Kim Scheider

Der rote Feuerstein


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Regalen vor sich hin, ohne die Aussicht darauf, jemals gelesen zu werden und um die alten Steinplatten stand es noch schlechter, da es kaum noch Menschen gab, die sie überhaupt lesen konnten. Auch kam es vor, dass außer dem in der „Ewigen Bibliothek” erhaltenen Schriftstück, kein weiteres mehr existierte. Viele Schriften waren dem Zerfall und Bränden zum Opfer gefallen, ganze Bestände bei Bücherverbrennungen vernichtet worden. So kam es, dass der Fudnoff zum Wächter des atlantischen Archivs auserkoren wurde. Keiner wusste, woher er kam, er schien schon immer da gewesen zu sein, und es ahnte auch keiner, warum er, als einziger Atlanter überhaupt, lesen und schreiben konnte.

      „Ein Atlanter liest nicht, er wird gelesen”, war eine der ersten Lebensweisheiten, die ein Neuatlanter in der Regel zu hören bekam. Es war ja nicht so, dass sie es nicht versucht hätten, doch obwohl sie jede Sprache, in der ihre Geschichten erschienen waren, perfekt beherrschten, war es keinem je gelungen, auch nur ein zusammenhängendes Wort zu lesen oder gar zu schreiben, selbst, wenn sie es in ihrer geschriebenen Persönlichkeit konnten. Lediglich Zahlen konnten sie „lesen”.

      Der Fudnoff war also von großem Wert für die Atlanter, da es neben dem Lagern, Pflegen und Archivieren der Schriften auch zu seinen Aufgaben gehörte, die Texte in regelmäßigen Abständen zu lesen. Somit war die ungewöhnliche und wahrscheinlich vollständigste Schriftensammlung tief unter dem steinernen Herzen von Atlantis zu einer Art Lebensversicherung für sie geworden.

      Dementsprechend groß war die Aufregung, die König Fosites Mitteilung folgte. Er ließ ihnen einen Moment Zeit, seine Worte zu verdauen, dann hob er beschwichtigend die Arme.

      „Ich weiß, dass euch dies alles beunruhigt. Seid euch gewiss, dass ich mir schon seit längerem Gedanken dazu mache und euch schon bald Näheres zu meinen Plänen berichten kann.” Ruhig glitt sein Blick über die versammelte Menge.

      „Meine Krönung kommt ja nicht ganz unerwartet”, fügte er lächelnd hinzu und das Volk griff den Scherz dankbar auf, um erleichtert aufzulachen. Immerhin wusste Fosite ja schon seit 77 Jahren, 3 Monaten, einer Woche und 5 Tagen, dass er König werden würde.

      Deak warf Vicki einen besorgten Blick zu.

      „Meinst du wirklich, das war ‘ne gute Idee mit deiner Bewerbung?”

      „Ach Deak! Die Chancen, dass ich gelost werde, sind ja wohl verschwindend gering. Hast du gesehen, wie voll der Kessel schon war, als wir kamen? Und ich war ja noch lange nicht die Letzte.”

      Aber das beruhigte ihren Freund nicht im Geringsten. Betreten scharrte er mit den Pfoten im Erdreich herum. Vicki sah ihn lächelnd an.

      „Selbst wenn ich gewählt werden sollte. Bis ich gekrönt würde, kann König Fosite die Probleme doch schon längst im Griff haben.” Sie sah das alles ziemlich entspannt, aber Deak hatte sie noch nicht so ganz überzeugen können.

      „Und wenn sie dann nächste Woche auslosen?", dachte er trotzig. „Was dann?"

      König Fosite hob erneut um Ruhe bittend die Arme.

      „Doch nun zu meiner ersten angenehmen Amtshandlung! Lasst uns mit der Auslosung des nächsten Krönungstermins und des zukünftigen, sowie des stellvertretenden zukünftigen Königs -”

      „Oder Königin”, schallte es aus dem Publikum.

      „...oder der zukünftigen Königin beginnen!”, vollendete Fosite den Satz. „Verehrtes Känguru, würdest du bitte die beiden Kessel holen und deines Amtes walten?”

      Das Känguruh mit der roten Zipfelmütze hatte sein Scharmützel mit der Hexe offenbar gut überstanden. Mit Hilfe eines kleinen Zwerges, dessen Mütze es anscheinend trug, schleppte es nacheinander zwei Kessel herbei und stellte sie König Fosite zu Füßen, der nun erstmalig auf dem Ratstuhl seiner Vorväter Platz genommen hatte.

      Der größere Kessel war silbern und mit wunderbaren Gravuren versehen, die unterschiedlichste Landschaften der Fabelwelt Atlantis zeigten. In dem Gefäß war für jeden Tag der kommenden 100 Jahre ein Los enthalten. Man hatte sich schon früh darauf geeinigt, die Amtszeit eines Königs auf maximal 100 Jahre zu beschränken. Auch wenn die Zeit hier weniger von Bedeutung war als bei den Menschen auf der Erde, hatte sich gezeigt, dass diese Einschränkung durchaus sinnvoll war. Im Normalfall waren auch die abtretenden Monarchen froh, von der Verantwortung nach einer gewissen Zeit wieder entbunden zu werden. Doch hatte das Los bisher noch keiner Königin und keinem König weniger als fünfzig Jahre beschert, so dass alle eine arbeitsreiche und ausgefüllte Amtszeit vorzuweisen hatten.

      Nicht nur der amtierende König war immer recht gespannt, wie lange seine Regentschaft wohl dauern möge, denn irgendwann würde sicher auch mal ein jüngeres Datum gezogen.

      Das Känguru rührte mit einem gewaltigen hölzernen Löffel wie in einer Suppe die Papierfetzen mit den Daten durcheinander. Als es mit seiner Arbeit zufrieden war, wandte es sich dem kleineren Kessel zu, der die „Bewerbungsfotos” all derer enthielt, die sich den verantwortungsvollen Aufgaben des Königspostens gewachsen fühlten und auf ihre Auslosung hofften. Das pure Gold des Kessels war mit unzähligen winzigen Darstellungen der „Ehemaligen” graviert. Und auch König Fosites Antlitz würde eines Tages dort prangen. Auch der Inhalt dieses Kessels wurde unter den gestrengen Augen des atlantischen Volkes kräftig durchgerührt.

      „Nur noch eines, bevor wir anfangen”, sagte König Fosite, als er merkte, dass die Spannung in der Menge kaum noch zu ertragen war. „Nennt mich bitte einfach nur Fosite! Mir ging das schon als Gott ziemlich auf die Nerven, mit dieser übertriebenen Ehrerbietung und so. Ich erwarte von euch nur den nötigen Respekt, den jeder hier jedem Geschöpf entgegen bringen sollte, keine Huldigungen oder ähnliches.”

      Barbara die Schöne betrachtete plötzlich angestrengt ihre lackierten Krallen. Sie hatte während ihrer Amtszeit sogar sehr großen Wert auf eben jene Ehrerbietung gelegt.

      „Wenn wir uns alle an die altbewährten Regeln aus dem „Buch der ersten Tage” halten, kann ich mich als euer König um die zweifellos anstehenden Probleme kümmern.”

      Hätte er noch etwas sagen wollen, es wäre im tosenden Beifall der Menge untergegangen.

      „Kann es dann losgehen?”, fragte das Känguru, inzwischen ohne Mütze, dafür mit völlig falsch geknoteter Krawatte, etwas ungeduldig nach.

      Lachend legte der König seine Hand auf die schmale Schulter des Tieres. „Ja, es kann losgehen!", rief er feierlich. „Lasst uns zunächst das Datum der nächsten Krönung auslosen.”

      Das Känguru stand bereits hinter dem silbernen Kessel. Es krempelte seine imaginären Ärmel hoch und tauchte seine Pfote tief in die Flut aus Papierschnipseln ein. Das Volk war so leise, dass die Luft zu knistern schien. Aufreizend langsam zog das Känguru einen kleinen weißen Zettel aus dem Loskessel, faltete ihn umständlich auseinander und las für sich leise das darauf befindliche Datum. Erschrocken sah es zu Fosite, dann wieder auf den Zettel und zurück zum König.

      „Was ist denn los, mein Freund?”, fragte dieser das verschreckte Tier. „Du machst ein Gesicht, als hättest du den nächsten Sonntag gezogen.” Es sollte eigentlich ein kleiner Scherz sein, doch als Fosite noch einmal in das verstörte Gesicht des Kängurus schaute, war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht sogar voll ins Schwarze getroffen hatte. Auch in der Atlanter Bevölkerung kehrte Unruhe ein.

      „Ich hab’s doch gewusst!”, meinte Deak, ohne zu wissen, was überhaupt auf dem Zettel stand. Vicki sah ihn nur Schulter zuckend an und blickte wieder erwartungsvoll zu dem nach wie vor sprachlosen Känguru, das sich nun kräftig räusperte, bevor es die Stimme erhob.

      „Die nächste Krönung findet am 18. April...”, sagte es überdeutlich und legte eine dramaturgische Pause ein, bevor es die Bombe platzen ließ. „Sie findet statt am 18. April 2007!”

      Fassungslose Stille breitete sich aus. Klar, irgendwann musste das passieren, aber ausgerechnet bei Fosite? Er wäre so ziemlich der erste König gewesen, der es auch in einem demokratischen Wahlverfahren geschafft hätte, die Massen zu begeistern. Zwar hatten die vorherigen Könige ihre Arbeit nicht unbedingt schlecht gemacht, doch wäre keiner