnte beleidigen, aber ich war es gewohnt und konnte gegebenenfalls mit gleicher Münze zurückzahlen. Aber mir war nicht nach Streiten zumute. Jedoch die Bezeichnung „Trödel“ hatte ich heute schon zweimal gehört. Und das war einmal zu viel. Bevor ich jedoch etwas entgegnen konnte, signalisierte das Blubbern der Kaffeemaschine, dass der Leben spendende Trank fertig war. Also holte ich tief Luft und schluckte meine Bemerkung herunter.

      Ich fischte zwei Kaffeetassen aus dem Schrank und füllte sie mit dem herrlich duftenden Gebräu. Eigentlich war ich nicht genießbar, bevor ich nicht wenigstens eine Tasse getrunken hatte. Wenn es keinen Kaffee geben würde, hätte ich ihn gewiss erfunden. Eine heiße Dusche gehörte ebenso zu meinem morgendlichen Ritual, um den Motor auf Trab zu bringen. Mein Hausarzt hatte mir etwas von einem zu niedrigen Blutdruck erzählt, aber damit könnte ich hundert Jahre alt werden. Im Volksmund hieß so etwas Morgenmuffel. Aber damit konnte ich leben. Dafür war ich noch wach, wenn andere schon lange müde waren.

      Auf jeden Fall war mein morgendliches Aufwachritual empfindlich gestört worden, aber in Anbetracht meines Urlaubes war ich bereit ihm zu vergeben. Ich blies in meine Kaffeetasse, um ihn auf trinkbare Temperatur zu bringen und reichte Jo seine Tasse.

      „Wie trinkst du deinen Kaffee?“

      Der griente übers ganze Gesicht. „Ohne Ketchup!“

      Wer solch nette Freunde hat, braucht keine Feinde mehr, dachte ich mir. Aber der erste Schluck Kaffee stimmte mich versöhnlich. „Okay, okay. Für dich würde ich sogar Blausäure besorgen, wenn ich die Garantie hätte, dass Ruhe wäre vor dir!“

      „Wer soll denn sonst auf dich aufpassen? Deine Traumfrau muss ja wohl noch gebacken werden. Vor allem wenn sie eine Königin als Konkurrentin hat. Aber mal im Ernst“, seine Miene hatte etwas an Heiterkeit verloren. „Es wird mal Zeit für dich, dir was Weibliches zu suchen. Was real Existierendes, meine ich. Du bist gerade gewachsen, ein Kerl im besten Alter. Du hast deine Firma die eine Familie ernähren kann. Mir fallen auf Anhieb mindestens fünf Mädels ein, die glücklich wären, wenn du sie mal zum Essen einladen würdest.“

      „Sind die so ausgehungert?“

      „Stell dich doch nicht blöder an, als du bist. Aber wenn du es so nennen willst, könnte ich die Frage mit Ja beantworten. Oder weißt du nicht mehr, wie es geht?“ Ich wusste ja, dass er nicht ganz Unrecht hatte, was mich umso mehr ärgerte. Aber meine letzte Beziehung war eine mittlere Naturkatastrophe gewesen und ich hatte noch keine Lust auf neue Experimente.

      „Mein Gott, Felix. Denk doch nur mal an das letzte Lindenfest. Die kleine Blonde in der Sektbar hat dich den ganzen Abend angestrahlt.