Kim Scheider

Der rote Feuerstein


Скачать книгу

Leider stand so viel auf dem Spiel - es war keine Zeit mehr, ihn behutsam auf die ihm bevorstehende Aufgabe vorzubereiten. In zwei Tagen wäre die Krönungsfeier. Wenn sie dann nicht zurück wäre...

      Sie traute sich kaum, den Gedanken zu Ende zu bringen. Sie mussten es einfach schaffen. Ihrer beider Welten waren in Gefahr und sie waren die einzigen, die dies noch verhindern könnten. Wenn sie doch nur endlich Zeit finden würde, Paul all die Umstände zu erklären, die ihn nun in diese Situation gebracht hatten, dann würde er sicher verstehen, dass es einfach nicht anders ging.

      Nun aber würde der Junge es wohl auf die harte Tour lernen müssen. Er konnte es schaffen. Vicki war sich ganz sicher, dass er der Richtige für diese Aufgabe war.

      Er würde es schaffen!

      Bestimmt!

      Zunächst einmal musste Vicki jedoch zusehen, dass sie aus dieser Sackgasse irgendwie wieder heraus kamen. Doch zum Glück war die Fee praktisch veranlagt.

      „Pass auf, wir müssen hier weg”, sagte sie behutsam zu Paul, der vor Angst schlotternd auf der vorletzten Treppenstufe stand.

      „Und wie soll das gehen?”, stieß er panisch hervor. „DA IST ZU!”

      „Das ist kein Problem, lass mich nur machen. Du musst aber ein Stück zurück gehen.”

      Auf das bisschen Krach kommt es jetzt auch nicht mehr an, dachte die kleine Fee. Ein feuriger Blitz schoss aus Vickis Handfläche und eine mittlere Explosion ließ den Bretterverschlag, der ihnen den Fluchtweg versperrte, in tausend Einzelteile zerbersten.

      Der Weg war nun frei und Paul hatte sich soweit gefangen, dass er Vicki direkt folgen konnte. Schon nach ein paar Metern drehte die Fee sich zu ihm um und Erleichterung stand ihr im Gesicht geschrieben.

      „Hier kenn’ ich mich aus, jetzt ist es nicht mehr weit.”

      Sie bogen nach links ab, folgten einer kurzen Treppe ein Stück nach oben und gelangten in einen langen Gang, an dessen betonierten Wänden Holzbänke standen. Unter einer von ihnen hatte Paul damals im Urlaub den Feuersteinanhänger gefunden.

      Den Schlüsselstein!

      Wieder tastete er erschrocken nach der Kette und stellte beruhigt fest, dass sie noch da war. Der Gang vor ihnen mündete bald in einer T-Kreuzung, an der Vicki wieder links abbog und sich wieder aufgeregt zu Paul umdrehte.

      „Wir sind jetzt da, gleich da vorne ist es...”

      Fröhlich summend flog sie voraus, hielt jedoch kurze Zeit später wie angewurzelt inne.

      „Das, - das gibt’s doch nicht. Das ist falsch!”

      Hektisch flog Vicki an der Mauer entlang, hin und her zwischen zwei bestimmten Stellen. Das konnte doch nicht wahr sein!

      „Was ist los? Was hast du? Was ist falsch?” Paul blickte verständnislos auf die beiden Punkte im Beton, die Vicki immer wieder anflog.

      „Da, sieh hier, das Loch für den Schlüsselstein.”

      Paul trat näher an die von Vicki beleuchtete Stelle heran. Er entdeckte einen kleinen, unscheinbaren Spalt im Gestein, gerade groß genug, um den Feuerstein an seiner Kette der Breite nach in den Ritz zu stecken. Kaum hatte er dies entdeckt, flog Vicki auch schon etwa zehn Meter weiter nach rechts und beleuchtete die andere Stelle. Auch hier war ein Spalt in der Wand mit den entsprechenden Maßen.

      „Soll das etwa heißen, es gibt zwei Tore?” Paul verstand die Welt nicht mehr.

      Aber Vicki erging es anscheinend ähnlich. „Ich weiß auch nicht, was das soll. Hier war immer nur ein Tor - das hier!” Vickis Stimme überschlug sich fast vor Panik.

      „Oder nein, - das hier! Oder, - ach Mist, ich weiß es einfach nicht!”

      „Du weißt nicht, welches das richtige Tor ist?”

      „Nein, ich weiß es nicht.” Die Stimme der Fee war nur mehr ein Flüstern. „Ich weiß es nicht.”

      Augenblicklich wurde Paul wieder von der Panik befallen, die er gerade erst mühsam niedergekämpft hatte. „Was sollen wir denn jetzt machen? Das Monster kann jeden Moment hier sein! Wir können doch nicht einfach durch irgendeines der Tore gehen, ohne zu wissen, wo es uns unter Umständen hinführt?”

      Paul verfluchte sich selber dafür, sich überhaupt auf diese wahnwitzige Aktion eingelassen zu haben.

      „Eigentlich müssten beide Tore nach Atlantis führen”, überlegte Vicki und besah sich die beiden Schlüssellöcher genauer. „Diese Tore sind eindeutig mit dem Atlanter Feuerstein zu öffnen, also müssen sie auch beide nach Atlantis führen.”

      Wieso Atlanter Feuerstein?, dachte Paul bei sich. Das ist doch Helgoländer Feuerstein. Aber auch diese Frage landete erstmal auf dem Ablagestapel für „später”.

      „Ja, so muss es sein!”, riss Vicki ihn aus seinen Gedanken. „Beide Wege müssen nach Atlantis führen. Nur wird einer von ihnen sicher einen Haken haben. Ich kann mir einfach nicht erklären, warum ein Ort plötzlich zwei Zugänge haben sollte, noch dazu so dicht beieinander. Das macht einfach keinen Sinn!”

      Paul fühlte sich nicht in der Lage, ihr bei der Enträtselung dieses Problems irgendwie behilflich zu sein, daher zuckte er nur mit den Schultern und schüttelte hilflos den Kopf. Doch die kleine Fee war ganz in Gedanken und schien auch keine Reaktion von ihm zu erwarten.

      „Gut, lass uns versuchen logisch vorzugehen”, setzte Vicki ihre Überlegungen fort. „Ich kann mich nicht erinnern, welches Tor das richtige ist und es gibt auch keine Hinweise, die mir die Entscheidung erleichtern würden. Beide sehen identisch aus. Wir könnten es also auslosen. Aber nein, besser nicht. Dass Auslosen nicht immer die beste Lösung ist, sehen wir daran, dass wir überhaupt unter diesen Bedingungen hier sitzen.”

      Paul verstand kein Wort von dem, was die Fee da wie im Fieberwahn runterrasselte. Vicki indes musste an den Verfolger denken und wunderte sich, dass er sie nicht schon längst eingeholt hatte. Sie konnte die drohende Gefahr, die von ihm ausging, regelrecht körperlich spüren.

      Dass besagter Verfolger keine fünf Meter weiter im Gang stand und geradezu widerlich zufrieden grinste, konnten die beiden nicht sehen. Er vertraute ganz darauf, dass sie das richtige Tor wählen würden, ansonsten würden er und seine Brüder schon entsprechend nachhelfen.

      „Rechts oder links?” Die Fee dachte wieder angestrengt über das Problem nach, vor dem sie standen. „Rechts? Oder links? Links oder rechts? Links - links, wie linkisch oder falsch... Falsch! Das ist es! Links gleich linkisch, gleich tückisch oder falsch!”

      „Und rechts, gleich recht, gleich richtig!”, vollendete Paul den Gedanken, der sofort wusste, worauf die Fee hinaus wollte.

      „Ja, das muss es sein”, rief Vicki glücklich. Die drohende Gefahr durch den Rochusmenschen ließ sie nach jedem noch so dünnen Strohhalm greifen. „Rechts gleich richtig!”

      Paul streifte vor Aufregung wie elektrisiert die Kette mit dem Schlüsselstein über den Kopf und trat vor das rechte Schlüsselloch. Im Grunde war es die pure Verzweiflung, die sie beide an die Lösung des Rätsels glauben ließ. Kurz überlegte Paul, ob es wirklich so einfach sein sollte, aber es half sowieso nichts, noch länger zu zögern. Der Rochusmensch konnte sie jeden Augenblick eingeholt haben, also steckte er den Anhänger in den unscheinbaren Ritz. Sofort bildete sich ein dunkelrot schimmernder Torbogen im Gestein, der den Beton verschwinden ließ und die dahinter liegenden Felsmassen zum Vorschein brachte. Er sah aus, als bestünde er aus beleuchtetem Feuerstein. Die Flügeltür des Tores stand einladend offen und offenbarte einen ebenfalls rot schimmernden, leicht pulsierenden Tunnel, aus demselben Material, aus dem auch der Torbogen bestand.

      „Sieht aus wie immer”, bemerkte Vicki optimistisch, und gemeinsam traten sie, ohne zu zögern, durch das Tor.

      Als es sich gleich darauf wieder hinter ihnen schloss, traten die drei Rochusmenschen aus dem Schatten des Ganges an das Tor heran. Jeder von ihnen trug einen länglichen schwarzen Opal