Kim Scheider

Der rote Feuerstein


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Ein Wunder, dass er nach all der Zeit noch dort lag und kein anderer ihn mitgenommen hat. Leider habe ich meine Zauberkräfte über die lange Zeit eingebüßt. Ich konnte ihn nicht aus eigener Kraft fortbewegen. Und dann kamst du. Ein Tourist! Und hast ihn mitgenommen.”

      Paul sah ihr an, was sie empfunden hatte, als ihr klar geworden war, dass der Stein - und somit jede Hoffnung jemals nach Hause zurückzukehren - mit ihm um die nächste Ecke entschwunden war.

      „Ich war verzweifelt, völlig von der Rolle. Alle Hoffnung war dahin.” Sie lächelte ihn schüchtern mit Tränen in den Augen an und erzählte weiter. „Dann kamst du wieder. Letztes Jahr im Sommer. Weißt du noch?”

      Natürlich wusste er es noch. Und erinnerte sich plötzlich an ein paar merkwürdige Situationen, die ihm damals gar nicht so bewusst geworden waren. In jeder spielte ein kleines summendes Etwas die Hauptrolle, das er für ein besonders lästiges Insekt gehalten und genervt mit der Hand weggescheucht hatte. „Das warst du?”

      „Jedes mal!”

      Nachdenklich ließ Paul sich das alles durch den Kopf gehen.

      Sollte er etwa wirklich schon seit Monaten, ohne es zu wissen, einen Schlüsselstein besitzen, der einem den Weg nach Atlantis öffnen würde? Das musste doch eine Verwechslung sein. Er sah an sich hinunter zu dem roten Stein an seiner Kette und wollte gerade seine Verwechslungstheorie zum Besten geben, als die Fee mit ihren Erzählungen fortfuhr.

      „Deine Eltern hingen wie Kletten an dir. Ich hatte keine Gelegenheit, dich mal alleine zu erwischen. Dann warst du wieder weg. Aber dieses Mal war es nicht ganz so schlimm. Inzwischen wusste ich ja, dass du immer wiederkommen würdest.”

      Ein fragender Ausdruck machte sich auf Pauls Gesicht breit.

      „Okay, ich habe euch ein bisschen belauscht”, gab sie zu. „Musste doch wissen, mit wem ich es zu tun habe.” Eine kurze Pause trat ein, in der jeder der beiden seinen eigenen Gedanken nachhing.

      „Seit wieviel Jahren kommt ihr eigentlich schon hier her?”

      „Solange ich zurück denken kann”, antwortete Paul. „Und laut meinen Eltern noch länger.”

      „Tja, und jetzt bist du zum Glück wieder hier. Und sogar alleine. Lassen dich deine Eltern jetzt endlich von der Leine, was?”, fragte die Fee.

      Da war es wieder, das freche Grinsen in ihrem puppenhaften Gesicht. Paul musste auch lächeln.

      „Ja, inzwischen darf ich auch alleine losziehen.”

      Und prompt passiert mir so was, fügte er in Gedanken hinzu und schüttelte sich fröstelnd. Es war zwar erst April, dafür jedoch schon recht warm in den letzten Tagen. Doch schlagartig schien es um einige Grad kälter geworden zu sein. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Paul aus und weckte in ihm ein heftiges Verlangen, diesen Ort zu verlassen.

      Auch Vicki wirkte auf einmal ziemlich nervös.

      „Ein Rochusmensch”, hauchte sie ängstlich und ihr geheimnisvolles Leuchten erlosch mit einem Schlag. „Ein Rochusmensch...”

      „Lauf!”, schrie sie Paul unvermittelt an. „Lauf so schnell du kannst. Ich lenke ihn ab.”

      Paul starrte sie verständnislos an. Ein Rochusmensch? Was sollte das denn nun wieder bedeuten?

      „Verschwinde endlich!”, brüllte Vicki ihn mit sich überschlagender Stimme an. „Nun hau schon ab!”

      Und dann sah er ihn.

      Ein Rochusmensch? Das, was da über ihren Köpfen am Himmel tobte, das war kein Mensch, das war ein Ungeheuer. Ein Monstrum. Ein Alptraum. Nie zuvor hatte er ein solches Geschöpf gesehen, außer vielleicht auf den Titelbildern der Gruselromane, die seine Mutter ab und an las.

      Das Wesen über ihm verdunkelte nahezu sein ganzes Sichtfeld. Es war unerhört groß, hatte nur entfernt menschenähnliche Formen vorzuweisen und erinnerte mehr an eine Mischung aus einem Golem und einem Riesen. Seine giftgrünen Augen strahlten eine Boshaftigkeit aus, wie Paul sie noch nie gefühlt hatte. Zudem bestand das Untier aus einer undefinierbaren Materie, wobei Paul noch nicht einmal genau hätte sagen können, ob es überhaupt aus einem festen Material bestand oder gar feinstofflich war. Es wirkte irgendwie holografisch, an den Rändern seltsam verzerrt, als würde etwas aus ihm herauslaufen. Obendrein konnte es nicht nur ohne Flügel fliegen, sondern tat dies, trotz der ungeheuren Größe, auch noch mit einer Geschwindigkeit und Wendigkeit, die der eines Insektes in nichts nachstand.

      Mit einem letzten „Lauf endlich!”, flatterte Vicki hoch und ließ Paul aus seiner Erstarrung erwachen.

      Ohne weiter nachzufragen, begann Paul zu rennen. Rannte, bis ihm die Lungen brannten und er kaum noch Luft bekam. Er wagte nicht einmal, sich umzudrehen, um zu sehen, was sich hinter ihm wohl inzwischen abspielte.

      Und nun saß er hier am Anlegesteg, wartete bibbernd auf die Dünenfähre und wollte noch immer nicht glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.

      Eine Nacht wie ein Traum

      Endlich, die Dünenfähre!

      In Gedanken versunken hatte Paul noch eine Weile an seinem Feuerstein herumgespielt und sich dann doch noch getraut, sich in Richtung „Friedhof der Namenlosen“ umzudrehen. Und da er nichts Ungewöhnliches hatte erkennen können, war er zu dem Schluss gekommen, es müsse doch an den Nachwirkungen seiner ersten Exkursion in die Welt der alkoholischen Getränke gelegen haben. Kaum hatte die Dünenfähre angelegt und die schnatternde Schar Touristen sowie einige Vogelkundler auf die Düne entlassen, da kam er sich fast schon etwas albern vor, überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, Prinzessin Vicki XII. und der Rochusmensch seien Realität gewesen.

      Und doch war ihm alles so echt vorgekommen.

      Was, wenn...?

      „Aber nein, Feierabend jetzt!", ermahnte Paul sich selber. „Schluss mit dem Theater! Ich fahre jetzt rüber, esse was und dann wird sich schon alles aufklären!"

      Er bestieg die Dünenfähre und stellte fest, dass zumindest die Schmerzen in seinen Oberschenkeln Realität waren. Gerannt war er also tatsächlich.

      Kaum hatte das kleine Boot abgelegt, wanderte seine Hand doch wieder in Richtung Kette und er befühlte noch einmal den Stein. Er fühlte sich ganz warm an, als sei er durch die Begegnung mit der Fee irgendwie „aktiviert” worden. Auch ein ganz leichter, fließender Schimmer schien von dem Material auszugehen. Dem Leuchten der kleinen Fee nicht unähnlich...

      „Schluss jetzt mit dem Theater”, rief Paul noch einmal, als könne er so die unerwünschten Gedanken verscheuchen. „Ich habe einfach zu viele Geschichten gelesen!”

      Da er der einzige Fahrgast war und der Motor des kleinen Bootes kräftig röhrte, bemerkte niemand sein Selbstgespräch.

      Aber trotz der Absicht, das Ganze einfach zu vergessen, nahm er sich gleich erstmal vor, sich mit entsprechender Lektüre über Atlantis einzudecken.

      Rein interesse halber selbstverständlich.

      Ein wenig zögernd betrat Paul kurz darauf das Ferienappartement. Er stellte sich mit trotziger Miene vor den Garderobenspiegel, als wolle er klarstellen, dass er das sehen möchte, was er morgens noch gesehen hatte: einen mittelgroßen, sportlichen Zwölfjährigen mit sehr langen, blonden Haaren, die ihm nicht erst heute Spott und Hohn eingebracht hatten. Aber daran war er gewöhnt. Er trug die Haare so seit seinem fünften Lebensjahr und sie gehörten einfach zu ihm, wie seine braunen Augen und die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen.

      Freundlicherweise zeigte ihm der Spiegel auch all dies. Er war weder um Jahre gealtert, noch rollten seine Augen wie im Wahn umher, wie er insgeheim befürchtet hatte. Nein, er war immer noch er, ganz so, wie er sein sollte, nur ein wenig blass um die Nase vielleicht, was ihm jedoch in Anbetracht der Umstände auch vollkommen gerechtfertigt erschien.

      Er atmete noch einmal tief durch, dann betrat er die angrenzende Wohnküche,